THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA - Köln

03.12.2022 | 21:58

15.11.2022, Essigfabrik

Auftritte fürs Herz

Ich heiße zwar nicht Jenke, habe dennoch ein kleines Experiment vor: Eine – wie ich finde fantastische – Band, zwei Abende, zwei komplett verschiedene Kulturen. Nun, ganz so drastisch sind die Unterschiede zwischen dem Rheinland und dem Ruhrgebiet zwar nicht, aber dennoch nutze ich die aktuelle THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA "Death To False AOR"-Tour, um die beiden Welten, die nur einige Kilometer trennen, einmal miteinander zu vergleichen. Wir schreiben also den 15. und 16. November und befinden uns in der Essigfabrik in Köln sowie im Bochumer Rockpalast.

Da sich erwartungsgemäß die Setlisten nicht sonderlich voneinander unterscheiden und die Fluggesellschaft um Björn Strid sich an beiden Abenden von ihrer spielfreudigen Schokoladenseite zeigt, fasse ich den bloßen Auftritt der AOR-Helden zusammen, um anschließend separat auf die Unterschiede der beiden Gigs einzugehen und möchte mich am Ende noch einem sehr emotionalen Thema widmen.

Sowohl im Pott als auch in Kölle wird der THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA-Gig von S.O.R.M., einem Dreigestirn im Heavy-Rock-Bereich, eröffnet. Das Trio aus Schweden hat ordentlich Feuer unterm Pony und ob der dezenten Parallelen zu BLACK LABEL SOCIETY, HELLYEAH oder ADRENALINE MOB die Zuschauer auf seiner Seite. Bei erst zwei Singles und einer EP auf der Habenseite ist noch nicht allzu viel von den Herren zu hören, trotzdem geben sie Vollgas und können ob ihres unbekümmerten Rocks einige Fans dazugewinnen. Vor allem den Tribut an David Andersson rechne ich S.O.R.M. hoch an, die nach einleitenden Worten ruhige Klänge anstimmen, nur um den knapp halbstündigen Gig wieder etwas lautstärker abzuschließen. Das kann sich sehen und hören lassen.

Nach angenehm kurzen Umbaupausen beginnt die geflügelte, nächtliche Reise und als die bezaubernden Stewardessen nach SHEILA & B. DEVOTIONs 'Spacer' in gefühlter Endlosschleife die Bühne betreten, ist ihr Charisma bis weit hinter die Eingangstüren noch zu spüren. Endlich geht es mit THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA los und mit 'How Long' beginnt der Abend furios. Speeds Sacko glänzt passend in voller Pracht, der Sound ist druckvoll und der Klatschmarathon kann beginnen. Mit Pontus Egberg (WOLF, KING DIAMOND) hat die schwedische AOR-Hit-Maschine auch einen kongenialen Ersatz für D'Angelo gefunden, der derzeit mit ARCH ENEMY Europa unsicher macht. Doch auch der für Andersson eingesprungene Rasmus Ehrnborn (SOILWORK) macht stilecht in schwarz und mit Sonnenbrille eine gute Figur.

Und allerspätestens nach dem folgenden 'Sometimes The World Ain't Enough' liegt Magie in der Luft. Asa Lundman und Anna Brygard, die die Massen mit ihrer Performance zum Grinsen bringen, kommen selbst aus dem Strahlen kaum heraus und der Band als Ganzes tut es sichtlich gut, wieder auf der Bühne zu stehen und dem falschen AOR den Kampf anzusagen. Dabei hätten die Setlisten kaum besser gewählt werden können, schleichen sich nach neueren "Aeromantics"-Kostproben wie 'Divinyls', 'Burn For Me', 'If Tonight Is Our Only Chance' und dem mir vor Hingabe Tränen in die Augen treibenden 'This Boy's Last Summer' auch Ohrwürmer älteren Datums zwischen die Hit-Giganten: 'Josephine' hallt es durch die beiden Hallen, 'Paralyzed' sorgt ob des sonnigen Gemüts erneut für eine meterdicke Gänsehaut, 'Stiletto' bringt Schwung in die Bude und dass 'White Jeans' ein Live-Garant vor dem Herrn ist und auch an diesen Abenden die Party zum Kochen bringen, ist so sicher wie das Amen in der Kirche sowie das Klatschen, Feiern und Tanzen beim THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA-Gig.

Mit 'Something Mysterious' zollt Björn seinem langjährigen Freund und Weggefährten David Tribut und erneut meldet sich der Kloß im Hals. In Gänze ist die Band, als wolle sie "sweet doctor" mit dieser Tour die letzte Ehre erweisen, in sehr hingebungsvoller, ausgelassener und die Musik und den Menschen David Andersson feiernden Verfassung – ich bin gerührt und erleichtert, dass auf Bitten Davids die Band ihre Reise fortsetzt.

Nachdem allerdings auch den weißen Hosen entsprechend Aufmerksamkeit geschenkt wurde, sorgen Speed und Co. mit dem epischen "Sometimes The World Ain't Enough"-Rausschmeißer 'The Last Of The Independent Romantics' noch für ein absolutes Aha-Erlebnis, bei dem sich die Mannschaft erneut in einen Rausch spielt. Und nach einer kurzen Verschnaufpause gibt uns 'Gemini' und die inklusive Polonaise zelebrierte Abschlussnummer 'West Ruth Ave' den Rest. Unter lautem Applaus streichen die Musiker nach der mehr als anderthalbstündigen Feiereskalation schließlich die Segel und werden vom Publikum warmherzig in den Feierabend entlassen.

Ich gebe zu, ich habe mir im Vorfeld die Unterschiede zwischen dem Ruhrgebiets- und Rheinlandspublikum drastischer vorgestellt, denn letztendlich waren beide Städte zum Feiern bei THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA. Beide Gigs hatten jedoch – und das unterscheidet sie von früheren Auftritten – eine gewisse Intimität und Gemütlichkeit, ein familiäreres Feeling als ich es von der Band gewohnt bin. Es waren Gigs fürs Herz, denn obwohl ich es schade fand, dass die Essigfabrik eher spärlich besucht wurde, konnten sich Björn und Co. gefühlt jedem einzelnen Gast und jedem einzelnen Herzen widmen. Dass die Kölner die Polonaise schon viel früher angestimmt haben und sich einen Hauch ausgelassener zeigten, war letztendlich dann doch ein kleiner, aber feiner Unterschied. Denn sowohl in der Essigfabrik als auch im Rockpalast, der dem intimen Kneipengig noch näher kam, waren alle Zuschauer dort, um mit wahrem AOR, einer emotional aufgeladenen und ausgelassenen Band, bollwerkgroßen Hits für die Ewigkeit und dem besonderen Fünkchen und jeder Menge Glitzer das Leben und die Liebe (zur Musik) zu feiern.

Setliste: How Long; Sometimes The World Ain’t Enough; Divinyls; If Tonight Is Our Only Chance; Burn For Me; This Boy’s Last Summer; Black Stars And Diamonds; Satellite; Something Mysterious; Stiletto; Paralyzed; Josephine; White Jeans; The Last Of The Independent Romantics; Gemini; West Ruth Ave

Noch ein abschließendes Wort: Als am 14. September die Meldung einging, dass SOILWORK- und THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA-Musiker David Andersson für immer die Augen schloss, war ich wie auch ihr erschüttert und traurig. Ich kannte ihn nur von der Bühne, doch mochte ich ihn als Musiker sehr. Und egoistischerweise hatte ich auch ob der Fortsetzung SOILWORKs und THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRAs Angst, hätte ob der Bedeutung Anderssons auch u.a. Björns Entschluss, eine etwaige Pause einzulegen, sehr gut verstanden. Doch sahen die Musiker keine bessere Möglichkeit, um Davids Leben und seine Musik zu feiern, als zu dieser Europatour aufzubrechen, die schon eine Weile geplant war. Laut Band habe er es geliebt, auf der Bühne zu stehen und – im Falle vom nächtlichen AOR-Flug – dem falschen AOR den Kampf anzusagen. David war in jeder einzelnen Sekunde sowohl in Köln als auch in Bochum präsent und hielt seine schützende Hand über den wahren AOR seiner einstigen Mitmusiker, Wegbegleiter und Freunde. Ich bin glücklich, beide Gigs in dieser Intimität und mit jener Ausgelassenheit erlebt zu haben und sage an dieser Stelle: Danke!

Redakteur:
Marcel Rapp

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