AUGUST BURNS RED, ERRA, CURRENTS - Frankfurt/Main
14.12.2019 | 15:0106.12.2019, Batschkapp
"10 Years of Constellations" - das Ende einer Ära? Ein (Er)Lebensbericht.
"You've reached the summit, now transcend the skies."
Für jeden Musikfan gibt es Alben, die prägender und überragender sind als alle anderen, außerirdisch gut, konkurrenzlos bis in alle Ewigkeit. Zu dieser "10+"-Kategorie zählt für mich das 2009 veröffentlichte "Constellations" von AUGUST BURNS RED. Zwölf Songs, die jeglichen Vergleichen mit anderen Metalcore-Veröffentlichungen spotten; kompositorische Genialität, musikalische Virtuosität – Matt Greiners phänomenal kreatives Schlagzeugspiel, JB Brubakers lässiges Genie an seiner giftgrünen Ibanez -, inhaltliche Tiefgründigkeit. Genredefinierend, Grenzen sprengend, den musikalischen Himmel auf die Erde bringend. Nachdenklich, hochemotional, mitreißend, packend, maximal aggressiv bei maximal möglicher Melodik. Ganz neu im kompositorischen Ansatz, fern von klassischen Songstrukturen, vertrackt, und dennoch einleuchtend, geradezu bestialisch eingängig. Im Sommer 2009 besuchten ein Freund und ich das Vainstream Rockfest in Münster, auf dem wir erstmals den Fünfer aus Lancaster, Pennsylvania, erleben durften. Nachdem Kollege Backes den damals aktuellen Langspieler der Band in seinem Review als "die Antwort auf den Metalcore-Durchschnitt" bezeichnete, wurde die CD geordert und lief bei mir seither gefühlte einhundert Millionen mal über den Laser. Nicht einfach irgendein Album, sondern mein letzter echter musikalischer Wegbegleiter über Jahre hinweg.
"Why are we lead by a mislead generation, left to drown in an ocean of apathy?"
Als die Herren vor knapp einem Jahr also eine Jubiläumstour zu ihrem Magnus Opus ankündigten, wurde für mich mit Mitte 30 ein Lebenstraum wahr. Einmal "Constellations" vollständig live hören zu dürfen, vom kompromisslos metzelnden 'Thirty And Seven‘' bis zum dramatischen Ausklang 'Crusades'. Ich konnte mein Glück kaum fassen! Gleichzeitig machte der Gedanke daran auch wehmütig: weil die Band trotz gehaltener musikalischer Klasse seither mit keinem Album mehr an "Constellations" anknüpfen konnte; auch weil diese Dekade meine jungen Berufs- und Erwachsenenjahre einrahmt und Nostalgie beim Gedanken daran, in welchen Phasen und Situationen mich diese Jahrhundertscheibe begleitete, unvermeidlich ist. Dennoch überwog selbstverständlich die schiere Freude, meinen Nummer-eins-Wegbegleiter komplett live erleben zu dürfen. Am Nikolaustag 2019 sollte es in der Batschkapp in Frankfurt am Main soweit sein.
"We have become what we have feared – being one with this world."
Wie erwartet macht der Feierabendverkehr an einem Freitagabend im Rhein-Main-Gebiet einer pünktlichen Anreise einen Strich durch die Rechnung. Die erste Vorband, CURRENTS, verpassen wir leider komplett, und auch ERRA hat gegen halb acht nur noch einige wenige Songs zu spielen. Letztere Truppe überzeugt mich allerdings deutlich mehr als vor Jahresfrist bei der AS I LAY DYING-Rückkehr: Vermutlich angeheizt von einem sehr agilen Publikum, zeigt sich die fünfköpfige Combo sehr spiel- und auskunftsfreudig, genießt die Aufmerksamkeit, über die sich auch ein Headliner zufrieden zeigen könnte, und trifft mit ihrem djentig gefärbten Sound wohl auch den Nerv der bunt gemischten Zuschauermenge. Stichwort Sound: Der könnte hier allerdings deutlich differenzierter sein – was leider auch bei AUGUST BURNS RED ein Problem sein wird. Sichtlich zufrieden räumt ERRA schließlich die Bühne und macht Platz für den Auftritt des Jahres (oder auch: Jahrzehnts).
"How many have you pushed away, and how many have you saved?"
Im Hintergrund das unverkennbare "Constellations"-Banner, in der Mitte Matt Greiners Schlagzeugburg. Nach einer überraschend kurzen Umbaupause gehen zu 'Chop Suey!' erwartungsgemäß die Lichter aus. Die Hoffnung auf das kultige 'Everybody's Free'-Intro werden nicht erfüllt, aber sei's drum: Mit 'Thirty And Seven' beginnt das Jubiläumskonzert und die Meute kennt augenblicklich kein Halten mehr. Ich bin ja jedesmal aufs Neue erstaunt, wie viele Leute die komplizierten ABR-Songs live abfeiern – besonders an diesem Abend zeigen sich die Fans von ihrer besten Seite; es wird gemosht, gesungen, geschrien und gehüpft, was das Zeug hält. Einfach wunderbar! Einzig der Sound erschwert den Konzertgenuss zunächst deutlich: Jakes Vocals bleiben hinter einer dumpfen Klangwand versteckt, die schneidenden Gitarrenläufe sind zunächst auch kaum zu erkennen. Erst beim vierten Song, der Bandhymne 'Whited Washed', scheint der passende Mix halbwegs gefunden zu sein. Vorher werden wir aber erstmals live Zeugen von 'Existence' und 'Ocean Of Apathy' – letzteres überraschte vor zehn Jahren nach üblen Genickverknotereien zu Beginn mit einem jazzig-lässigen Interlude und dem sehr straighten, zum Mitschreien einladenden Schlussteil. 'White Washed', in der Regel immer der Abschluss eines AUGUST BURNS RED-Konzertes, feuert die Halle anschließend erwartungsgemäß an wie Frischluft einen Schwelbrand.
"Old mountains crumble, stronger ones rise. This is the picture of the humble and broken"
Nachdem nun also der Sound einigermaßen stimmt, kommen wir zum emotional dichten Mittelteil des Albums. 'Marianas Trench' sorgt für gezückte Feuerzeuge und Smartphones, wobei der ruhige Beginn natürlich schnell vom einsetzenden Riffgewitter zerlegt wird. Mein Albumfavorit 'The Escape Artist' hat sich in der Vergangenheit bereits als absoluter Live-Abriss erwiesen, und der tragische Schlussteil jagt mir bis heute noch kalte Schauer den Rücken herunter. Ein Moment der Glückseligkeit – und es wird noch besser, mit dem gitarrentechnisch markanten 'Indonesia'. Ein Spätzünder war für mich 'Paradox', ein ziemlich verkopft-verschachtelter kleiner Bastard von einem Song, der sich zum Ende hin aber auflöst in einen jener positiv-ermutigenden Mitbrüll-Parts, die das Album so prägen: "Lie down your guard, and surrender!". Es ist immer wieder eine Freude, Bassist Dustin Davidson mit seinen grellen Shouts zu erleben! Als sich im Anschluss auch Jake Luhrs einen Stahlsaiter schnappt und das ruhige Quasi-Instrumental 'Meridian' erklingt, erliege ich endgültig einem Flashback und kann meine Emotionen nur noch mühevoll im Zaum halten – ich kenne kein anderes Lied, das mit derart simpler Rhythmik und Gitarrenarbeit (im scharfen Kontrast zum sonst so komplexen restlichen Album) eine so unglaublich ergreifende Atmosphäre erschafft. Die Melodien, das straighte, aber doch irgendwie leidenschaftliche Schlagzeugspiel, und am Ende auch Jakes zunächst gesprochen einsetzende Stimme, all das drückt dermaßen viel aus, dass es eigentlich nicht in Worte zu fassen ist. Am Ende weiß ich nicht ob es der Schweiß ist der mir in den Augen brennt oder Tränen der Rührung...
"I will build you up again, and you will be rebuilt."
Wir nähern uns bereits dem Ende dieses Meisterwerkes. 'Rationalist' hat mich technisch immer beeindruckt, als Song aber nicht so gepackt wie die übrigen elf Nummern – live, muss ich allerdings sagen, räumt das Teil ganz schön ab; vor allem erkennt man den Breakdown und das anschließende Gemoshe am Ende klar als stilistisches Vorbild für die Myriaden von Nachahmern. 'Meddler' dürfte nach 'Whited Washed' die zweite Hymne des Albums sein, wird mittlerweile nicht mehr jedesmal auf Tour gespielt, reißt aber noch einmal vollständig mit, lädt mit vielen prägnanten Passagen zum Mitschreien und am Ende auch zum genüsslichen Headbangen ein. Was allein in diesem Stück an Kreativität, Einfallsreichtum und zugleich Spielfreude und Aussagekraft steckt, schaffen andere Kapellen auf einem ganzen Album nicht! Zum ersten und vermutlich letzten Mal erklingt live das abschließende 'Crusades', ein nachdenkliches Stück übers Älterwerden und Sterben. Wie man solche Themen glaubhaft in einem Metalsong unterbringen kann, ohne die Tragik und Sensibilität plattzumachen oder zu verkitschen, zeigen die fünf Amis mit dieser Nummer eindrücklich: Heulen und Headbangen gleichzeitig, Schweiß und Gänsehaut auf einmal – dafür sorgt 'Crusades', und selbstverständlich auch für eine enorme Portion zusätzlicher Wehmut, schließlich soll es das mit "Constellations" nun gewesen sein. Den Schlussteil, als zunächst nur die akustische Gitarre erklingt und sich Matt Greiner im Crescendo wieder mit dem Schlagzeug in den Vordergrund arbeitet, verlangsamt die Band noch stärker als auf Platte und steigert so die Dramatik zusätzlich. Und ein letztes Mal werden wir mitgerissen und umgeworfen, schreien ein letztes Mal mit Jake:
"I'm praying for the light to just carry me away.
Say goodnight. Say goodbye. This is my time to be with my Lord..."
Glücklicherweise bleibt nicht viel Zeit für Wehmut. Auf die "Zugabe"-Rufe der Zuschauer hin erklimmt Matt Greiner wieder seine Schlagzeugburg und gibt eines seiner unwiderstehlichen Soli zum Besten. Nach einigen Minuten gesellt sich Dustin Davidson hinzu und liefert sich mit Matt an einem Mini-Set im Stehen ein kleines Duell. Die Jungs wollen ihren Nerd-Charakter auch nach über 15 Jahren Bandgeschichte einfach nicht ablegen! Irgendwie sympathisch. Als die zwei Rhythmiker fertig sind, gibt es noch einmal Gänsehautfutter: Die ersten Töne von 'Ghosts' erklingen, der Übernummer des hochgradig verspielten, gelegentlich aber auch etwas kitschigen 2015er Outputs "Found In Far Away Places". Danach folgt mit 'Invisible Enemy' noch ein eher unerwarteter Beitrag vom letzten Album, den ich bislang nicht besonders herausragend fand, live erweist sich das Stück aber als absoluter Abräumer; das Publikum setzt allein in diesem Song dreimal zu einer Wall of Death an! 'Empire' darf auch nicht fehlen, für mich verzichtbar, für einen Großteil des Publikums aber offenbar eine ebenso wichtige Bandhymne wie 'White Washed'. Glücklicherweise setzt aber 'Composure' den Schlusspunkt, diese rassige Abrissnummer vom 2007er "Messengers"-Album – ein wirklich würdiger Abschluss für ein einmaliges Konzert.
"Wave goodbye to the past – you’ve got your whole life to lead!"
War es das also? Mit AUGUST BURNS RED als persönlichem Wegbegleiter und musikalischem Wegbereiter für eine ganze Generation an modernen Metalbands? Zehn Jahre sind eine verdammt lange Zeit, und wir können dankbar sein, dass uns unsere Musik in einem solchen Lebensabschnitt mit allen Höhen und Tiefen immer wieder so motivierend, aufbauend, ermutigend und erheiternd begleitet. Danke an AUGUST BURNS RED für dieses musikalische Stück Himmel auf Erden, danke für viele unvergessliche Momente, vom Vainstream Rockfest 2009 bis zur "10 Years of Constellations"-Tour eine Dekade später! Unsere jungen Jahre mögen nicht zurückkehren, der Metal als Lebensinhalt wird aber Bestand haben. Es werden neue, interessante Bands am Horizont auftauchen - und, ein wenig hat mich dieser Konzertabend auch beruhigt: Selbst wenn es keine zweite "Constellations" geben kann – diese Jungs hier sind noch nicht am Ende!
- Redakteur:
- Timon Krause