LORNA SHORE, RIVERS OF NIHIL, INGESTED und DISTANT - Hannover - München
27.11.2023 | 18:5514.11.2023, Capitol - Zenith
Eine Ode der Gewalt.
Habt ihr Lust euch mal wieder so richtig alt zu fühlen und seid wie der Verfasser dieser Zeilen Anfang 40? Dann empfehle ich euch mal den Besuch eines Deathcore-Konzertes. Nicht nur, dass man dort mit diesem Alter schon zu dem Bereich Senioren gezählt wird, es kommt noch erschwerend hinzu, wenn man sich vollkommen auf diese Art der Musik einlässt, dass man sich die folgenden Tage tatsächlich nochmal deutlich älter fühlt, als es der Blick in den Spiegel vermuten lässt. In der Tat ist Deathcore eine sehr spezielle Angelegenheit und Vieles aus diesem Genre kann ich mir nicht "schön" hören und ein Veranstaltungsbesuch in dieser Richtung war lange Zeit ein so absurdes Thema, dass ich mich damit nicht wirklich auseinandergesetzt hätte. Doch dann wurde ich mit LORNA SHORE konfrontiert. Dieser Grenzgänger aus modernem Black Metal und Deathcore ist aus jedem Blickwinkel grandios und insbesondere die Youtube-Momente von Sänger Ramos ein beeindruckendes Erlebnis. Somit war es doch alternativlos, dass ich mir diese Band einmal mit eigenen Augen in der Live-Atmosphäre zu Gemüte führen musste. Und Spoiler vorab: Das sollte jeder Fan von harter Musik zumindest einmal gesehen haben.
Ein weiter Indikator, dass diese Musik hauptsächlich für ein jugendliches Publikum entstanden ist: Der Abend im Capitol sollte bereits um 17:30 Uhr beginnen. An einem Dienstag und somit für eine Mehrzahl der Erdenbürger an einem regulären Arbeitstag doch schon arg früh. Das mag als Schüler & Student locker machbar sein, als Arbeitnehmer, der sogar noch über eine Stunde Fahrzeit einplanen muss, nicht umsetzbar. Da auch noch zeitgleich die Agritechnica in Hannover die Verkehrswege verstopft und das Capitol sowieso eine grenzwertige Sache für Menschen ist, die mit dem Auto anreisen (#Parkplätze), betrete ich mit meinem Kumpel Norman erst gegen 19:30 den Club und muss zum Bedauern feststellen, dass INGESTED gerade den letzten Song anstimmt. Der Sound ist fett und das ausverkaufte Capitol auch jetzt schon so proppenvoll, so dass mir viele ausgepowerte und nassgeschwitzte Teens entgegenströmen, die direkt mal eine Pause an der frischen Lust brauchen. Somit scheinen die Anwesenden bisher durchaus Spaß gehabt zu haben. Während ich mich noch etwas darüber ärgere neben INGESTED auch noch DISTANT verpasst zu haben, wird mir bewusst, dass mein Kollege Timo Reiser die "Pain Remains"-Tour auch noch besuchen will und hoffe, dass er dann früher vor Ort ist um wenigstens ein paar Worte zu dem Support zu verlieren. Und Timo? Hat es geklappt?
[Stefan Rosenthal]
Hallo Stefan. Ja, deine Hoffnung wurde erfüllt. Nach dem sehr erfreulichen Parkvorgang um kurz nach 18:00 Uhr am 23.11.23 im nahegelegenen Parkhaus (Nur 7€ für den Abend in München? Da ist ja schon das Parken alleine ein Schnäppchen!) trotte ich inmitten des buntgemischten Publikums bei gefühlt arktischen Temperaturen vor das Zenith, wo sich bereits kunterbunte Horden gemächlich in der enormen Einlassschlange gegenseitig stoisch voranschieben. Die "Kulturhalle Zenith" wird heute Abend nahezu ausverkauft sein, dabei handelt es sich dann um fast 6000 Besucher! Unglaublich, wenn man bedenkt was für akustisches Grenzgängertum zwischen Musik und sortiertem Lärm den überwiegend jüngeren Liebhaberinnen und Liebhabern der ganz schroffen Klänge von der Bühne aus entgegendonnern wird. Dabei werden wir alle, wie nahezu jeder der Frontmänner inklusive Will Ramos während seines jeweiligen Gigs enthusiastisch verkündet, das größte Konzert der Europatour und gleichzeitig die größte Headliner-Show von LORNA SHORE überhaupt bisher erleben.
Nach Betreten der ehemaligen Industriehalle flaniere ich sogleich rechter Hand am Merchandise der vier Bands des heutigen Abends vorbei und brauche nur den Kopf nach links zu drehen, als die holländischen und slowakischen Downtempo-Death Coreler (!!! Was es alles gibt! Da frage ich mich doch glatt, ob diese Stilrichtung schon auf dem Powermetal.de Shirt mit einer ellenlangen Liste ebensolcher Begriffe dabei ist?) von DISTANT mit 'The Eternal Lament' in ihr Set einsteigen. Industrial-mäßig stampfend mit, wie im Zenith üblich, leicht dumpf-halligem Sound, kapert die Band die Bühne. Nach einem kurzen, verständlichen Verwunderungsmoment, bei einem der Stilrichtung nicht gänzlich zugewandten Konzert-Zaungast, ob der aufgrund des monströsen Growlens oberflächlichen Ähnlichkeit zu LORNA SHORE, erlebe ich sogleich, was "Downtempo" bedeutet: Ab und an wird in den Liedern jegliches Tempo bis zur Zeitlupengeschwindigkeit heruntergefahren und die Musiker wippen dabei mit dem ganzen Körper vor und zurück. Der Sänger schafft es bei diesem "Ganzkörper-Banging" gefühlt sowohl Ferse wie auch die Zehen seiner Füße mit den Haaren zu berühren, ganz ohne umzukippen. Respekt. Live nehme ich die synthetischen Keyboard- und Synthesizer-Klänge, welche auf den Studioversionen die Musik von DISTANT opulent ausschmücken und prägen, beim ersten Hören leider kaum wahr. Schade, denn Industrial-Ambient-Sounds finde ich nach wie vor klanglich frisch und aufregend. Nichtsdestotrotz fühle ich mich eine halbe Stunde lang gut unterhalten, während ich Saitenwürstchen und zum Nachtisch Schokoriegel in mich hineinmümmle.
Setliste DISTANT: The Eternal Lament; Oedipism; Born Of Blood; Heritage; Heirs of Torment; Exofilth; Hellmouth
In der sich flott füllenden Halle umherschlendernd, wundere und freue ich mich während der etwa viertelstündigen Umbaupause über den enorm hohen Frauenanteil, der aus allen Altersklassen hart und heftig rockender Weiblichkeit zusammengesetzt ist. Dabei befindet sich die Mehrheit ganz klar im Alter zwischen 14 und 25 Jahren. Tja, der Youtube-affine Will Ramos ist halt schon ein Netter und Hübscher… Bei der männlichen Belegschaft in München staffelt sich das ähnlich, jedoch sind die 30+ Jahrgänge bei den Herren deutlich stärker vertreten, das wird ja schon durch die Anwesenheit meiner einer deutlich: Ich zähle mich selbst zur Kategorie "angegrautes Hartmusik-Trüffelschwein, das mal wieder über seinen Teller-, bzw. Napfrand blickt". Ehrlicherweise bin ich eigentlich ausschließlich wegen LORNA SHORE hier.
INGESTED aus Manchester rumpeln unter sofortiger Beachtung des Publikums interessanterweise mit einem, laut Internet, seither unveröffentlichten unbekannten Stück los. Der Sänger hat vom ersten Ton an Chemie mit dem Pit, als er sich breitbeinig wie ein übergroßer Glenn Danzig in der Mitte der Bühne positioniert und growlend seine stimmlichen Muskeln spielen lässt. Die Briten zocken straighter deathmetallisch und mit flotten Breakdown-Parts, was der im Internet verbreiteten Stilbeschreibung Death Metal/Grindcore grundsätzlich entspricht. Trotz der auch hier vorkommenden langsam-wuchtigen Parts, empfinde ich ebenso das Auftreten der Band deutlich rock'n'rolliger, als noch bei den Holländern und Slowaken. Die Lightshow präsentiert, wie bereits bei DISTANT, flackernd durchwechselnde, sattfarbene Lichtkegel, die recht bunt irgendwie nicht so richtig zum harschen Death Metal passen möchten. Spätestens beim dritten Song 'Invidious' zeigt INGESTED, wie rhythmisch variabel und brutal durchschlagend ihr Sound ein Konzert in Fahrt bringen kann. Da ist ganz schön "Dampf im Kessel" vor der Bühne! Ein herrlicher Grindcore Songtitel folgt mit 'Skinned And Fucked', der den gesamten vorderen Bereich im Publikum nähmaschinenmäßig durchtackert. 'Echoes Of Hate' beendet dann nach ungefähr 30 Minuten, überaus variantenreich mit allerlei Parts gleich einer Zusammenfassung des bisherigen musikalischen Abends, den Gig der Jungs aus Manchester, die den einschlägigen Genre-Liebhabern im Publikum sicherlich in guter Erinnerung bleiben werden. Die Band dürfte einige neue Fans dazugewonnen haben. Damit zurück nach Hannover zu dir, lieber Stefan!
Setliste INGESTED: (unbekannt, unveröffentlicht); Shadows In Time; Invidious; Skinned And Fucked; Echoes Of Hate
[Timo Reiser]
Die folgende Umbauphase nutze ich, um eine vernünftige Position für die folgenden beiden Auftritte zu ergattern. Da mir dieses im Erdgeschoss kaum gelingen mag, ist der nächste Anlaufpunkt der Balkon, welcher aber auch schon aus allen Nähten platzt. Zu spät zu einer Veranstaltung im Capitol zu kommen ist echt eine ätzende Angelegenheit. Schlussendlich finde ich dann doch eine kleine Lücke, um wenigstens das Treiben auf der Bühne zu betrachten – darf mich aber für die folgenden 45 Minuten nicht mehr bewegen. Geht aber auch eh nicht da ich innerhalb kürzester Zeit von Personen in durchgeschwitzten Klamotten eingestretcht werde. Klingt gar nicht sexy? Ist es auch nicht. Somit erfordert es doch schon ein gehöriges Maß an Konzentration, um RIVERS OF NIHIL folgen zu können. Die hätte es bei diesem Technical Death Metal eh gebraucht, aber die Rahmenbedingungen machen das schon noch etwas ambitionierter. Egal, denn der Sound, der mir von den US-Amerikanern entgegenschwappt, ist schon eine kleine Überraschung. Mir war die Sonderstellung im Billing schon bewusst gewesen, aber dass es jetzt so proggy werden würde, hätte ich nicht gedacht. Neben Polyrhythmik in Dauerbeschallung gibt es extrem viele ruhige, fast tranceartige Elemente in dieser Musik, welche sicherlich dafür sorgen, dass das Publikum auch endlich mal durchatmen kann. Da die Band auch mehrere Gesangsstimmen kombiniert und auch vor dem Einsatz eines Saxofons (wenn auch als Backing Track) nicht zurückschreckt, bin ich zumindest beim Erstkontakt sehr angetan. Das höre ich mir definitiv mal auf Platte an. Überraschenderweise kommt dieser stilistische Break auch bei den Zuschauern überwiegend positiv an. Die Teenie-Version von Keith Flint (PRODIGY) neben mir spricht lauthals von schöner Musik zum Chillen. Das würde ich spontan unterschreiben.
Setliste: The Silent Life; Hellbirds; Focus; Sand Baptism; Death Is Real; Soil & Seed; The Sub-Orbital Blues; Where Owls Know My Name
Doch kommen wir endlich zum Mainact des Abends: LORNA SHORE. Direkt mit dem Einstieg des "Pain Remains"-Openers 'Welcome Back, O' Sleeping Dreamer' ist die Stimmung auf 100%. Wie zu erwarten, kommen die symphonischen Elemente im Laufe des Abends vom Band, werden aber nicht so vordergründig platziert, wie dieses auf Platte noch der Fall ist. Trotzdem ein sehr epischer Beginn. Sobald aber die Instrumente einsetzen und Will Ramos direkt mal zeigt, was seine Stimme auch live zu erreichen vermag, drehen an allen Ecken und Enden des Clubs die Leute komplett durch. Nachdem dann auch die typischen Deathcore-Elemente aufkreuzen, gibt es für viele kein Halten mehr. Ob nun ekstatisch mitgegrunzt wird und man in Gesichter blickt, für die jeder Horrorregisseur Geld hinlegen würde, oder ob die erste Reihe eine Art Tanz aufführt, der aus weiterer Perspektive wie ein defekter Fleischwolf aussieht - der nackte Wahnsinn erhält Einzug in Hannover und wir sind mittendrin. Da die ganze Szenerie auch noch stimmungsvoll mit Pyros gefüttert wird, kann es gerne so weitergehen. Welcome To Hell - aber volles Programm.
Auch das folgende 'Of The Abyss' von der kleinen Göttergaben-EP "...And I Return To Nothingness" gönnt dem Publikum keine Pause und rückt nun die großartige Growl-Stimme von Will Ramos in den Vordergrund. Erstmals habe ich aber trotzdem die Möglichkeit, auch mal die beiden Gitarristen zu bewundern, die es schaffen diese Ode der Gewalt melodisch zusammenzuhalten. Ganz großes Kino, welches insbesondere für mich beim folgenden Titeltrack der EP seinen Höhepunkt erreicht. "Bursting into flames..." – ja es geht schon wieder los. Im Anschluss legt die Band wieder den Fokus auf die aktuelle Veröffentlichung und steigt mit 'Sun//Eater' sofort mit einem Single-Kracher in den potentiellen Hit-Reigen ein. Ähnlich wie auf dem Album sind diese symphonischen Elemente so clever platziert, dass sie der tobenden Meute genau dann Luft zu atmen geben, wenn sie danach dürstet. Das hat schon Ähnlichkeiten wie mit einem perfekt ausbalancierten Folterinstrument. Kurze Momente des Durchatmens kündigen nur von der Erwartung, sofort wieder durchgeschüttelt zu werden. Auch 'Cursed To Die' (der Songtitel ist gefühlt spürbar) hält das Niveau spielend. Das folgende 'Immortal' ist dann eine Besonderheit, da es der einzige Song ist, welcher nicht von den letzten zwei Veröffentlichungen stammt. Fans der Frühphase (insbesondere "Flesh Coffin" und "Psalms") gehen somit komplett leer aus. Irgendwie schade, aber zur ganzen Wahrheit gehört auch, dass sich die Band seitdem nochmal deutlich weiterentwickelt hat, wichtige Bandpositionen ausgetauscht wurden und der Erfolg nun mal auf den letzten Langdrehern basiert.
Also kurzer Exkurs beendet und zurück im Hier und Jetzt mit 'Into The Earth'. Die wahnsinnige Hektik der Nummer wird fantastisch umgesetzt und die Laut- & Leise-Spielereien, insbesondere beim Gesang, sorgen für stehende Ovationen innerhalb des laufenden Liedes. Das hat man nun wahrhaftig nicht oft. Der Schock folgt aber auf dem Fuße, als Stimmwunder Ramos den letzten Song des Abend ankündigt. Nach kaum 45 Minuten. Ich kann nachvollziehen, dass ein Deathcore-Konzert schon eher einem High-Interval-Training ähnelt und insbesondere der Schlagzeuger Austin Archey einfach auch mal nach Hause will, aber das ist arg zu kurz. Nun gut – Kräfte nochmal sammeln, zu 'To The Hellfire' eskalieren und auf eine Zugabe hoffen. Um ehrlich zu sein, habe ich auch das ganze Konzert auf diesen Song gewartet, da die letzte Minute des Höllenfeuers den Sänger nochmal bis auf das Äußerste fordert und auch dem letzten im Capitol klar werden sollte, welches Ausnahmetalent hinter dem Mikro steckt. Der Junge kann das alles live, ohne Gefahr zu laufen, dass er aufgrund Überlastung umkippt oder wichtige Adern im Kopf platzen. Andere Sänger, egal aus welchen Genres, platzieren die schwereren Nummern meistens am Anfang der Performance, aber nicht erst auf den letzten Metern. Ich bin mal wieder schwer beeindruckt.
Ende gut – alles gut? Ja, in der Tat, da es nicht nur die obligatorische Zugabe gibt, sondern sich LORNA SHORE dramaturgisch für diese frühe Beendigung des Sets entschieden hat, um im Zugabenblock dann den kompletten "Pain Remains-Zyklus" zu performen- Also gibt es nochmal knapp 20 Minuten als Kirsche auf die Torte. Und bevor ich in Superlativen absaufe, nur die kurze Anmerkung, dass auch diese drei Songs absolut großartig umgesetzt werden und es nicht wenige Zuschauer gibt, die mit diesen Versionen sogar noch mehr Spaß haben, als auf Platte. Durch den Faktor der etwas zurückgenommenen Symphonik-Elemente und dem roheren Sound, dürften auch Freunde des old-school Geballers überzeugt werden, welche bislang aufgrund des glatten und zu modernen Klanges, einen Bogen um die Amerikaner gemacht haben. Ich bin jedenfalls platt und fühle mich körperlich ausgemergelt, werde trotzdem diese Band bei einem das folgende Festivals, wenn sie sich auf dem Billing befinden, sicherlich besuchen. Es war einfach zu stark. Ob ich allerdings nochmal zu einer so intensiven Clubshow fahre, weiß ich nicht, aber vielleicht geht es mir wie mit meinen Marathonläufen. Direkt im Anschluss ist man glücklich, die nächsten Tage verflucht man die Teilnahme und kaum wird der nächste Event veröffentlich ist man wieder angemeldet. We will see...
Setliste: Welcome Back; O' Sleeping Dreamer; Of The Abyss; ... And I Return To Nothingness; Sun//Eater; Cursed To Die; Immortal; Into The Earth; To The Hellfire; Zugaben: Pain Remains I: Dancing Like Flames; Pain Remains II: After All I've Done, I'll Disappear; Pain Remains III: In A Sea Of Fire
Photo Credits: Norman Wernicke
- Redakteur:
- Stefan Rosenthal