WACKEN 2023 - Wacken

22.08.2023 | 16:16

31.07.2023,

...oder Grenzerfahrungen für alle Beteiligten.

"Hey ho, let's go", heißt es bei mir heute bei bestem Wetter bereits um kurz nach 12 Uhr, da ich nach dem gestrigen MEGADETH-Auftritt den Plan gefasst hatte, mir heute schon um 13:00 Uhr auf der W:E:T-Stage MARTY FRIEDMAN anzugucken. Dieses Vorhaben erweist sich als richtig, hat der gute Marty doch eine klasse Band um sich geschart. Weil er seit fast 20 Jahren in Japan lebt, sind es bis auf den Drummer japanische Musiker, die Bassistin und der zweite Gitarrist sind zudem blutjung. Dennoch fiedeln sie dem Publikum furios und lässig zusammen mit ihrem Meister eine druckvolle und progressive Instrumental-Rockshow um die Ohren, die nach drei Tagen kunterbunt gemischten Geschrotes von allen Bühnen erfrischend anders und spannend auf mich wirkt. Es gibt zwar vereinzelt Soli zu hören, als die in violetter Jogginghose mit rosafarbenen Haaren aufgelaufene, fast jugendliche Bassistin dann dran ist, stellt sie sich jedoch in die Mitte der Bühne und gibt in schönstem "Jenglisch" (Japan-English) mit Piepsstimme 'We Will Rock You' zum Besten. Nettes Späßchen! Friedman selbst wirkt während des ganzen Gigs hochmotiviert, extrovertiert und sucht zu nahezu jedem Zeitpunkt Blickkontakt und Bindung zum Publikum. Alle drei Musiker strotzen vor Bewegungsdrang und Marty Friedman mit seinen 60 Jahren (absolut unglaublich, wie der Mann sich gehalten hat) post wild, lässt die Arme windmühlenartig kreisen und die wuschelige Matte fliegen, dass es den zahlreich vor der Bühne stehenden MEGADETH-Fans eine wahre Freude ist. Am Ende wird er mit seinen phänomenalen Mitstreitern zu Recht richtig amtlich vom Publikum abgefeiert. Dieser "bockstarke" Gig, um dem Herrn Rapp an dieser Stelle mal seinen Signature-Begriff für absolut lobenswerte Leistungen zu klauen, hat es verdient, eine Setliste abgedruckt zu bekommen.

Setlist MARTY FRIEDMAN: Stigmata Addiction; Devil Take Tomorrow; Amagigoe; Tornado Of Souls; Paradise Express; Dragon Mistress; Kaze Ga Fuiteiru

Nach dem Weltklasse-Gitarristen gibt es truesten Truemetall von JAG PANZER auf der Headbangers-Stage gleich nebenan. Die Band spielt bei gutem Sound sehr routiniert, wirkt aber verkrampft. Harry Conklin scheint seine üblichen, neckischen, die Musik untermalenden Bewegungsspielchen etwas automatisiert abzuspulen. Irgendwie wirkt die Band müde und verkatert. Das "Headbangers Open Air" ist doch schon eine Woche her!?! Scheinbar hat man seitdem eine gute Tour gehabt. Wenn das aber einer Band zu gönnen und zu verzeihen ist, dann den Mannen aus Colorado, die mit "The Hallowed" ein starkes neues Album präsentieren können, dessen Cover auch das prächtige Backdrop verziert. Die Band zockt ein kurzes, fünfundvierzigminütiges Set, bestehend aus neun Songs, von den mit vieren ein deutlicher Schwerpunkt auf dem neuesten Studio-Output lastet. Mit zunehmender Dauer des Auftritts und bei Nummern wie 'Iron Eagle' oder 'Take To The Sky' kommen vor allem Mark und Harry immer mehr aus dem Quark und nutzen die Subwoofer vor der Bühne um dem begeisterten Publikum näher zu kommen. Mark hopst gleich ganz runter, schüttelt Hände und gibt Plektren aus. Nach dem Gig reicht er noch Massen an Plektren an die Security-Leute, die versuchen, diese gerecht wie Kindergärtner an die gierigen Fans zu verteilen. Harry verschenkt derweil Setlisten. Insgesamt gelingt der Band trotz etwas verhaltenem, sehr introvertiert-konzentriertem Start ein schöner Gig mit gegen Schluss überbordender Publikumsnähe. Hat Harry eigentlich tatsächlich violette Strähnen in seinem denkwürdigen Pony?

Setlist JAG PANZER: Bound As One; Chain Of Command; Black; Iron Eagle; Prey!; Stronger Than You Know; Take To The Sky; Onward We Toil; Generally Hostile

Im Anschluss ächze ich kurz zum Plaza um mir noch ein Matjes-Brötchen zuzuführen und komme wieder, als die BURNING WITCHES bereits auf der Bühne stehen. Die Band spielt ein energiegeladenes Set und zieht ordentlich Publikum vor die W:E:T-Stage. Man kann an diesem Punkt schon anmerken, dass die Frauen in ihren Metal-Outfits aber auch ein toller Blickfang sind und vor allem Laura Guldemond ihre optische Bühnenpräsenz samt ihrer weiblichen Reize voll ausspielt. Das ist legitim und stimmlich finde ich sie heute weitaus besser als auf einem in der Corona-Zeit gesehenen, unsäglichen Live-Videos. Jedenfalls haben die Damen sichtlich Spaß und schaffen es auch, diesen auf ihre Fans vor der W:E:T-Stage überschwappen zu lassen. Alle vier an der Bühnenkante agierenden Musikerinnen halten Blickkontakt mit dem Publikum, vor allem Romana und Laura entwickeln dabei auch miteinander eine tolle Chemie. Letztere macht einen absolut bemerkenswerten Job und darf in meinen Augen bereits zu den richtig guten Frontleuten gezählt werden. Einzig ihre stets "metallisch" phrasierten Ansagen gehen mir manchmal etwas auf den Zeiger. Die BURNING WITCHES versprühen an diesem Nachmittag tonnenweise Frische und Energie, durch die sie ihr Publikum in einer Weise mitreißen, wie es viele der ach so angesagten, neuesten "Heißer Scheiß"-NWoTHM-Kapellen oftmals eben einfach nicht schaffen!

Setlist BURNING WITCHES: Unleash The Beast; Wings Of Steel; We Stand As One; Lucid Nightmare; Hexenhammer; World On Fire; The Dark Tower; Burning Witches

Dummerweise trödle ich beim Hinüberlaufen zur Louder-Stage etwas und sehe gerade noch das letzte Winken von BIOHAZARD zum Schlussfoto. Schade, vor allem weil ich mittlerweile den Stream vom exklusiven Auftritt der 90er-Hardcore-Helden kenne. Da habe ich wohl ganz gewaltig was verpasst, die haben gut abgeräumt! Wurscht, 30 Minuten später ist Enten-Party angesagt! Derer drei hocken bei ALESTORM als riesige Gummienten auf der Bühne und was soll ich sagen: Die vormals vor Jahren von mir sehr verhasste, seichte und oftmals äußerst alberne Metalparty-Trink-Mucke der Schotten geht mir voll ins, am sechsten Tag in Wacken schon recht steife, Gebein! Da hat mein von ALESTORM seit jeher infizierter Cousin langjährige Missionierungs- und Aufbauarbeit bei mir geleistet, soll heißen: Er hat mich über Jahre hinweg wahnsinnig zu jeder Gelegenheit mit den akustischen Ausdünstungen des Partygeschwaders genervt... und scheint am Ende erfolgreich gewesen zu sein. Ich habe jedenfalls tüchtig Spaß an den eingängigen Mitgröl-Schoten von ALESTORM und genieße den Gig bei besten Sound- und Wetterbedingungen.

Setlist ALESTORM: Keelhauled; No Grave But The Sea; The Sunk'n Norwegian; Alestorm; Under Blackened Banners; Hangover; Mexico; P.A.R.T.Y.; Captain Morgan's Revenge, Shit Boat (No Fans); Drink; Zombies Ate My Pirate Ship; Fucked With An Anchor

[Timo Reiser]

Am letzten Festivaltag drängt Herr K. aus M. mich bereits um 14 Uhr auf den "Holy Ground", da er unbedingt ENSIFERUM sehen will. Unbedingt! Teile des Fußmarsches bleiben uns heute erfreulicherweise erspart, da uns ein freundlicher Papi mit Kind und Hund auf dem Rücksitz seines Autos ein Stück des Weges mitnimmt. Wir kaufen kalte Mezzo-Mix-Getränke an einer Hofeinfahrt im Ort und zahlen mit richtigem Bargeld. Gerade noch rechtzeitig erreichen wir die Harder Stage, um die Finnen mit den angemalten Gesichtern zu sehen. Herr K. aus M., it's your turn!

[Erika Becker]

Wenn man sich am frühen Nachmittag vor die beiden Hauptbühnen begibt, wird wegen des noch überschaubaren Besucherstroms das ganze Ausmaß der Wattlandschaft überdeutlich. Insoweit kann man sich den Luxus erlauben, vor dem ENSIFERUM-Auftritt wählerisch zu sein und nach einer geeigneten, schon etwas trocken gefallenen Insel Ausschau zu halten, um von dort aus ganz entspannt dem eingängigen Pagan Metal zu frönen. Mit dem letzten Output "Thalassic" ist ENSIFERUM meiner Meinung nach ein großer Wurf gelungen, der auch für die künftigen Setlists einge unverzichtbare Songs parat halten wird. Ich denke da vor allem an 'Run From The Crushing Tide', welches von Keyborder Pekka als Teilzeit-Sänger so wunderbar präsentiert wird. Für mich hat das Stück auf jeden Fall Potential, meinem Alltime-Favoriten 'From Afar' an der Spitze ordentlich Konkurrenz zu machen. Nach der Inselbesetzung ist vor 'Rum, Women, Victory', mit dem ENSIFERUM den Stimmungspegel gleich mal hochfahren kann. Während des Openers strömt dann doch noch ein Gutteil des im Infield befindlichen Publikums vor die Bühne, so dass die offene Wattlandschaft wieder die umstehenden Gummistiefel umschließen kann. Der eine oder andere hat dann in Erwartung des anstehenden Kampfes auch noch sein aufblasbares Gummischwert gezückt, um im Rhythmus welche Feinde auch immer in die Flucht zu schlagen. Mit dem Hünen Petri an Gesang und Gitarre wird auch irgendwann zum nachmittäglichen Tanz, äh Moshpit, aufgefordert. Erstaunlicherweise schaffen es tatsächlich einige sich aus dem Schlamm zu ziehen und ein paar Runden im Kreis zu drehen. Schnell wird noch beim gemeinsamen Singen der Chor zu  "Lai Lai Hei" dirigiert, um schlussendlich das Nachmittags-Kaffeekränzchen mit 'From Afar' wild ausklingen zu lassen. Toller knackiger Auftritt, der bei besseren Platzverhältnissen sicherlich auch ein paar mehr Nasen vor die Bühne gezogen hätte.

[Stefan Karst]

Eher ein Zufallsfund auf dem diesjährigen WOA ist die australische Melodic-Death-Metal-Band BE'LAKOR. Herr K. aus M. landet ungeplant vor der Headbanger Stage im Gras (oder was davon übrig ist), während ich mich an einer unendlichen Toilettenschlange anstelle. Als ich zu ihm zurückkehre, hat er bereits Feuer gefangen. BE'LAKOR präsentiert eingängige Songs mit Growlgesang, unterlegt von einem schwebenden Piano-Sound. Ja, ich denke sofort an INSOMNIUM. Als ich später im Internet Informationen über die Band einhole, finde ich im Wikipedia-Artikel genau diesen Vergleich. Ich finde, er stimmt. Das dürfte auch der Grund sein, warum mir die Australier so gut gefallen. Ihre Musik ist hart, leicht melancholisch und trotzdem harmonisch. Die für mein Empfinden richtige Mischung aus Gitarren-, Keyboardklängen und rauem Gesang. Ich werde mich näher für die Truppe interessieren.

[Erika Becker]

Auch heute ist die Anzahl der nebenbei im Vorbeilaufen akustisch erhaschten Bands groß. Vorhin hatte ich noch ein paar Brocken von JINJER mitbekommen, jetzt checke ich kurz KATAKLYSM an, die ich in meiner derzeitigen Stimmungslage als langweilig empfinde und schaue dann doch noch etwas bei KILLSWITCH ENGAGE zu, bevor ich Käsespätzle mampfend Jeff Becerra und seinen POSSESSED vor der Louder-Stage meine Aufwartung mache. Seit ich vor Jahren, ebenfalls in Wacken, sah, wie Becerra vor lauter leidenschaftlicher Action fast aus dem Rollstuhl kippte, hat er bei mir einen Stein im Brett. Zu anfangs recht dünnem Sound strahlt der mittlerweile eine Augenklappe tragende Jeff beim Keifen fast etwas unpassend gut gelaunt von seinem Rolli aus in das Publikum. Mit der Zeit wird der Sound dann kräftiger, voluminöser und die Publikumsaction nimmt ordenlich zu. Gegen Ende des Auftritts bin ich dann doch noch ziemlich gefesselt vom etwas belanglos gestarteten Auftritt der altehrwürdigen Black-Death-Thrasher. Jeff Becerra scheint den Gig jedenfalls in vollen Zügen bei prächtigster Stimmung genossen zu haben. Recht so!

Setlist POSSESSED: No More Room In Hell; Damned; Pentagram; Tribulation; Beyond The Gates; Storm In My Mind; Swing Of The Axe; Graven; The Excorcist; Demon; Fallen Angel; Death Metal; Burning in Hell

[Timo Reiser]

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen kreuzen die Herren von SALTATIO MORTIS unsere Wege. Die Show von Frontmann Alea und seinen Genossen ist mir noch vom "Rockharz"-Festival Anfang Juli als besonders energiegeladen in Erinnerung. Und so ist es auch diesmal. Selbst wenn man kein ausgemachter Freund der immer wiederkehrenden Dudelsack- und Schalmeienklänge ist, kann man sich der geballten Vitalität, die besonders der Sänger der Truppe ausstrahlt, kaum entziehen. Das spiegelt sich auch auf dem "Holy Ground" wider. Alle sind gekommen [Nein! - Anm. Timo]. So scheint es zumindest. Das Infield ist randvoll.

Abwechslungsreich haben die Mannen von SALTATIO MORTIS ihre Setlist mit deutschen und englischen Liedern gespickt. Viele Songs laden mich zum Mithüpfen ein, obwohl ich sie gar nicht alle kenne. Die Cover-Version des allerdings altbekannten Shantys 'What Shall We Do With The Drunken Sailor' lädt dann die ganze Horde auf dem Platz zum Mitgrölen ein. So klingt es zumindest. Die Leute haben Spaß. Dafür zu sorgen, ist offenbar SALTATIO MORTIS' erklärtes Ziel. Und das gelingt der Band bestens.

Zwischendurch tritt ein Gastsänger hinzu. Der mir bisher völlig unbekannte Kandidat ist offenbar – wie mir später zu Ohren kommt – ein gewisser Peyton Parrish, mit dem die Band zuvor bereits einen Song aufgenommen hat. Ich hänge der Entwicklung dramatisch hinterher. Das Internet wird mir später sagen, dass dieser Held schon ein bemerkenswerter Star in der Metalszene sei. Seine Attitüde auf der gemeinsamen Bühne mit SALTATIO MORTIS erinnert mich eher an einen Rapper.  Das Duo ist zugegebenermaßen gleichwohl kurzweilig und dynamisch. Es passt.

[Erika Becker]

EVERGREY spielt auf der Headbangers-Stage ab 20:00 Uhr bei tollem Sound einen Mega-Gig, anders kann ich es kaum ausdrücken. Die Musiker schaffen im Laufe des Auftritts das Kunststück, eine dichte, sich dennoch öfter ändernde emotionale Atmosphäre aufzubauen und das Publikum von Song zu Song mitzunehmen und durch Interaktionen einzubinden. Vor allem Tom S. Englund und Henrik Danhage halten durchgängig Kontakt zu ihren Fans und zeigen sich überaus bewegungsfreudig, sofern das bei ihrer komplexen Tätigkeit an den Instrumenten möglich ist. Die düster-dunkle, stellenweise knirschend harte, aber immer melodiöse und progressiv vielschichtige Musik nimmt das gesamte anwesende Publikum regelrecht gefangen. Trotz der Stoßzeit zwischen 20 und 21 Uhr bleiben sehr viele Leute stehen und genießen die oftmals melancholische und schlichtweg wunderschöne Musik von EVERGREY, die live noch einmal einen großen Zacken tiefschürfender und mitreißender wirkt, als von Tonkonserve. Echt groß(-artig)!

Setlist EVERGREY: Save Us; Weightless; Call Out The Dark; Eternal Nocturnal; Midwinter Calls; Where August Mourn; A Silent Arc; My Allied Ocean; A Touch Of Blessing; King Of Errors

[Timo Reiser]

Nach dem Power-Gig von SALTATIO MORTIS sind wir ausreichend aufgeheizt, um uns mit HEAVEN SHALL BURN dem ersehnten Headliner des Abends zuzuwenden. Auch die Thüringer Metalcore-Band zeichnet sich in erster Linie durch ihre brachiale Energie aus, mit der sie dem Publikum an diesem Abend ihre Songs um die Ohren haut. Beinahe im Widerspruch zu dieser Wucht stehen die freundlichen Ansagen von Sänger Marcus Bischoff, der mit seinem roten Hemd und seiner inzwischen langen Headbanger-Mähne auf sich aufmerksam macht. Während der Show erzählt er vom Werdegang der Band, dem ersten Auftritt auf dem WOA vor 20 Jahren und dem Erfolg, den die sich als Hobbyband bezeichnende Truppe offenbar selbst kaum fassen kann.

Rund anderthalb Stunden feuert das Quintett eine ausgewogene Mischung der Songs ihres aktuellen Albums "Of Truth And Sacrifice" und früherer Werke ab. Marcus Bischoff lädt zum Moshpit ein, nicht ohne die Fans daran zu erinnern, dabei gut aufeinander aufzupassen. Und sogleich bildet sich eine Gruppe, die im Laufschritt um die Techniktürme herum rast, die vor den beiden Hauptbühnen in den Himmel ragen.

Im weiteren Verlauf erfahren wir noch, dass die Band sich nach Abschluss der laufenden Tour etwas zurückziehen wird, nicht nur jedoch, damit die Musiker sich um ihre Familien kümmern können – nein, auch, um etwas Neues aufzunehmen. Das klingt doch schon jetzt verheißungsvoll! Viel zu schnell ist die Spielzeit vorüber. Jedoch dürfen die Thüringer die Bühne nicht ohne eine Zugabe verlassen. Warten wir doch geradezu darauf, dass das BLIND GUARDIAN-Cover 'Valhalla' zu Gehör gebracht wird. Und dann kommt es auch. Hansi Kürsch, Bischoffs Idol aus der Jugend, singt vom Band, die Fans singen vom Festival-Ground aus. "Valhalla, deliverance, why've you ever forgotten me?" So schallt es aus tausenden Kehlen über den nächtlichen Acker. Einer jener Gänsehautmomente, die Metalfestivals zu so besonderen Orten machen...

[Erika Becker]

DER W und MR. HURLEY UND DIE PULVERAFFEN erhasche ich auf der Jagd nach "Baumkuchen", den ich mir heute noch unbedingt nahrungstechnisch zu Gemüte führen will. Mit einem solchen in den Händen leide ich noch ein letztes Mal von der Wackinger-Stage ins Infield vor die Harder-Stage, um das Film- und Computerspielmusik-Projekt TWO STEPS FROM HELL live zu erleben. Das Show-Orchester mit seinen davor agierenden aufgebrezelten Violinistinnen und Bandmusikern legt auch sofort beeindruckend mit dem aufwühlenden 'Protectors Of The Earth' los. Für die nächsten 75 Minuten ziehen die etwas überdreht agierenden, stehenden Musiker mit dem dahinter sitzenden Orchester das Infield in ihren Bann. Das ist in der Tat ganz großes orchestrales Kino, dem man sich kaum entziehen kann. Ich verfolge die außergewöhnliche Darbietung teils umherflanierend (Prust!), teils im hauchfeinen Nieselregen sitzend und erfreue mich an der phänomenalen, modernen, poppig-orchestralen Bombastmusik und den ziemlich überagierenden Musikern vor dem Orchester. White Line Fever? Keine Ahnung, vor allem der Kerl mit der weißen Hose und die Geigerin mit den Metall-Ketten am Lederkleidchen stehen jedenfalls oft im Mittelpunkt und geben actionmäßig alles! Die Show ist gut und wird von viel Licht und Feuer begleitet. Ähnlich wie am Abend zuvor WARDRUNA, bietet TWO STEPS FROM HELL eine erfrischende Abwechslung im üblichen Wacken-Geknatter.

Setlist TWO STEPS FROM HELL: Protectors Of The Earth; Strength Of A Thousand Men; Flight Of The Silverbird; Fire Nation; Sariel Nighthawk; Away With your Fairies; Harley Templar; Defenders Of The Grail; Victory; Stormkeeper; Memoria, Impossible; Fractured Soul; Heart Of Courage

Wie die Zeit vergeht: Schon stehe ich nach sechs Tagen in Wacken des nächtens um 0:15 vor der Faster-Stage um mir zum ersten Mal, aber als meine letzte Band des diesjährigen Festivals, die allseits gelobten DROPKICK MURPHYS anzugucken. Und es wird trotz später Stunde auch gleich wieder voller vor der Bühne, obwohl der Schlamm aufgrund des Nieselregens erneut etwas mehr und somit anstrengender wird. Im Bühnenhintergrund blendet man schon einmal in riesigem Format den Bandnamen ein. Nach einem ruhigen, traurig klingenden vocalen Intro, das von einer Frauenstimme gesungen wird ('Foggy Dew'), steigt die Folkpunk-Band mit 'The Lonesome Boatman' in ihr Set ein. Trotz Ganzkörper-Leidens halten mich die Amis mit ihren spritzigen und antreibend-packenden Instrumentierungen inklusive Dudelsackklängen und fetzigen Songs in den nächsten 75 Minuten stetig bei Laune. Die Stimmung steigt, die anwesende Publikumsmasse geht für diese Uhrzeit beachtlich aufgekratzt mit viel Körpereinsatz mit, und der Sound ist mega! 'The Boys Are Back' lässt den wie einen irischen Pub-Kellner aussehenden Leadsänger Al Barr auch sogleich herumhüpfen, wie den sprichwörtlichen Gummiball. Die DROPKICK MURPHYS regieren jetzt das Infield und wer nicht dabei ist, verpasst in der Tat einen geilen Auftritt, den ich mir bestimmt nochmals ganz im Stream anschauen werde, da ich trotz der mir nicht verborgen bleibenden Qualität des Gigs in persona vor der Faster-Stage, mehr mit Wach- und Stehenbleiben, als mit etwas anderem beschäftigt bin.

Setlist DROPKICK MURPHYS: The Lonesome Boatman; The Boys Are Back; Blood, Prisoner's Song; Johnny; I Hardly Knew Ya; Paying My Way; You'll Never Walk Alone; The Bonny; I Know How It Feels; The Fields Of Athenry; Barromm Hero; The State Of Massachusetts; (F)lannigan's Ball; Skinhead On The MBTA; Out Of Our Heads; Worker's Song; Rose Tattoo; I'm Shipping Up To Boston

[Timo Reiser]

Respekt, lieber Timo, dass du es nach all den Strapazen fast bis zur letzten Show des diesjährigen WOA ausgehalten hast. Wir knicken vorher ein. Immerhin haben wir noch einen fast zweistündigen Fußmarsch vor der Nase. Zur letzten Wanderung in unsere Regenkampfmontur gepackt, stapfen wir still am Nord-Ostsee-Kanal entlang und lassen die Bilder des zu Ende gegangenen "Wacken Open Airs" vor unserem inneren Auge Revue passieren. Schön war's. Nach den Anreise-Wirrnissen hat sich doch alles noch gut entwickelt. Die Konzerte der letzten Tage konnten überwiegend bei patenter Wetterlage erfolgen und bei Lichte betrachtet waren die Verhältnisse auf dem Festivalgelände, zumindest aus der Perspektive von uns Hotelschläfern, weniger dramatisch als zum Beispiel 2015. Insofern erstaunt es mich auch, dass das WOA in den Nachrichtensendungen des Fernsehens derart überrepräsentiert war. Interessieren sich wirklich so viele Nicht-Metaller für die Schlammschlachten einiger tausend langhaariger Musikfreaks? Man wundert sich.

Organisatorisch haben wir wenig zu beklagen. Schön wäre es, wenn die Veranstalter sich künftig entschließen könnten, auch einen Bus-Shuttle zur Fähre in Hochdonn anzubieten. Das würde vielen Leuten die ausufernde Warterei am nächtlichen Taxistand ersparen und bei manchen die strapazierte Geldbörse schonen. Einzig das Kaspertheater mit der digitalen Ticketbestellung und die Zwangsverpflichtung zur Nutzung von Cashless Payment gehen mir persönlich auf den Keks. Derartiges lassen wir auch nur deshalb mit uns machen, weil die Bandauswahl auf dem WOA für Herrn K. aus M. und mich wie jedes Jahr auch 2023 wieder bestechend war. Trotz aller immer wieder aufflammenden Kritik an der zunehmenden Kommerzialisierung dieses Festivals, bleibt es ein tolles Erlebnis, mit tausenden gleichgesinnten Fans vor den Bühnen den Metal zu feiern und sich von der Woge der Begeisterung mitreißen zu lassen. Das wollen offenbar nicht nur wir immer wieder erleben.

[Erika Becker]

 

Sämtliche Bandfotos stammen von Bastian Klein von der Initiative Schwarze Szene Nazifrei. Wir danken ihm herzlich für die Illustration unseres Berichts.

 

Redakteur:
Timo Reiser

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