Sylvan/Blind Ego - Hamburg

21.05.2007 | 21:52

06.05.2007, LOGO

Konzerttourismus bietet immer eine nette Abwechslung vom Alltagstrott - und da die Hamburger Prog-Formation SYLVAN seit Jahren einen großen Bogen um meine Wahl-Heimat Berlin macht, nutze ich den Auftakt zur "Presets"-Tour gerne für einen Wochenend-Ausflug in die Hansemetropole. Nach zwei wunderbar sonnigen Tagen rund um den Hamburger Hafen finde ich mich gut gelaunt am Sonntag Abend im LOGO ein, einem wirklich gemütlichen Club, in dem zahlreiche Sitz- oder einfach nur Bierabstellmöglichkeiten eher zum gediegenen Abhängen als zum kollektiven Ausrasten einladen. Zumal das Paket SYLVAN/BLIND EGO, welches das ganze als Double-Headliner-Tour mit nahezu identischen Spielzeiten fährt und je nach regionalem Vorteil die Schlussposition tauscht, sowieso eher Musik für Genießer als für Headbanger kredenzt. Erschwerend kommt allerdings hinzu, dass das letzte Heimspiel der heutigen Lokal-Matadore SYLVAN gerade einmal fünf Monate zurückliegt und das nächste - die "Posthumous Silence"-Show, die für eine DVD mitgeschnitten werden soll - bereits für den 1. September terminiert ist. Das ist offenbar selbst für den größten Fan zu viel, weshalb sich auch nur geschätzte fünfzig zahlende Gäste über den Raum verteilen. Von einer guten Stimmung zu sprechen wäre daher - leider - reichlich übertrieben.
[Elke Huber]

"Kalle" Wallner, Gitarrist und Mitbegründer der süddeutschen Progband RPWL, ist aktuell mit einem neuen Projekt am Start. Dieses hört auf den Namen BLIND EGO, und neben Wallner und seinem alten RPWL-Kollegen Yogi Lang (keys) sind mit Paul Wrightson (voc., ex-ARENA), John Jowitt (b., IQ, FROST*) und am Schlagzeug Tommy Eberhardt prominente Namen vertreten, so dass man durchaus von einem Prog-Allstar-Projekt sprechen kann. Eberhardt wird auf Tour zwar von Erwin Rieder ersetzt, aber dennoch scheint BLIND EGO mehr Bandcharakter zu haben als dies bei vielen vergleichbaren Projekten der Fall ist. "Ich hatte einfach einige Stücke auf Lager, die nicht wirklich zu RPWL passten, und wollte immer schon mal eine Art Solo-Platte machen", erklärt Wallner im Gespräch vor dem Auftritt. Dementsprechend groß ist die Spannung vor dem ersten Gig der Tour und dem - von einem einmaligen Release-Gig Anfang des Jahres abgesehen - ersten richtigen Konzert von BLIND EGO. Auch wenn anfangs die Nervosität und die verständliche Anspannung leicht anzumerken sind, steigern Wallner und seine Mitmusiker sich regelrecht in einen Rausch, was u. a. bemerkenswert ist, weil zum einem der Zuschauerzuspruch sich bei diesem Doppel-Gig und Tourauftakt mit SYLVAN leider im überschaubarem Rahmen bewegt und zum anderen Bassist John Jowitt erst wenige Stunden vor dem Auftritt per Flugzeug in Hamburg eingetroffen ist.

Einen besseren Einstieg als auf CD ('Obsession') gibt es live auch nicht und der überraschend harte, vergleichsweise laute, aber immer different klingende Sound setzt dann auch die folgenden knapp achtzig Minuten perfekt in Szene. Die familiäre Atmosphäre, die beinahe jedes Konzert im LOGO auszeichnet, tut auch an diesem Abend ihr übriges und ein Gänsehaut-Moment jagt den anderen. Die Setlist des Gigs umfasst natürlich das gesamte Debüt "Mirror", wobei besonders der Longtrack 'Don't Ask Me Why', den der Bandkopf als beinahe poppig bezeichnet und der trotz seiner Länge vergleichsweise schnell geschrieben war, besonders heraussticht. Das episch anmutende 'Forbidden To Remain' und das treibende 'Break You' können ebenfalls beeindrucken. Zusätzlich und gleichermaßen überraschend und überaus gelungen gibt es noch mit 'Breaking The Silence' (QUEENSRYCHE) und 'Perfect Strangers' (DEEP PURPLE) zwei grandiose Cover-Versionen zu hören. Besonders bei Ersterer kann Sänger Paul Wrightson, dessen Teilnahme an der Tour Wallner besonders stolz macht, hoch punkten, denn seine Stimme passt hier wie die berühmte Faust aufs Auge. Gänsehaut ist dann bei der ruhigen Nummer 'Black Despair' garantiert, bei der Wrightson ebenfalls zu gefallen weiß und diese Nummer dann auch als sein Lieblingsstück von "Mirror" bezeichnet. Auch die glasklaren, gefühlvollen Gitarrensounds Kalle Wallners, die jeden Song in ein passendes Gewand kleiden, sollen nicht unerwähnt bleiben. "Mit RPWL haben wir uns ja über die Jahre eine treue Anhängerschaft und einen gewissen Status erspielt, doch mit BLIND EGO ist alles neu und wir stehen ganz am Anfang, was die Sache natürlich auch spannend macht", so Wallner im Gespräch unmittelbar vor dem Auftakt der Tour.

BLIND EGO haben mit diesem Gig und natürlich ihrer superben Veröffentlichung "Mirror" eine deutliche Duftmarke gesetzt, der hoffentlich noch viele weitere folgen werden. Ich bin mir sicher, dass mit der Zeit auch die versammelte Prog-Gemeinde – und nicht nur die – erkennt, was für ein absolutes Juwel hier am Start ist. Nicht nur das Gespräch mit Kalle Wallner sondern auch und vor allem der folgende Gig in Hamburg machen deutlich, dass es sich bei BLIND EGO und "Mirror" um ein sehr intensives und persönliches Projekt bzw. Album handelt, an dem außergewöhnliche Musiker beteiligt sind.
[Martin Stark]

Ein gängiges Klischee im Prog-Genre ist, dass die Mucker bierernst kuckend wie angewachsen auf der Bühne stehen und das Wort "Posing" noch nicht mal buchstabieren können. Natürlich könnte man argumentieren "besser schlecht gepost als schlecht gespielt", und musikalisch gibt es in den folgenden knapp neunzig Minuten auch wirklich nichts zu meckern. Aber zu Beginn kommen SYLVAN etwas arg hüftsteif rüber, lediglich Aushilfs-Gitarrist Guido Bungenstock, der den verhinderten Kay Söhl würdig vertritt, lässt so etwas wie Spielfreude erkennen. Möglicherweise haben die anfänglichen kleinen technischen Problemchen die Hanseaten ein wenig ausgebremst. Denn nach dem effektvollen Konzert-Einstieg mit 'When The Leaves Fall Down', bei dem Marco zunächst solo zu den elektronischen Keyboard-Samples singt und seine Mitstreiter sich erst zur zweiten Hälfte dazugesellen, sowie dem mitreißenden 'One Step Beyond' (was für ein Hammer-Refrain!) pendelt sich die tückische Technik schließlich ein, und zumindest die vordere Reihe - neben Guido und Marco also auch Bassist Sebastian Harnack - bewegt sich wenigstens ab und an mal von der Stelle. Da dies heute mein erstes SYLVAN-Konzert ist, fehlt mir allerdings der Vergleich. Doch auch in Sachen Lichtshow, die auf einer kleinen Bühne zwar naturgemäß nicht überragend, aber mit ein bisschen gutem Willen durchaus stimmungsfördernd einzusetzen ist, wäre mehr drin gewesen.

Abgesehen davon glänzt der Fünfer durch eine bestechend originalgetreue Umsetzung seiner traumhaften Musik, wobei vor allem Guido durch kleinere Improvisationen zu überzeugen vermag. Auch Marco greift bei ungefähr jedem zweiten Stück zur Klampfe und behauptet sich als Rhythmus-Gitarrist. Vor allem aber hat der Junge Gold in der Kehle, rockt beispielsweise zu 'The Last Embrace' genauso treffsicher wie er zu 'Former Life' ganz sanfte Töne anschlägt. Der Sound ist gut, und die Setlist liegt schwerpunktmäßig auf den letzten beiden Alben mit jeweils einem Abstecher in Richtung "Artificial Paradise" und "X-Rayed". Dass dadurch viele tolle Songs auf der Strecke bleiben, ist klar, darunter auch die geplante Zugabe 'This World Is Not For Me' vom "X-Rayed"-Album, denn Punkt Mitternacht ist Schicht im Schacht. Doch auch in der von mir als viel zu kurz empfundenen restlichen Spielzeit gibt es noch etliche Höhepunkte zu bestaunen. 'That's Why It Hurts' ist immer noch großartig, das balladeske 'The Colours Change' zum Niederknien emotional, und natürlich darf auch die Frickel-Orgie 'Presets' nicht fehlen. Im Grunde präsentieren uns SYLVAN heute keinen schlechten Song (haben sie überhaupt einen?), auch wenn ich persönlich z. B. das Duo 'A Kind Of Eden'/'Posthumous Silence' gerne gegen 'Questions'/'Answers To Life' eingetauscht hätte - obwohl ich dann vermutlich umgekippt wäre vor Glückseligkeit.

Wer das (und vieles mehr) hören möchte, sollte sich unbedingt am ersten September zur "Posthumous Silence"-Show auf dem Hamburger Theatergelände Kampnagel einfinden, die Großes verspricht. Denn für mich sind SYLVAN eine der am meisten unterschätzten deutschen Prog-Bands - fehlendes Posing hin oder her.
[Elke Huber]

Setlist:
When The Leaves Fall Down
One Step Beyond
That's Why It Hurts
Former Life
Forgotten Virtue
The Colours Changed
The Last Embrace
A Kind Of Eden
Posthumous Silence
Lost
Signed Away
Presets

Redakteur:
Elke Huber

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