EVERGREY, INNER VITRIOL und KLOGR - München
14.12.2024 | 13:0410.12.2024, Backstage
Kraft und Anspruch aus Schweden, besser als je zuvor - mit tatkräftiger Unterstützung aus Bella Italia!
Erneut das Backstage, war ich doch vor zwei Tagen erst hier. Der einzige Unterschied ist, dass es heute nicht regnet, der Parkplatz hat aber immer noch Schlaglöcher, in denen Kleinwagen verschwinden können, und voll mit Wasser sind sie ebenfalls noch. Egal, es ist toll, dass es diese neue Parkfläche gibt, die pauschal sechs Euro für die Nacht kostet. Beziehungsweise für faule Menschen wie mich mit der dazugehörigen App des Anbieters 6,90 Euro. Das ist dann aber auch wirklich easy und praktisch, die 90 Cent verdienen sie sich auch.
Am Eingang treffe ich bereits auf den Mann, der für die visuelle Begleitung dieses Artikels zuständig ist. Andre macht heute die Bilder, ich bin für den Text zuständig. Passt, das mache ich eh lieber. Glücklicherweise haben wir momentan genug Fotografen im süddeutschen Raum, dass ich zumeist gar nicht mehr selbst Hand anlegen muss. Was letztendlich auch für dich, Leser, gut ist, denn Andres Fotos sind so viel besser als meine.
Jetzt aber genug erzählt, rein geht es. Und drinnen schauen Andre und ich uns verwundert an. Sind das echt nur gerade 50 Nasen hier im Raum? Es ist kurz vor Beginn! Zwar kommt immer mal wieder der eine oder andere neue Gast hinzu, aber als die erste Band namens INNER VITRIOL aus Italien beginnt, ist es doch ziemlich leer. Ich bin dennoch guter Dinge, das war am Sonntag ähnlich und nachher doch voll. Die Münchner stehen wohl nicht so auf Vorbands.Aber zurück zu INNER VITRIOL. Ich kenne von der Kapelle überhaupt nichts und lasse mich überraschen. Es geht verhalten und progressiv los, leider ist der Sound nur mäßig, aber ich erkenne eine sehr vertrackte Musik mit modernen Gitarrensounds. Dazu mit Gabriele Gozzi ein hervorragender Sänger, der kräftig singen und schreien kann, aber vor allem melodisch wirklich auf der Höhe ist. Im Laufe des nur fünf Lieder umfassenden Sets, was natürlich an den ausladenden Kompositionen liegt, die schon mal ein paar Minuten dauern, darf er auch mal shouten, nimmt aber nicht allein den Fokus ein.
Gitarrist Michele Di Lauro spielt sich in dem zweiten Stück namens 'The Frozen Winds' die Flitzefinger warm und auch Bassist Francesco Lombardo zeigt seine Virtuosität auf den Saiten. Einzig Schlagwerker Michele Panepinto kann ich nur an seinen musikalischen Beiträgen beurteilen, das Drumkit ist in der Ecke versteckt, ich sehe ihn kaum. Aber sein ebenso abwechslungsreiches Schlagzeugspiel fügt der Performance einen weiteren Tupfer an Komplexität hinzu.
Heute gibt es sogar einen neuen Song, den Sänger Gabriele als die demnächst erscheinende Single ankündigt. Das ruhige Lied namens 'Butterflies' macht ordentlich etwas her, klingt dynamischer, emotionaler noch als die anderen zwei Stücke. Sogar eine Coverversion gibt es heute, aber von einer Band namens PFM, oder ausgeschrieben PREMIATA FORNERIA MARCONI, die wohl nur in Italien ein Begriff ist. Die ist dort aber wohl eine Rockgröße mit Dutzenden Alben seit 1972. So kriege ich sogar noch etwas Rocknachhilfe. Danke, INNER VITRIOL, guter Auftritt, spannende Musik, das war sehr schön.
Nach einer kurzen Umbaupause geht es mit der zweiten Vorband weiter, KLOGR aus... na? Richtig, Italien. Aber musikalisch sind wir hier ganz anders unterwegs, die progressiven Sounds sind weitgehend verbannt und die gesamte Performance ist auf vollständig auf Frontmann und Gitarristen Gabriele Rustichelli zugeschnitten. Der bärtige Schwarzmaler erobert die Herzen der Anwesenden recht schnell, einmal dadurch, dass die Musik deutlich eingängiger ist als die der vorherigen Band, zum anderen, weil sie die Bildschirme mit nutzen können, die EVERGREY installiert hat. Ein netter Zug, den KLOGR wirklich zu nutzen weiß. So gibt es zu jedem Song eine andere visuelle Installation, denn das ist es eigentlich, was Gabriele und seine Mannen hier zeigen, sehr künstlerisch und spannend. Es lenkt manchmal sogar von den Liedern ab!
Die Lieder stammen zumeist vom aktuellen Longplayer "Fractured Realities" und machen durchaus Eindruck auf mich. Zwar ist der Gesang live manchmal etwas screamy und kratzig, doch der Fronter zeigt, dass er singen kann, aber auch growlen und schreien. Ein paar Ansagen macht er ebenfalls, aber dabei erzählt er wenig Informatives, macht ein paar Witze, die wahrscheinlich auf Italienisch sinnvoller sind als auf Englisch, und berichtet, dass man vor fünf Jahren zuletzt im Backstage aufgespielt hat. Die Musik nimmt das Publikum gut mit, der Applaus ist mehr als Höflichkeit. Dann setzt die Band zum letzten Song an, 'Guinea Pigs'. Gabriele weist darauf hin, dass das, was man gleich auf den Bildschirmen zeigen wird, tagtäglich auf unserem Planeten geschehen würde und warnt vor den verstörenden Bildern. Damit hat er recht, denn über die Bildschirme flimmern Szenen vom Walfang, vom Töten von Robben, von Haien, denen die Flossen abgeschnitten werden und die anschließend verstümmelt zurückgeworfen werden in den Ozean. Gitarrist Alessandro Crivellari reckt seine Gitarre in die Höhe, die mit einem großen Sea Shepherd-Logo verziert ist, und nach 50 Minuten endet der Auftritt mit der Aufforderung "Respect our beautiful planet!".
Nun ist es aber Zeit für den Headliner EVERGREY. Was zuerst auffällt ist, dass das Drumkit von der Seite zu sehen ist. Ich war natürlich vorbereitet schließlich hat Kollege Tobias bereits davon berichtet, aber ungewohnt ist es dann doch. Andre geht schon mal steil, das heißt, er würde gerne, muss aber erstmal knipsen, während ich mir mal in Ruhe die ersten Lieder anhöre, die beide vom aktuellen Rundling stammen mit dem Titel "Theories Of Emptiness". Ich würe behaupten, viel besser kann die Band den Gig gar nicht beginnen als mit dem Hit 'Falling From The Sun'.
Apropos Hit. Das ist für mich oftmals das Problem an den EVERGREY-Alben, sie sind alle stark, aber herausragende Hits suche ich oft vergeblich. Das ist an sich nicht schlecht, nur habe ich im Vorfeld überlegt, welche Stücke ich gerne hören würde, und musste feststellen: Ich weiß es nicht. Na ja, umso besser eigentlich, da kann Tom Englund mit seiner Truppe für mich ja nichts falsch machen. Wobei natürlich das folgende 'Midwinter Calls' natürlich doch in meine Wunschliste gehört hätte. Das merke ich aber erst wieder, als es angespielt wird. Tatsächlich soll im Laufe des heutigen Abends ausnahmslos jedes Stück berechtigt seinen Weg in die Setliste gefunden haben. Dabei klingt man heute doch häufig wie Progressive AOR, was ich ausdrücklich als Lob verstanden haben möchte.
Die Band spielt tight und der Grund dafür wird klar, als Tom berichtet, dass er sich mit den Auftritten mittlerweile verzählt hat, es wären 34 oder 35 mittlerweile. Ja, so wirkt auch alles. Da der Frontmann auch noch Gitarre spielt, gibt es natürlich nicht allzu viel Bewegung auf der Bühne, auch wenn die beiden anderen Saitenartisten, Henrik Danhage und Johan Niemann, sich nach Kräften bemühen, aber sie müssen ja auch noch Begleitgesang beisteuern. Dafür gibt es die großen Bildschirme, über die zu jedem Lied an das jeweilige Album angelehnte Filmchen flimmern. Eine schöne Idee, wobei ich aber sagen möchte, dass der eher kunstvolle Ansatz von KLOGR mir sogar noch besser gefallen hat. Mit einer Ausnahme: Die erste Zugabe, 'A Touch Of Blessing', wird von einer Retrospektive in Form von alten Bandfotos begleitet, standesgemäß für das älteste Lied der heutigen Setliste.
Einen besonderen Höhepunkt hat der Auftritt heute noch. Vorne an der Bühne der Halle, die durchaus noch 50 oder 100 Besucher mehr hätte vertragen können, die EVERGREY auch einfach verdient gehabt hätte, stehen zwei Kinder, die mit ihren Eltern zum Gig gekommen sind. Ich würde schätzen, beide sind so zwischen neun und zwölf Jahren alt. Tom schafft sich zwei Fans für die Ewigkeit, als er fragt, ob sie mal auf die Bühne kommen möchten. Etwas ungläubig, aber breit grinsend wird den beiden auf die Bühne geholfen und sie dürfen sich bei 'One Heart' mitten zwischen die Musiker auf das Drumpodest setzen und mal die Menge aus der Perspektive der Musiker erleben. Die beiden sind ziemlich textsicher, werden von den Musikern beim Refrain angespornt, Keyboarder Rikard Zander und auch Schlagzeuger Simen Sandnes statten ihnen einen Besuch ab und beim Soloteil stehen beide Gitarristen neben ihnen. Das war sicher ein Erlebnis, das sie nie vergessen werden.
Mit weiteren Krachern neigt sich der Auftritt dem Ende entgegen, aber natürlich gibt es noch drei Zugaben. Das schon erwähnte 'A Touch Of Blessing', gefolgt von 'King Of Errors' und zum Abschluss 'Our Way Through Silence', das den Auftritt nicht mit einem Paukenschlag, sondern als emotionales Finish ausklingen lässt. Der Applaus zeigt zwar, dass München noch gekonnt hätte, aber der Auftritt war mit über neunzig Minuten Länge eine schöne Rundreise durch fast die ganze Diskographie, an dem es wirklich nichts auszusetzen gibt. Wenn ich meckern möchte, dann mal wieder darüber, dass es nur schwarze Tourshirts gibt. Schade.
Setliste: Falling From The Sun; Say; Midwinter Calls; Distance; Eternal Nocturnal; A Silent Arc; Call Out The Dark; One Heart; Where August Mourn; Weightless; Misfortune; Save Us; Zugaben: A Touch Of Blessing; King Of Errors; Our Way Through Silence
Fotocredit: Andre Schnittker
- Redakteur:
- Frank Jaeger