The Cult, Lili Refrain - Stuttgart-Wangen
01.07.2023 | 00:2315.06.2023, LKA Longhorn
Einer der seltenen Abende mit den britischen Melodic-Rockern: das einzige Deutschlandkonzert 2023!
"Du Ratte!" Der ca. Mitte 50-Jährige trägt zwei Biere an mir vorbei und grinst mich schelmisch an. Nach meiner Beteuerung, nichts dafür zu können, wiederholt der Bayer seine Liebkosung für mich und zieht schmunzelnd weiter.
Dieser Szene am späten Nachmittag des 17. Juni 23 vor dem Königsplatz in München war etwa 20 Minuten früher eine kleine Plauderei zwischen mir und dem durchaus netten Herrn vorausgegangen. Da ich ein neues THE CULT-Shirt trug, in der Tat um mit Fans der Band und vor allem solchen, die zwei Tage vorher beim einzigen Deutschlandkonzert im Stuttgarter Longhorn gewesen waren, ins Gespräch zu kommen, freute ich mich zunächst, als ich angesprochen wurde. Leider hatte der, genau wie ich, regelmäßige Konzertgänger nichts Erfreuliches zu berichten. Er war an jenem Donnerstagabend des 15. Juni, also zwei Tage vorher, ein Opfer der zahlreichen Staus und Verkehrsstörungen geworden: Von hinter Augsburg kommend, brach er im Stau stehend zähneknirschend seine Reise ab, als im Longhorn mutmaßlich THE CULT bereits auf der Bühne standen. Daher hatte er nach einigen kurzen lobenden Worten meinerseits über den tollen Gig der britischen Melodic Rocker eine gute Viertelstunde später immerhin noch einen liebevoll-zynischen Spitznamen für mich übrig.
Das Rad der Zeit auf Donnerstag den 15.06.23 um etwa kurz vor 19:00 Uhr zurückgedreht, ihr stellt euch dazu bitte Micky Maus-Quietschen und hektische Zeitrafferbewegungen des Schreiberlings eures Vertrauens vor, befinde ich mich nach einem Cheeseburger-Sparmenü vor dem Mc Donalds in der Stuttgart-Wangener Straße Heiligenwiesen, also ungefähr 400m vor dem Longhorn, wo ab 20:00 Uhr das THE CULT-Konzert stattfindet. Ich schlürfe einigermaßen pappsatt noch den Rest eines Erdbeermilkshakes, als einer von Powermetal.de’s Neuzugängen, André Schnittker, um die Ecke der Filiale des "amerikanischen Restaurants" linst, mir schelmisch ins Gesicht guckt, und fragt, ob er hier den Timo mit THUNDER-Shirt und Erdbeershake findet. Wir hatten in den letzten Wochen per Whattsapp schon bemerkt, dass wir miteinander gut können, stehen uns aber erst jetzt das erste Mal persönlich gegenüber. Da ich mit meinen Fotos in der Vergangenheit nicht immer zufrieden war, hatte ich ein, zwei Wochen vorher in die Runde gefragt, ob jemand mit mehr Know-How in diesem Bereich als ich, Lust hätte, sich für Fotos akkreditieren zu lassen. Das hat schlussendlich ganz knapp geklappt; André lag quasi schon auf dem Feierabend-Sofa, als er grünes Licht bekam und cruiste dann noch spontan binnen zweieinhalb Stunden nach Stuggi, um Fotos zu machen. Das ist Einsatz, liebe Leserschar! Bitte einen stillen Applaus für André, der mir nun erzählt, was er sich natürlich nicht verdient hatte: Heute Abend sind den Fotografen während der üblichen drei ersten Songs nur Fotos von hinter dem Mischpult aus erlaubt. Das nennt sich, wie ich gelernt habe, in Fotografensprache wohl FOH, „Front of House“.
Wir schlendern also die 400m nach vorne ins Longhorn, während denen ich noch meinem Kumpel Andy begegne, der auch erst noch "amerikanisch" futtern geht. André lässt sich und seinen Foto-Rucksack mit einem schicken Aufkleberchen akkreditieren und wir nehmen schlussendlich zunächst einmal beide den Platz hinter dem Mischpult ein, wo schon einige Kollegen stehen und ihre Technik in funktionsfähigen Zustand bringen. Während André dies ebenfalls tut, inspiziere ich den T-Shirt-Stand, wobei ich, ich hatte es ein klein wenig wenn auch nicht so schlimm erwartet, beim Erspähen der aufgerufenen Tarife einige graue Haare mehr bekomme: 45€ für ein normales Tourshirt und 55€ für ein Shirt mit einem ganz alten Logo, einseitig bedruckt! Auch wenn es schön glitzert, das ist Spinnerei! Bands, die einen so guten Ruf haben und derart selten unterwegs sind, dass eigentlich nahezu jeder Konzertgast Interesse an einem Shirt hat, sollten dieses bescheuerte Kalkulieren der Einkünfte über den Preis mal überdenken. Wenn das Shirt nämlich 30€ oder 35€ kosten würde, nähme eine nicht unbeträchtliche Zahl an anwesenden Sammlern ganz bestimmt mindestens zwei Shirts mit. Ganz zu schweigen, davon, was bei 25E passieren würde…; aber dann müsste man ja so viele Shirts transportieren, gelle!?
Doch genug des einleitenden Vorgeplänkels: Wie ein Fotografen-Kollege von André es treffend umschrieb, komme ich nun zum "Schamanischen Gedöhns" der "Vorband", eigentlich ist es nur eine Frau namens LILI REFRAIN mit Loop-Maschine, die neben ihren Gitarren auch einige seltsame Instrumente bedient. Zunächst ist mir aus der Entfernung nicht klar, ob es sich um Mann oder Frau handelt, das klärt sich jedoch nach einiger Zeit mit Einsetzen des Gesangs. Die fast statische, anfangs nur aus tiefen, beruhigend oder wahlweise bedrohlich, spannungsgeladen klingenden Klangteppichen mit von ihr gespielter Percussion unterlegte Musik zieht das Publikum im mittlerweile ordentlich gefüllten Longhorn in ihren Bann. Zumindest stehen die Leute still und starren wie hypnotisierte Hasen in Richtung Bühne zu der Frau mit dem "Am Anfang war das Feuer"-Makeup. Ich weiß zunächst nicht was ich davon halten soll. Mir ist das Ganze irgendwie zu ruhig, ich bin wegen THE CULT hier. Der Bezug zur britischen Rockband ist jedoch auch mir klar: man denke an das Indianer-Makeup der frühen Jahre oder die esotherisch wirkenden Videos. THE CULT haben sich die junge Frau nicht ohne Grund als Opening Act gebucht. Das erste Stück, dessen Titel ich nicht mit Sicherheit sagen kann, dauert zwanzig Minuten, vielleicht sind es auch mehrere zusammenhängende Tracks. Die Dramatik steigert sich zusehends, härtere Gitarrensounds, von LILI REFRAIN live gelooped, gepaart mit ihrem Ausdrucksgesang lassen auch mich nun aufmerksam zuhören. Nach einem furiosen Ende bin ich unglaublich auf die Reaktion des Publikums gespannt, da ich diese überhaupt nicht einschätzen kann. Doch nach dem Schlussakkord ist der Applaus als "kurz vor Toben" zu bezeichnen. Ich bin echt überrascht; LILI REFRAIN hat das Publikum "geknackt", sage ich mal. Ihre kurze begeisterte und leidenschaftliche Vorstellung, die ihr warmes Wesen und einen phänomenalen Enthusiasmus enthüllt, hilft ebenso dazu, das Publikum mit großer Aufmerksamkeit dem zweiten, diesmal zehnminütigen Track lauschen zu lassen. Bei diesem gibt es sogar Mitklatsch-Parts, die jetzt super funktionieren. Man merkt der Künstlerin an, dass sie begeistert ist und Spaß hat. Dementsprechend wird sie nach dem Gig, von mir zu Beginn als unmöglich erachtet, regelrecht abgefeiert! Auch André und Andy bestätigen mir beide, dass sie die, wie Recherche ergab, seit 2007 auftretende und Alben produzierende Musikerin aus Rom richtig gut fanden. Ihr Akzent hatte mich übrigens getäuscht, ich war mir zunächst sicher, dass die junge Italienerin eigentlich eine Französin sein müsste. Von LILI REFRAIN gibt es bereits fünf Alben. In der Tube ist zudem einiges an Videsos zu finden.
THE CULT lassen ab etwa 20:30 Uhr ziemlich auf sich warten und betreten erst gegen 21:20 Uhr die Bühne. Nach dem Herabsteigen der berühmten Treppe in der Dunkelheit und einigem Taschenlampengefunzel, steht dann endlich jedes Bandmitglied, wo es hingehört und die Männer um Billy Duffy und Ian Astbury starten ihr Set mit 'Rise'. Kraftvoll, mit Drive, Astbury gut bei Stimme und sehr agil, so meine allererste Momentaufnahme. Zwei Minuten später traue ich mir in Gedanken die ergänzende Aussage zu, zwar ar****laut, aber richtig prächtiger Sound! Als nächstes folgt der 'Sun King', der die Gelüste des Publikums nach Stücken vom "Sonic Temple"-Album befriedigen soll, dass heute leider ein bissel in der Hülle bleiben wird. Jedenfalls grooven viele Fans bereits vor sich hin und ich hänge schon aus den Ohren sabbernd mit den Augen und Lauschern am Bass-Spiel von Charlie Jones und der Schlagzeug-Leistung von John Tempesta! Wie perfekt rund, crisp und tight klingt denn bitte diese Rhythmussektion! Ich bin begeistert, die Fahrt und die 50€ Eintritt haben sich bereits jetzt gelohnt. Ich werde nicht mehr, hört sich das gut an! Die Temposchraube wird mit dem nächsten Song nach vorne gedreht, denn 'King Contrary Man' treibt das Publikum mit seinem rock'n'rolligen Charme ordentlich zu schweißtreibender Bewegung. Der nächste Track ist der zweite und letzte aus meinem heiligen THE CULT – Tempel: 'Sweet Soul Sister'. Leider singt Astbury hier etwas kraftlos und zuweilen eine arg andere Stimmführung. Das Publikum feiert den Song total ab und die Band spielt großartig. Nur den Herrn Ian müsste man fragen, was da los ist. Keine Lust oder zu hoch? Letzteres glaube ich fast ausschließen zu können, da er später ja ebensolche Kaliber zum Besten gibt. Den Refrain singt nahezu immer das Publikum. Egal, unter dem Strich war auch dieser, mein langjähriger Lieblingssong der Briten, durchaus toll. Schön, ihn mal live gehört zu haben. Das erneut bodenlos groovende 'The Witch' lässt die Publikumsmasse im Longhorn, etwa 900 Karten sollen im Vorfeld verkauft worden sein, wieder mehr schwitzen, als die etwas feierlichere Seelenschwester. Danach geht’s dann noch mehr ab: 'Lil Devil' lässt auch live die Danzig – Vibes in Astburys Stimme deutlich, wenn auch bei Ian natürlich heller, in den Vordergrund rücken. Im Anschluss spielt THE CULT wie auf dem Album "Electric" sofort 'Aphrodisiac Jacket', das wieder etwas mehr durchschnaufen lässt. Was mich über Billy Duffys großartigen, voluminösen, bratenden Gitarrensound schwadronieren lässt. Der klingt mindestens so gut wie der Rest der Instrumente. Einzig das doch klanglich etwas untergehende Keyboard von Mike Mangan nehme ich selten wahr, bei 'Sweet Soul Sister' war das natürlich der Fall. Um vermutlich den Verkauf der zu diesem Titel vorhandenen T-Shirt- Motive und Mützen anzukurbeln, spielt die Band nun 'Vendetta X' vom letztjährigen, aktuellen Album "Under The Midnight Sun". Hier, wie auch später beim zweiten neuen Song, fällt die kräftige, hohe Töne beinhaltende Gesangsmelodie auf. Ian Astbury singt das Stück echt toll. Hmm.
'Phoenix' ist der erste Track, der vom Album "Love" zu Gehör gebracht wird. Mittlerweile herrscht trotz der Waschküchen-Hitze Hochstimmung im Longhorn. Jetzt legen Billy Duffy und Kollegen noch einmal eine Schippe Druck nach und pumpen die Wildblume, also natürlich die 'Wildflower' ins Longhorn. Als Sohn eines fanatischen Botanikers habe ich mit Wildblumen zwar so meine Schwierigkeiten, aber diese finde ich von Tonkonserve und auch live richtig mega! Der zweite Track und Opener von "Under The Midnight Sun“, 'Mirror' kommt nun zu Gehör und abermals überrascht der richtig tolle Gesang. Um es klar und nicht missverständlich zu formulieren: Ian Astbury singt den ganzen Abend lang gut, aber seine Stimmqualität unterscheidet sich für mich bei einigen Songs doch sehr. Der einzige Track in der Setliste vom Debütalbum "Dreamtime" von 1984 hört auf den Namen 'Spiritwalker', und lässt verstärkt die Mitmusiker in die Backing Vocals eingreifen. 'Rain' vom "Love"-Album treibt das Publikum wieder ordentlich an und Ian Astbury holt sich den gefühlt hundertsten Schellenkranz, um ihn zwanzig Sekunden hektisch und optisch vorteilhaft zu benutzen und ihn dann irgendwohin zu pfeffern. Zu hören ist er damit meiner Ansicht nach nie, höchstens trifft er mal den Rhythmus der Becken oder des Hi-Hats. Wie ich nach dem Konzert mitbekomme, verteilt er die Schellenkränze wohl auch ins Publikum, jedenfalls erblicke ich nach dem Gig zwei "Gleichaltrige", die beim Plaudern stolz wie Musikschüler ihre neuen Orffinstrumente an die Taille pressen. So weit vorne war ich natürlich leider nicht… . Oh Gott, da wäre ich ja umgekippt, so heiß kam es mir vor.
Der elegant in schwarzes Seidenbandana und schwarzfarbenen Hemdmantel gekleidete Sänger steigt nun mit der Band nach einer kurzen Ansage und eingeforderter Publikumsbeteiligung in den über die Jahrzehnte auf Dauer wohl zum größten Hit der Briten gewachsenen Song ein, gemeint ist natürlich 'She Sells Sanctuary' von "Love". Diese legendäre Nummer ist in meiner persönlichen Erinnerung untrennbar mit Serpentinenfahrten gemeinsam mit zwei Kumpels in einem bananengelben VW-Bus um den Iseo-See in Italien herum verknüpft. Jedenfalls singt Ian auch hier gut, aber das gewisse Etwas fehlt mir ein wenig. Nichtsdestotrotz geht der Laden völlig steil. Nach der ersten Verabschiedung wackelt der Band-Tross, von der Bühne taschenlampenbefunzelt, wieder die Treppe rauf und kurz darauf erneut herunter, um das Publikum mit 'Peace Dog' und 'Love Removal Machine' noch so richtig garzukochen. Voraus geht eine begeisterte Ansage von Astbury, in der er sinngemäß meint, dass die Band in solche Clubs gehört und nicht auf die Festivals; "Fuck The Festivals", gibt er zu Protokoll.
Fazit: Es war ein megageiles, etwa achtzigminütiges Konzert der britischen Exil-Amis mit einer etwas seltsamen Verteilung der am besten gefallenden Songs bei mir und unterm Strich, bei 6 Liedern von "Electric", mit einem deutlichen Schwerpunkt, was die Liedauswahl betrifft. Dennoch erschien mir die Setliste musikalisch sehr ausgewogen und bereitete mir und offenbar auch dem Rest des Publikums dolle viel Spaß! Trotz aller genannten Kritikpunkte bin ich begeistert nach Hause gefahren und auch Andy und André waren sehr wohlgesonnen, was ihre Bewertung des Abends betrifft. Ich glaube, beide würden wieder mal mitkommen. Hoffentlich dauert es nur nicht erneut 8 Jahre, bis sich THE CULT wieder in Europa blicken lassen… .
Setliste THE CULT: Rise; Sun King; King Contrary Man; Sweet Soul Sister; The Witch; Lil' Devil; Aphrodisiac Jacket; Vendetta X; Phoenix; Wild Flower; Mirror; Spiritwalker; Rain; She Sells Sanctuary; Peace Dog; Love Removal Machine
Vielen Dank an André Schnittker für die tollen Fotos!
- Redakteur:
- Timo Reiser