MAYFAIR, B.S.T., BLEEDING - Hamburg

13.10.2014 | 18:12

11.10.2014, The Rock Cafe

Birthday Bash mit BLEEDING, BST und MAYFAIR!

Es gibt sie also noch: Die tollen, kleinen Konzerte, die quasi wie ein Familientreffen ablaufen. Konzerte, aus denen man hinaus schwebt, den Kopf voller magischer Notenfolgen, den Bauch voller Glücksgefühle und die Sonne aus dem Popo scheinend.

Eben solch ein Konzert findet am 11.10.2014 im Rock Cafe zu Hamburg statt. Der Anlass: Eine nachträgliche Geburtstagsfeier einer Musikverliebten, die es sich in den Kopf gesetzt hat, sich selbst und allen anderen ebenso verrückten Musikliebhabern aus Nah und Fern ein Geschenk zu machen. Zu diesem Zweck lädt sie drei favorisierte Bands zu einer livehaftigen Tanzveranstaltung ein und mobilisiert alle verfügbaren physischen und psychischen Kräfte, um eben diese Veranstaltung in die Realität umsetzen zu können. Als wäre dies alles nicht schon spektakulär genug, wird die Angelegenheit an sich noch durch die Auswahl der Musikanten gekürt. Aber Schritt für Schritt.

Eingeläutet wird der Abend von der aus Stade stammenden Band BLEEDING, die zur Zeit an den Aufnahmen ihres ersten Longplayer arbeitet. Die Band, die uns vor knapp zwei Jahren mit ihrer wundervollen Demo-EP so viel Freude bescheren konnte, spielt hier heute ihren dritten Gig. Dafür geht aber bereits beim eröffnenden 'Fading World' mächtig die Post ab. Vor und auf der Bühne. Trotz einiger technischer Probleme, die den beteiligten Musikern aber lediglich ein verblüfftes "Nanü?"-Grinsen entlocken können, kommt das Quintett schnell in Fahrt. Spätestens beim bereits bekannten 'Voices',ist das eh schon sehr dünne Eis geschmolzen, und das Publikum geht ebenso steil wie die Akteure. Gitarrist Marc Nickel singt beim Spielen die ganze Zeit breit grinsend mit und der hauptamtliche Frontmann Haye Graf, der sich seine Sporen damals (damals!) bei ADRIAN verdient hat, agiert mit einer theatralischen Mimik, die jeden Song optimal unterstreicht.

Nach der Bandhymne 'Bleeding' gibt es dann mit 'Madness' einen weiteren Song des demnächst über Pure Prog Records erscheinenden Erstlings. Der Name der Nummer ist in diesem Fall Programm: Völlig abgefahren und gleichzeitig mitreißend ist diese vertonte Emotionsgranate ein gierig machender Appetizer auf das Album. Die offenbar fast nur aus Fans der Truppe bestehende Feiermeute vor der Bühne sieht dies wohl ähnlich und dreht ebenfalls komplett am Rad. Progressive Musik kann also auch ansteckend sein. Weiter im Text geht es mit 'Symbol Of The Sun' und 'Behind Transparent Walls'. Obwohl kaum einer der Anwesenden diese hektischen Nummern bereits kennen kann, werden diese abgefeiert wie alte Klassiker. Offensichtlich kann die Band gar nicht so richtig glauben, wie sehr ihre Musik dem Publikum gefällt, denn das Grinsen auf den Gesichtern wird immer breiter und man spielt sich in einen wahren Rausch. 'Humanoluminiscence' tritt demnach noch einmal richtig Popo, bevor man mit 'Souldancer' den progressivsten Tanzflächenfeger der letzten Jahre aus dem Köcher zieht. Der Club bebt ein bisschen und am Schluss sind sich alle einig: Das war ganz großes Kino!

Setlist: Fading World, Voices, Bleeding, Madness, Symbol Of The sun, Behind Transparent Walls, Humanoluminiscence, Souldancer

Nach dem kraftzehrenden Gig der progressiven BLEEDING ist erstmal Frischluft und Flüssigkeitsaufnahme angesagt. Im entspannten Plausch kommt auch hier aus allen Munden die einheitliche Meinung, man habe soeben einen fantastischen Auftritt erlebt. Diese Meinung hört man übrigens auch aus den Reihen der Doom-Fanbase, die wohl in erster Linie aufgrund der nächsten Band angereist ist.

Als B.S.T. – Blut, Schweiß, Tränen –, die Band, die Doom mit deutschen Texten salonfähig machen wird, danach mit 'Die Moral' in ihren Set einsteigt, ist das Rock Cafe auch wieder pickepacke voll. Sofort fällt der warme, erdige Klampfensound auf, der es dem Zuschauer beinahe unmöglich macht, nicht mitgerissen zu werden. Die sympathische Truppe um Sänger/Gitarrist Heiko Wenck setzt ihren Set mit zwei weiteren Nummern ihres Longplayers "Die Illusion" fort. Um mich herum sehe ich eine pulsierende Menschenmenge, die sich vom Groove des großartigen Titelsongs in Trance versetzen lässt. Wobei "in Trance" wohl ein komplett falscher Terminus ist für das, was sich hier abspielt: Eksase passt wohl eher, wenn ich in die völlig euphorischen Gesichter im Publikum schaue. Es ist aber einfach auch eine Wonne, sich von dieser Musik packen zu lassen. Da wird man gerne mal in "Die Nacht" entführt. Basser Lutz schüttelt sich die graue Matte von der Rübe, während sich Leadgitarrist Jan Rudßuck nicht aus der Ruhe bringen lässt. Völlig entspannt entlockt er seinem Gefährt die herrlichsten Soundcollagen und sorgt damit für erstaunte Blicke und Szenenapplaus. Nach 'Die Stimmen' folgt der emotionsmäßige Höhepunkt der doomigen Angelegenheit. Wie es sich für eine deutschsprachige Band gehört, gibt es nun eine englischsprachige Coverversion. Und zwar eine, die für Ganzkörper-Entenpelle sorgt: Wenn Heiko die ersten Takte von 'Ride On' - eine Nummer des irischen Folksängers Christie Moore – anstimmt, ist es um mich geschehen. Das geht ganz tief unter die Haut und lässt alle Haare in Hab-Acht-Stellung verharren. Ich glaube, ich gehe nicht zu weit, wenn ich schreibe, dass man während der ersten Minute dieser Nummer eine Stecknadel fallen gehört hätte, so gebannt haben alle den Tönen gelauscht.

Das daran anschließende 'Die Hoffnung' passt dann thematisch wie die berühmte Faust aufs Auge. Mit dem recht krachigen 'Der Leuchtturm' wird dann noch einmal tief in der Mottenkiste gewühlt, was die alteingesessenen Doomlunatics natürlich mit schwingenden Fäusten und geschüttelten Mähnen quittieren. Dann ist eigentlich Schluss, aber das Quartett setzt noch einen oben drauf: 'Dying Inside', im Original von ST. VITUS, wird gezockt. Das muss man auch nicht extra ansagen, denn das kennen ja (fast) alle. Ich muss allerdings auch kurz im hintersten Winkel meines Gedächtnisses herumkramen, bis der Groschen fällt. Bin aber auch nie der VITUS-Jünger gewesen. Unabhängig davon geben hier noch einmal alle Alles und so ist man auch nach diesem Auftritt wieder voller Sonnenschein.

Setlist: Die Moral, Die Illusion, Die Nacht, Die Stimmen, Ride On, Die Hoffnung, Der Leuchtturm, Dying Inside

Erneut gibt es verbalen Austausch bei Kaltgetränken an der sehr notwendigen Frischluft. Erneut sind sich alle einig, dass die eben gesehene Band fantastisch war. Ein Umstand, der erfreut aufhorchen lässt, bedenkt man, wie viele Freunde von progressiver Metalmusik anwesend sind. Von Schubladendenken spüre ich hier auf jeden Fall nichts. Herrlich. Natürlich sind auch alle sehr gespannt, wie gut denn nun der MAYFAIR-Auftritt werden wird. Bis auf wenige Auserkorene hat die Band aus Österreich ja noch keiner live erleben können. Die Spannung steigt.

Als plötzlich von drinnen die ersten Klänge von 'Behind...' erklingen, sieht man, wie die letzten Labertaschen im Eiltempo in den Club huschen, um nur keine Sekunde dieses Gigs zu verpassen. Schon von der ersten Minute an ist klar, dass hier ein ganz besonderer Auftritt stattfinden wird, denn bereits bei der ersten Nummer, die schon über zwei Dekaden Garzeit auf dem Buckel hat, ist die Atmosphäre im Rock Cafe außergewöhnlich. Der Sound ist ganz ausgezeichnet. Ein Umstand, der nach den technischen Problemen im Vorfeld nicht so ganz sicher gestellt war. Der Club wird von der einzigartigen Klangwelt der vier MAYFAIRs eingelullt und die zumeist unbarmherzige Rhythmik ihrer Songs geht sofort in die Glieder. Wer beim Attribut "unbarmherzig" an brachiale Heavy-Metal-Kanonaden denkt, ist aber auf einem komplett falschen Paddelboot. Die Musik von MAYFAIR ist feingliedrig, schräg, immer ein bisschen anders, als man denkt und daher in tiefster Seele herzlich und progressiv. Genau diese tiefen Gefühle verstärken sich bei einem Konzert der Band ganz offensichtlich, wie die ersten Minuten bereits verdeutlichen. Bin ich zuerst beim Anblick des geschminkten Sängers Mario Prünster etwas irritiert, merke ich schnell, dass dieses leicht unnahbare Image ganz hervorragend zur visuellen Umsetzung der Texte passt. Da ist immer auch ein Quäntchen Gothic mit drin und ELEMENT Of CRIME höre ich bei den deutschsprachigen Nummern auch immer ein bisschen raus. Da ich diese Truppe für das Nonplusultra in Sachen deutscher Musik halte, darf man diesen Vergleich bitte ausschließlich als Kompliment betrachten.

Die Band verweilt mit 'Advanced In Years' noch einen Moment beim Debütalbum, um dann mit dem extrem feurigen 'Firestorm' im Hier und Jetzt zu landen. Die markante Gestik von Mario ist dabei ebenso fesselnd wie das treibende Spiel von Bassist Johannes Leierer. Der Titelsong des aktuellen Albums 'Schlage, Mein Herz, Schlage' entpuppt sich dann zum fäustereckenden Metal-Epos und sorgt zum ersten Mal für komplettes Ausrasten der Fans. Die Band scheint etwas verblüfft zu sein und ist sichtlich ergriffen. Nach ein paar sehr warmen Worten von Mario geht es weiter mit 'wwwrong" und meinem heimlichen Hit 'Madame Pest'. Es wird getanzt, gekopfschüttelt und Luftgitarre gespielt. Rene versinkt völlig in seinem Saitenspiel, welches den Raum quasi komplett mit Musik ausfüllt. Da ist nicht ein Millimeter frei von wunderbaren Noten. Es ist viel zu heiß in dem Raum, aber das spielt überhaupt keine Rolle, denn 'Tric Trac' stachelt die Menge erneut an. Schwitzt die Wand? Man hat den Eindruck.

Nun folgt eine Nummer des zweiten Albums "Die Flucht", welches stilistisch – ich schrieb es eingangs – anders ausgerichtet ist. Aber anders als was? Anders als MAYFAIR? Nö, das geht gar nicht, wie man hier deutlich hören kann. Spätestens, wenn das Zusammenspiel von Rene und Mario erklingt, ist es immer typisch. 'Last Spring' klingt auch in dieser leicht veränderten Version ganz wunderbar,was an den hypnotische Beats von Jolly liegt. Dieser wirkt hinter seinem Schlagzeug beinahe entspannt, während er zwirbelige Rhythmen aus den Fellen zaubert. Als Mario 'Waterproof' ankündigt, weiß ich, dass in der ersten Reihe gleich ein sehr guter Freund komplett ausflippen wird. Was dann aber geschieht, ist in Wort und Bildern nicht zu schildern: Die ersten Reihen drehen allesamt komplett am Rad, liegen sich in den Armen und tanzen teils mit erhobenen Armen kleine Regentänze. Das Ergebnis: Es tropft von meiner Stirn. Beängstigend. Oder einfach schweißtreibend. 'Wonderbras Driver' und das daran anschließende 'Der Abschied' lassen durchatmen. Trotzdem steht das Emotionsbarometer auf Hochspannung, denn selbst in diesen ruhigen Momenten knistert die Luft. Ist es die bange Angst, dass der Titel programmatisch zu verstehen ist? Soll das Konzert schon zu Ende sein?

Nein, absolut nicht, denn 'Die Flucht' wird gespielt. Zappelige Rhythmen für zappelige Leute. Ob hier jemand Philipp heißt? Das unerwartet harte 'Bitter Or Sweet' versohlt uns hiernach mit der metallischen Knute den Popo. Völlig egal, es wird gefeiert, was das Zeug hält. Was nun folgt, könnten die schönsten Konzertminuten des Jahres sein: Zuerst spielt die Band eine ganz zauberhafte Version vom zauberhaften 'Island', welches aus gefühlten 1000 Kehlen mit gesungen wird. Das ist groß, riesengroß. Aber, weil es gerade so schön stimmungsvoll ist, stellt Mario die bange Frage, ob man es wagen soll, die Ballade 'One Night And A Dream' vor so einer Metalbande zu spielen. In Athen soll dieser Song von den ganzen truen Kuttenträgern mit gezückten Feuerzeugen abgefeiert worden sein. Offenbar hat der gute Mario nicht mit der Euphorie nordischen Tiefkühlmusikfreunde gerechnet, denn hier bildet sich eine Arm-In-Arm feiernde, lauthals mitsingende Masse, die sich gar nicht mehr einzukriegen scheint. Der Trancezustand ist längst erreicht. Band und Publikum sind zu einer Einheit verschmolzen und so ist man erst einmal erschreckt, als es heißt, dies sei der letzte Song gewesen. Dass dies natürlich ein (schlechter) Scherz ist, scheint beinahe allen klar zu sein, denn die Band lässt sich nicht lange bitten und steigt mit 'The 90's' in den finalen Zugabenblock ein. Nun wird allen klar, dass dieses Konzert sich langsam seinem Ende nähert und umso euphorischer wird noch einmal abgefeiert. 'Abendp_rno' mobilisiert mit seiner treibenden Rhythmik die letzten Kräfte und lässt den Club erneut zum Tollhaus werden. Es kommt, was kommen muss: 'Drei Jahre Zurück', der gar nicht so heimliche Hit auf dem letzten Album, beschließt ein musikalisches Feuerwerk, wie ich es lange nicht mehr erlebt habe.

Setlist: Behind, Advanced In Years, Firestorm, Schlage Mein Herz, Schlage..., wwwrong, Madame Pest, Tric Trac, Last Spring, Waterproof, Wonderbras Driver, Der Abschied, Die Flucht, Bitter Or Sweet, Island, One Night And A Dream, The 90´s, Abendp_rno, Drei Jahre Zurück

So viel zur musikalischen Darbietung an sich. Jetzt muss ich aber noch mal ein paar übergreifende Worte los werden: Dieser Abend hat gezeigt, dass man sehr wohl wundervolle Konzerte mit kleinen Bands veranstalten kann. Dabei scheint es sogar völlig egal zu sein, ob diese Bands auf den ersten Blick und das zweite Ohr musikalisch zusammenzupassen scheinen. Hier haben wir eine progressive (Thrash-)Metalband, eine deutschsprachige Band, die klassischen Doom spielt, und eine Band, die zwischen allen Stühlen sitzt. Das Ergebnis: Fast allen Beteiligten hat das komplette Paket gefallen. Einige habe neue Bands für sich entdeckt. Die Stimmung war zu jeder Sekunde bombastisch. Man mag jetzt die Frage stellen, ob so viele Leute gekommen wären ohne feierlichen Hintergrund und ohne eine Band wie MAYFAIR, die man so selten sehen kann. Ich denke, man kann beide Fragen mit "Ja" beantworten, denn für dieses Event wurde kaum richtig Werbung gemacht, da es eben eine öffentliche Geburtstagsfeier war. Vielleicht setzt dieses Konzert ein kleines, aber sehr helles Zeichen für andere Musikliebhaber, sich auch einfach mal an so etwas heranzutrauen. Ausreichend tolle Bands gibt es auf jeden Fall. Mich würde das sehr freuen.

Redakteur:
Holger Andrae
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