Psychotic Waltz, Bleeding - Berlin

16.07.2017 | 21:07

21.06.2017, Musik & Frieden

Konzert der progressiven Psychos

Ich muss nicht erwähnen, wie sehr ich auch dieses Ereignis gewartet habe?! Der San-Diego-Fünfer ist meine Lieblings-Live-Band und die unzähligen Konzerte in den 90ern zählen allesamt zu meine Top-Events der Dekade. Als die Band vor einigen Jahren in Originalbesetzung als Headliner auf dem Keep-It-True-Festival zum Tanz aufspielte, war es für mich wie damals. Aber ein Festivalauftritt ist immer etwas anders als so ein Clubgig. Von daher bin ich heute doch etwas nervös, ob die Band in der Lage sein wird, die alte Magie neu zu entfachen. Bevor es aber dazu kommt, dürfen die Kollegen von BLEEDING ihren Traum leben, mit ihren großen Vorbildern (hint: der Bandname!) gemeinsam auftreten zu können. Das Quintett aus Stade bietet dabei einen fröhlichen Querschnitt aus bekannten Songs und einigen Nummern des bald erscheinenden Zweitwerkes. Wie wir es von den sympathischen Jungs gewohnt sind, wird von der ersten Sekunde an Vollgas gegeben. Das heißt in diesem speziellen Fall natürlich nicht, dass man gleich mit dem durchgedrückten Gaspedal durch die Ohrmuscheln der zu Beginn noch recht wenigen Zuschauer rattert, sondern dass man ohne Umschweife mit vertrackter Rhythmik und ebenso vertrackter Gestik über die Gäste herfällt. Easy listening geht anders, aber das will hier heute Abend auch niemand. Während Frontmann Haye Graf in seiner unnachahmlichen Art die schrägen Texte in Szene mimt, gniedeln sich die Herren Nickel (im passenden DEPRESSIVE AGE-Look!) und von der Fecht in einen Trancezustand.  Dazu frickelt sich die neue Rhythmustruppe Spaarmann/Tegeler die Finger blutig. Das Tolle daran: Die Darbietung dieser nicht schnell zugänglichen Musik wird mit einer dermaßen hohen Spielfreude dargeboten, dass man schon eine Bleiinfusion intus haben muss, um beim Zuschauen nicht irgendwie in Wallung zu geraten. Da passt ein programmatischer Titel wie 'Madness' wie die Faust aufs berühmte Auge. Als die Herrschaften dann ihren lokalen Smash-Hit 'Souldancer' aus dem Köcher ziehen, steppt in Berlin eine Reihe nordischer Tanzbären im Galopp vor der Bühne. Sensationeller Auftritt.


Nach einer erstaunlich kurzen Umbaupause betreten dann die Herrschaften von PSYCHOTIC WALTZ die Bühne und steigen überraschend mit 'Dancing In The Ashes' in ihren Set ein. Zwar ist der Sound nicht optimal – der Gesang ist zu leise – und auch die Songauswahl erstaunlich, aber die Magie wird sofort spürbar. Das sehen auch die Menschen um mich herum so, denn anders kann ich mir die sogleich aufkommende Euphorie nicht erklären. Ohne Umschweife geht es weiter mit der Hit-Single des letzten Albums 'Faded' und dem Titelsong des dritten Albums "Mosquito". Alles kurze, eher flotte Nummern, die dem Publikum ordentlich einheizen. So langsam wird der Sound auch besser und man erkennt die Stimmqualitäten von Buddy … äh …. Devon Graves. Es folgen 'Northern Lights' und das verstrahlte 'Haze One'.  Als die Band nun zum Eröffnungssong der wohl besten Scheibe aller Zeiten ansetzt, hakt mein Verstand komplett aus und ich entschwebe mal eben für ein paar Minuten. 'Ashes' ist auch 21 Jahre nach seinem Erscheinen nichts anderes als eine musikalische Wundertüte. Weiter im Takt geht es mit dem groovenden 'Locust'. Ist bis hierher die Stimmung schon sensationell, soll es von nun an erst richtig abgehen.

Psychotic Waltz

Als Devon 'Another Prophet Song' ankündigt  platzt mal eben mein Trommelfell, da sich meine Nachbarn allesamt in einen Kreischrausch schreien. Man habe Nachsicht mit einem Nordlicht, so etwas erschreckt mich. Wie schon vorher scheint das komplette Publikum textfest zu sein, denn ich höre Buddys verzerrtes Echo aus allen Richtungen. Quadrophonie mal ganz anders. Es ist der pure Wahnsinn! Nun macht Mister Graves eine coole Ansage, in der er darum bittet nur bei diesem Song nichts mitzuschneiden, da er möchte, dass keine neuen Songs vor dem Album in minderer Qualität im Netz stehen. Was bei anderen Künstlern wahrscheinlich eher belächelt werden würde, wird hier beklatscht und auch ernst genommen.  Die neue Nummer 'While The Spiders Spin' ist nicht im Netz aufgetaucht, was von hohem Respekt der Fans vor ihren Helden zeugt. Super.  Im Taumel der Gefühle kann ich den Song rückblickend nur schwer in Worte kleiden. Ich habe ihn als sehr gelungene Mischung aus frühen Waltzern und modernen, teils recht harten Passagen abgespeichert. Mehr will und kann ich dazu noch nicht schreiben. Es bleibt spannend. Da die Stimmung nun eh etwas ruhiger geworden ist, greift Devon zur Flöte und alle wissen, was nun folgen wird: 'I Remember' in einer sagenhaften Version, die belegt, dass er auch stimmlich noch immer überzeugen kann. Da wir nun schon einmal in schwelgerischer Laune unterwegs sind legt die Band mit 'A Psychotic Waltz' und 'Only In A Dream' gleich zwei weitere Songs vom Debütalbum nach.

Psychotic WaltzSagte ich schon, dass es total toll war? Nein? Gut, denn es wird noch toller: Es folgt der Titelsong des oben erwähnten besten Albums in der Geschichte der waltzigen Stromgitarren: 'Into The Everflow'. Hier klinken sich wieder alle komplett aus und es scheint als würden Band und Publikum zu einer Einheit verschmelzen. Vergesst den Konjunktiv. Devon schlängelt sich gewohnt mystisch gestikulierend durch die Melodien seiner beiden Gitarristen, während Ward stoisch grinsend mit einer Hanfpflanze im Bart zu Kuscheln scheint. Ein Bild für die Götter! Danach gibt es mit 'Morbid' und '…And The Devil Cried' den finalen Nackenschlag. Fast, denn es kommt, wie es kommen muss. Wie schon in den 90ern sagt Devon etwas zu der Unsitte von Bands geplante Songs als Zugaben zu verkaufen und kündigt an, dass sie noch drei weitere Nummern im Gepäck hätten. Da es sich dabei ausschließlich um Songs der göttlichen "A Social Grace" handelt, steht einer weiteren Viertelstunde gepflegter Ekstase nichts im Wege. Die Mutter aller Halbballaden – 'Halo Of Thorns' – eröffnet den Reigen und Dan Rocks' völlig begeistertes Grinsen zeigt, wie sehr auch die Band diese Auftritte genießt. 'I Of The Storm' dürfte dann für meine Nackenschmerzen am nächsten Morgen verantwortlich sein, denn der hackende Rhythmus dieser Nummer treibt ich komplett in den Wahnsinn. Dass nach dem zerstörerischen 'Nothing' dann Schluss sein soll, will keiner so recht glauben, aber die Band spielt keine Spielchen. 18 Songs lang hat die Band bewiesen, dass sie noch immer zu den magischen Momenten fähig ist und die Spannung auf ein neues Album ist erneut gesteigert worden. Müsste ich etwas an diesem Konzert bemängeln, wäre es das Fehlen meines Lieblingssongs 'Butterfly' und die für diese Band relativ kurze Spielzeit. Aber man kann nicht immer 150 Minuten und mehr spielen. Davon abgesehen ist dieses Konzert ein absolutes Jahreshighlight und ein grandioser Appetizer für weitere Aktivitäten der Band. Everything is nothing.

Archivbilder

Redakteur:
Holger Andrae

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