FEVER RAY und UROISH - Berlin
19.03.2024 | 12:4407.03.2024, Theater des Westens
Anregende Dekadenz im Theater des Westens.
Am Donnerstag, den 7. März 2024, ist es endlich soweit. Zwar hatte ich FEVER RAY bereits im vergangenen Jahr im E-Werk in Köln gesehen, doch der Auftritt hat mich so stark beeindruckt, dass ich froh bin, das Projekt nun noch einmal bei dem ausverkauften Zusatzkonzert in Berlin erleben zu dürfen. Hierfür nehme ich dann nach einem normalen Arbeitstag auch gern die zweieinhalbstündige Anfahrt in unsere Hauptstadt in Kauf. Ein günstiger Parkplatz nahebei zum Theater des Westens ist schnell gefunden, so dass ich schon fünf Minuten später die Stufen zum Einlass erklimmen kann. Zuvorkommend und freundlich werde ich von den Mitarbeitern des Theaters praktischerweise mit einer doppelten Portion Wein in einem Becher versorgt, denn der Abend wird sicher nicht kurz, und meines Weges zur Tingel-Tangel-Reihe gewiesen, die sich etwa mittig im Parkett befindet. Trotz Theaterbestuhlung lässt es sich eine Frau weiter vorne nicht nehmen, zum Planningtorock DJ-Set, das als Warm Up abgespielt wird, zu tanzen. Das Publikum ist derart divers, wie ich es sonst nur von Konzerten weiterer Ausnahmeerscheinungen wie DIAMANDA GALAS oder DEAD CAN DANCE kenne, denn auch dort versammelt sich alles Mögliche zwischen Hippie und High Society.
Pünktlich um 20 Uhr beginnt der Support Act UROISH, welcher mir bis dato völlig unbekannt ist, mich jedoch mit seiner Mixtur aus elektronischen und orientalischen Klängen und der gewaltigen, variabel eingesetzten Stimme der Sängerin, positiv überrascht. Nicht alle in den 30 Minuten vorgetragene Songs erreichen mich komplett, aber beispielsweise gleich das erste und auch das dritte Stück lassen aufhorchen. Eine Kurzrecherche auf dem Handy, ausgelöst durch meine erwachte Neugier, ergibt, dass es sich um ein iranisches Projekt mit der geeigneten Beschreibung "persian queer electronic pop" handelt, das an diesem Abend noch Unterstützung an den elektronischen Reglern erhält. Leider kann ich dessen Namen bei der Danksagung der Sängerin aber kaum verstehen. Das tut dem Genuss des Gehörten natürlich keinen Abbruch.
Die Setliste ist unterhaltsam und UROISH passt perfekt als Vorband zu FEVER RAY, da eine gewisse Nähe bei den elektronischen Sounds ausgemacht werden kann. Auch die eine oder andere tänzerische Einlage der Sängerin trägt dazu bei. Vor dem vierten Song kommt es zu einer längeren Ansprache, bei der die Sängerin mitteilt, es folge nun ihre Version der zur Revolution der Frauen im Iran gehörigen Hymne. Fünf Tage vor dem Konzert habe sie erfahren, dass deren Verfasser Shervin Hajipour zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weshalb sie diesem mit dem folgenden Stück Tribut zollen möchte, was ihr auch gelingt. Nach dem ernsten Unterton verkörpert das fünfte Lied dann wieder etwas angenehm kindlich Verspieltes. Unter drei "Free Palestine"-Rufen, in die ein Teil des Publikums mit einstimmt, verlässt UROISH die Bühne. Insgesamt bin ich von dem Support Act mehr angetan als von HEIMAT, der Vorband in Köln, bei der mir letztes Jahr nur die ersten beiden Songs gefielen.
Nach lediglich 15 Minuten Pause betritt ebenso pünktlich FEVER RAY die Bühne, wobei dies Stück für Stück vonstatten geht. Zum Dark-Ambient-Intro von 'What They Call Us' erscheint zuerst die Keyboarderin mit beleuchtetem, weitkrampigem Hut und fügt dem Klang sehnsüchtige Laute hinzu. Wann die mit einem stacheligen Diadem geschmückte Percussionistin auftaucht, bemerke ich aufgrund des Bühnennebels nicht einmal. Doch die stimmlich passenden Sängerinnen und zum Schluss natürlich die außergewöhnliche Karin E. Dreier, die FEVER RAY initiierte und seit ihrem Debütalbum aus 2009 bis dato die Massen in Clubs mit Songs wie dem Klassiker 'Keep The Streets Empty For Me' in Bewegung versetzt, entgehen keineswegs meiner Aufmerksamkeit. Aufgrund dessen wird ihr sicherlich auch schon beim Betreten der Bühne ausgiebig Applaus zuteil. Spätestens beim dritten Titel, 'When I Grow Up', erheben sich die ersten Gäste von ihren Plätzen und können dem Tanzdrang nicht länger widerstehen und in Kürze tanzt auch schon das gesamte Publikum zwischen den Stuhlreihen.
Danach folgt eine krasse, heavy Variante von 'Mustn't Hurry'. Begeisterungsrufe ertönen, als sich die begleitenden Sängerinnen langsam zum Intro von 'To The Moon And Back' teilweise entkleiden. Zeilen wie "your kiss is sweet and creamy", "your lips, warm and fuzzy" und "I want to ram my fingers up your pussy" mit entsprechender Handbewegung zu letzteren Worten heizen die Stimmung im Saal nur noch weiter an. So wird es im Anschluss auch Zeit für etwas Rotlicht von der Straßenlaterne, der einzigen Deko auf der Bühne, und dem aufregenden 'Shiver', bei dem die drei Sängerinnen vertraut miteinander interagieren. Die Atmosphäre im Saal ist mittlerweile derart vibrierend und alle Anwesenden so vereinnahmt, dass selbst das Percussionsolo am Ende von 'Kandy' mit Beifall und Zwischenrufen beantwortet wird.
Im Anschluss bebt bei 'Even It Out' der Boden im Parkett regelrecht mit, wobei ich unsicher bin, ob dies von der starken Performance der Künstlerinnen oder den Bewegungen des Publikums herrührt. Jedenfalls können sich Anwesende der dekadenten Party im Theater keineswegs dem ungewöhnlichen, beeindruckenden Charme der Schwedin und ihrer Mitwirkenden entziehen. Witzigerweise entblättert sich vor mir eine Frau im selben Atemzug, in dem die Frontfrau das Jackett ihres weißen Oversize-Anzuges ablegt. Bei den entblößten Spaghetti-Trägern des Gastes könnte man meinen, es sei Hochsommer, wobei sich die Temperaturen im Theatersaal allmählich annähern. 'I'm Not Done' wird in einer discotauglicheren Version als auf dem Album vorgetragen. Ich geb zu, ich mag das Original grundsätzlich mehr, doch am heutigen Abend passt diese Abwandlung hervorragend. Insgesamt bietet FEVER RAY, wie schon in Köln, hauptsächlich Tracks vom letzten Album "Radical Romantics" auf lässige und mitunter laszive Art dar, was das Publikum erneut in Gänze in ihren Bann zieht. Nach wirklich jedem einzelnen Lied wird frenetisch Applaus gespendet und dies nicht aus blindem Fanvertrauen heraus, sondern absolut und vollkommen verdient. Nicht umsonst wurden nicht nur in Berlin, sondern auch in Stockholm und Melbourne, Zusatzshows veranschlagt. Bei 'If I Had A Heart' wandelt sich dann aber gegen Ende noch kurzzeitig die Stimmung.
Bei dem Titelsong der Serie "Vikings" werden etliche Handys gezückt, obwohl durch die Scheinwerferlichter, den Nebel auf der Bühne und die frisch übergezogenen, dunklen Regencapes kaum etwas zu erkennen ist. Doch der Atmosphäre des Songs ist dies alles, abgesehen von den Handys natürlich, durchaus zuträglich. So sehr ich diesen klangbildlich düsteren Track mag, freue ich mich mit allen anderen darüber, dass FEVER RAY uns glücklicherweise mit einer Zugabe in Form von 'Coconut' beschenkt, was die Stimmung deutlich wieder aufhellt und uns nach 75 Minuten hochzufrieden in die Nacht entlässt. Sollte FEVER RAY jemals für ein Konzert nach Deutschland zurückkehren, werde ich diesem definitiv liebend gern erneut einen Besuch abstatten. Mit der innovativen Frau kann man einfach keinen Fehler begehen!
Setliste: What They Call Us; New Utensils; When I Grow Up; Mustn’t Hurry; Triangle Walks; To the Moon and Back; Shiver; Kandy; Even It Out; An Itch; I’m Not Done; Carbon Dioxide; Now’s the Only Time I Know; If I Had A Heart; Zugabe: Coconut
- Redakteur:
- Susanne Schaarschmidt