STEVEN WILSON - Essen

06.04.2013 | 18:16

22.03.2012, Colosseum Theater

Faszination pur.

STEVEN WILSON hat das Kunststück vollbracht und ein Werk geschaffen, das in so ziemlich allen Szenemedien, seien es nun Rock-, Prog-, Metal- oder gar Mainstream-Magazine, abräumen konnte. "The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)", das mittlerweile dritte Soloalbum des Mannes, dessen Kreativität unerschöpflich scheint, sorgt dafür, dass Wilson gefragter denn je ist. Die fantastischen Konzerte zur letzten Platte im Hinterkopf machen wir uns in das Essener Colosseum Theater auf, um uns erneut auf die Reise zu begeben.

Wilson ist nämlich ein Geschichtenerzähler. Diesen Titel würden viele Musiker gerne für sich in Anspruch nehmen, aber selbst jene, die ebenfalls verträumte Musik machen, werden nach einem Konzert STEVEN WILSONs vermutlich sehr kleinlaut. Bereits das Warten im Konzertsaal ist etwas besonderes. Eine große Videoprojektion lässt Artwork der aktuellen Platte erscheinen, Wolken daran vorbeiziehen und mit der Zeit immer wieder kleine Details ändern. Unterlegt wird dies von Ambient-Flächen und mystischen Samples, so dass die Stimmung bereits vor Beginn irgendwie knistert.

Man begibt sich in seinen Sessel und wartet gespannt auf das, was da nun in den nächsten Stunden passieren wird. Ja, richtig gelesen: Sessel. Auch wenn diese Location auf der Tour eher die Ausnahme darstellt, so passt der Theatersaal mit seinen breiten und gemütlichen Sitzen absolut zu diesem Konzert. Manch einer hätte wohl lieber gestanden, wirklich beschweren wird sich über die Gegebenheiten allerdings niemand.

Wie bereits auf der Eintrittskarte deutlich gemacht wurde, startet das Konzert um Punkt 20 Uhr. Und es dauert wohl bei allen Anwesenden nur wenige Momente, bis sie völlig weggetreten sind. Denn so toll alle sechs Tracks von "The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)" auf Platte auch sind: Live ist das (wie so oft) dann doch noch einmal eine ganz andere Hausnummer. Drei an der Zahl gibt es davon zu Beginn, die summiert eine halbe Stunde Spielzeit einnehmen, welche jedoch wie im Flug vergeht. Der Sound ist von der ersten Sekunden an wunderbar klar, laut und wuchtig, wodurch jede einzelne dargebotene Note ihren Raum erhält. Super.

Nach und nach gibt es dann Songs aller drei Alben im Wechsel (wobei das neue komplett gespielt wird), und obwohl diese jeweils eine eigene Stimmung haben, wirkt das Konzert wie aus einem Guss. Man verliert sich in den ruhigen, schönen Lieder ('Drive Home', 'Postcard') genau so wie in den eher rockigen ('The Holy Drinker', 'Harmony Korine') sowie ausufernden ('Luminol', 'Raider II'). Heute passt schlichtweg alles. Jede Nummer ist ein kleines Abenteuer für sich und bringt einen weit, weit weg. Die Geschichten, die hier erzählt werden, schürfen tief und lassen einen nicht los, selbst wenn man sie nicht hundertprozentig versteht. Die Magie ist jederzeit nah und doch nicht greifbar.

Die Licht- und Videoshow tut ihr Übriges, um das audiovisuelle Erlebnis perfekt zu machen. Und hier offenbart sich eine Art Luxusproblem: Wo schaut man zuerst und wo zuletzt hin? Guckt man sich die Videos auf der Leinwand an, schaut man dem Meister auf die Finger oder einem der grandiosen Musiker um ihn herum? Oder schließt man gar die Augen, um das Hörerlebnis umso intensiver werden zu lassen? Allein um dieses Dilemma zu umgehen, müsste man mehrere Shows besuchen. Das würde sich in so vielerlei Hinsicht lohnen.

Dann könnte man sich nämlich in aller Ruhe jedem der sechs Charaktere auf der Bühne zuwenden. Es ist nämlich spannend zu beobachten, wie unterschiedlich diese sind und wie perfekt sie dennoch zusammenpassen. Ich möchte hier fast sagen: Wie sie zusammengehören. Man hat das Gefühl, es hier nicht mit einer Band, sondern mit einem kleinem Orchester zu tun haben. Denn das Instrumentarium, was die Herren Wilson, Minnemann, Travis, Beggs, Govan und Holzman an Tasten- und Blasinstrumenten, Schlagzeug und Percussion, E- und Bass-Gitarren sowie Gesängen auffahren (und unter Garantie habe ich nun noch nicht alles aufgeführt), ist schlichtweg beeindruckend. Für mich ragt dabei vor allem das Querflötenspiel von Theo Travis heraus. Diese Klangfarbe ist in Wilsons Rock-Prog-Kontext unwiderstehlich und einfach wunderschön. Ich bin mir aber sicher, dass jeder hier seinen Favoriten finden wird, ohne einen anderen herabsetzen zu wollen.

Wilson selbst ist heute noch mehr als die letzten Male Dirigent und nimmt sich selbst zurück. Er wirbelt (selbstredend barfuß) über die Bühne, schlägt mit seinen oberen Extremitäten recht willkürlich um sich und wirkt dabei wie ein verrückter Professor. Können seine fünf Mitmusiker wirklich etwas mit diesen Bewegungen anfangen? Ich wage es zu bezweifeln, aber so lange das Ergebnis derart stimmig ist, will ich da auch gar nicht weiter bohren. Bei den Ansagen hält er sich im Vergleich zu seinen letzten beiden Deutschlandbesuchen zurück – von zwei, drei obligatorischen Witzen mal abgesehen. Er scheint zu wissen, dass er nichts außer seiner Musik braucht, um Leute glücklich zu machen. Diese bewegen sich im Laufe des Abends immer öfter von ihren Sitzen, um dem zu huldigen, was sie hier gerade miterleben dürfen.

Als die sechs Herren nach zwei Stunden das erste Mal die Bühne verlassen, reiben sich die meisten verwundert die Augen, schauen auf die Uhr und können kaum glauben, dass das nun bereits 120 Minuten waren: "Der hat doch gerade erst angefangen!" Zum Glück gibt es immerhin noch eine Zugabe, die aus einem Medley der drei Songs 'Remainder The Black Dog' (erste Hälfte), 'No Twilight Within The Courts Of The Sun' (zweite Hälfte)' und 'Ljudet Innan' (STORM-CORROSION-Song) besteht. Ungewöhnlich, jedoch sehr stark.

Und so endet nach über zwei Stunden ein kleines Märchen und großartiges Epos zugleich. Es war ein einziger Strom, in welchem die Zeit wie von Zauberhand verflogen zu sein scheint.
Was STEVEN WILSON live mit seiner Mannschaft abzieht, ist phänomenal und sucht seinesgleichen. Hört und seht es euch an. Erlebt es selbst. Ihr werdet es nicht bereuen.

Setlist: Luminol, Drive Home, The Pin Drop, Postcard, The Holy Drinker, Deform To Form A Star, The Watchmaker, Index, Insurgentes, Harmony Korine, No Part Of Me, Raider II, The Raven That Refused To Sing. Zugabe: Medley (Remainder The Black Dog, No Twilight Within The Courts Of The Sun, Ljudet Innan [STORM CORROSION])

 

Redakteur:
Oliver Paßgang

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