WACKEN 2023 - Wacken
22.08.2023 | 16:1631.07.2023,
...oder Grenzerfahrungen für alle Beteiligten.
Nachdem gestern ein 0,0-Promille-Tag für mich war, fröne ich heute ab dem späten Vormittag wieder ein wenig dem Bier und lustigen Mixgetränken. Mein Nachbar aus Soest kocht mir dann gegen Mittag für meine Instant-Ramen-Nudeln etwas Wasser auf, und nach drei Minuten ist mein Mittagessen fertig.
Heute ist der große IRON MAIDEN-Tag, deshalb bin ich vor allem hier! Ich hatte sonst keinen anderen für mich möglichen Termin gefunden und wollte diese "Future-Past-Tour" unbedingt sehen. Jedenfalls stakse ich, nachdem ich unter großer Anstrengung wieder in meine von außen völlig verschlammten Stiefel eingestiegen bin, am früheren Nachmittag behände los ("nahe am Ende" trifft eher zu) und suche nach erfolgreich erledigten "Geldgeschäften" am Wacken-Plaza, der Chip am Armband will schließlich gefüttert sein, flugs das Infield auf, um sogleich einen sündhaft teuren Kaffee zu konsumieren (4,20 €, sind da Plantagen-Aktien dabei?) und hernach das IRON MAIDEN-Merch zu inspizieren, wobei ich nebenbei feststelle, dass AMARANTHE mich auch live nicht die Bohne interessiert. Ich höre aber nicht konzentriert zu, da die Waren meiner Helden aus England sehr viel interessanter anmuten. Dasselbe Desinteresse wie für AMARANTHE gilt für WHILE SHE SLEEPS nur bedingt. Selbige Band habe ich jedenfalls schon einmal als Support von PARKWAY DRIVE erlebt, und fand sie gar nicht so übel. Aus irgendeinem Grund, vermutlich Nahrungssuche, treibe ich mich dann noch vor der Louder-Stage herum und kriege nicht unbeträchtliche Teile von LEAVES' EYES mit, eine Band, die ich im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte bereits einige Male vor die Nase bekam. Joah, besser als AMARANTHE jedenfalls. Den unterdrückten schwäbischen Akzent von Alex Krull finde ich nach wie vor noch knuffig.
Auch TRIVIUM hatte ich eigentlich für mich eingeplant, schlappe aber nach LEAVES' EYES aufgrund des handfesten Tipps eines meiner, mit mir am Dienstag in der Schlange zum Headquarter mitwartenden, Strategen an der Wackinger-Stage vorbei und bin vom Fleck weg sehr angetan von TWILIGHT FORCE. So angetan, dass ich mir die Amis, die ich heute eher abgearbeitet, denn mit Lust genossen hätte, schließlich schenke. Die spaßig anzusehenden Faschingskostümchen der Schweden sind zwar gewöhnungsbedürftig, die Musik hat mich aber sofort abgeholt: verspielter, flott nach vorne hobelnder, speediger Power Metal mit ordentlich Bombast und schicken Melodien! Eben das, was einem IRON MAIDEN-Fan am Nachmittag vor dem Konzert beim Verdauen des Mittagessens hilft. Ich spekuliere ja den ganzen Gig über, ob die beiden blonden Elfen mit den Masken ungeimpfte oder sonstwie übrig gebliebene Corona-Maniacs sind. Zu Hause ergibt eine Internet-Recherche dann, dass die Bandmitglieder ihre selbst erfundenen Rollenspielfiguren darstellen und bei den beiden halt Masken zum Set dazugehören. Tolle Mucke, toller, mitreißender Gig!
Und so wackle ich am seltsam alternative-mäßig tönenden TAKIDA-Verein vorbei zur Harder-Stage, wo ich kurz mit vor Schreck geweiteten Augen zunächst im Schlamm steckend verharre: SANTIANO, das Musik gewordene Monster aus "Fluch der Karibik", steht bereits vielköpfig auf der Bühne und klampft bedrohlich vor sich hin. "Ja, lieber Timo, da musst du jetzt durch! Es hilft ja nichts, ab nach vorne!", treibe ich mich innerlich an. Ich stehe das pseudo-folkloristische Seemanns-Rock-Gedröhne jedenfalls gesund und munter bis zum Schluss durch und bahne mir direkt im Anschluss heldenhaft einen Weg durch die Leute, bis ca. 15m vor die Bühne. Bis ich eben feststelle, dass einer der neulich erworbenen, speziell für Musik geeigneten Ohrenstöpsel in meinen rechten Gehörkanal gerutscht ist. Wahrscheinlich habe ich die Dinger während SANTIANO instinktiv zu fest hineingedrückt. FUCK, ausgerechnet jetzt!!! Also suche ich zunächst nach Mädchen und Frauen mit dünnen, kleinen Fingern, die mich alle etwas seltsam anschauen, als ich sie bitte, mal in mein Ohr zu fassen. Kacke nochmal, ich biege rechts ab und stehe gottlob sogleich vor dem Sanitäts-Bereich neben der Harder-Stage. Der nette Sani, der meine Angepisstheit durch seine freundliche Art schnell beruhigt, zieht den Stöpsel mittels einer Pinzette wieder heraus und ich eile wieder vor die Bühne in den Schlamm. Jetzt bin ich nachher bei IRON MAIDEN halt 30m von der Bühne entfernt, was soll's. Hauptsache kein Fremdkörper im Ohr!
[Timo Reiser]
Während Kollege Timo am Freitag schon vormittags auf dem Festivalgelände unterwegs ist, schlafen wir aus. Die erste Band, die uns – oder eigentlich nur Herrn K. aus M. - heute richtig interessiert, ist MEGADETH. Dave Mustaine steht aber erst um 19:15 Uhr auf dem Programm. Trotzdem machen wir uns schon am frühen Nachmittag von unserem Hotel auf der anderen Seite des Nord-Ostsee-Kanals auf den langen Fußmarsch, um die freie Zeit auf dem Festivalgelände zum Treffen mit Freunden zu nutzen. Da das irgendwie nicht klappt, widmen wir uns dem leiblichen Wohl. Ich entdecke einen Stand, der hochpreisiges, aber auch hochwertiges veganes Essen anbietet. Richtige Pellkartöffelchen, nix frittiertes Fast Food. Da kann man sich nicht beklagen. Ein bisschen fett finde ich mit 5,20 € den Preis für ein Getränk, das als Latte Macchiato mit Hafermilch verkauft wird. Mit der Milch des Festivalsponsors Oatly kann mangels entsprechendem Kaffeeautomat gar kein Kaffee mit aufgeschäumter Milch angeboten werden, sondern eigentlich nur Bohnenkaffee mit einem Schuss Hafermilch. Dass das trotzdem zum Latte Macchiato-Preis abgerechnet wird, ärgert mich, aber ich realisiere es zu spät, um zu meckern. Vier weitere Bohnenkaffees, bei denen ich die Hälfte abgieße, um mit Hafermilch aufzufüllen, ergattere ich dann für die bereits von Timo erwähnten 4,20 €.
Die Bierpreise sind auch fett, meint Herr K. aus M., der das besser beurteilen kann als ich. Wir wenden uns bezüglich der Kaltgetränke daher überwiegend dem Leitungswasser zu und vermögen es daher auch, in Top-Verfassung den langen Abend und den Fußmarsch nach Hause durchzuhalten. Trotzdem benötige ich nach dem Pellkartoffel-Schmaus ein Schläfchen auf dem sonnigen "Holy Ground". Als Hintergrunduntermalung eignet sich dabei der Auftritt von SANTIANO, der den Kollegen Timo so gegruselt hat. Auch ich bin immer wieder aufs Neue überrascht, dass diese Truppe, die sich musikalisch zwischen Volksmusik, Schlager, Pop, Folk und einigen Rock-Einsprengseln bewegt, auf dem WOA einen Platz findet, in diesem Jahr sogar auf der Hauptbühne. Und mit ein wenig Zähneknirschen muss ich mir eingestehen, dass ich die Show der Nordlichter gar nicht so übel finde. Musik, die keinem weh tut und die sich dabei unkompliziert eingängig im Gehörgang einnistet. Offenbar ist dies das Erfolgsrezept.
[Erika Becker]
Wer sich auf einen MEGADETH-Liveauftritt einlässt, weiß, dass die Gitarren sprechen und Dave Mustaines angedeuteter (Nuschelsprech-)Gesang allenfalls dazu geeignet ist, die aufeinanderfolgenden Gitarrenriffs ein wenig aufzulockern. Um diese These gleich einmal bedeutungsschwer zu untermauern, wird das Set mit dem überragenden 'Hangar 18' eröffnet. 'Wake Up Dead' und 'In My Darkest Hour' sind die idealen Fortsetzungsgranaten für den folgenden - fast Best-of - Gig. So oft habe ich MEGADETH in all den Heavy-Metal–Jahrzehnten leider nicht gesehen, so dass ich mich bei den abgezählten Auftritten innerlich sehr freue, dass es Dave Mustaine und sein musikalisches Vermächtnis noch gibt, und er offensichtlich weiß, was seine Fans von ihm hören wollen. Neben einzelnen Songs aus der jüngeren Vergangenheit, wird insbesondere den Klassikern aus den "Peace Sells"-, "Rust In Peace"- und "Countdown..."-Zeiten die gebührende Spielzeit gewährt. Weil die Vergangenheit so opulent abgefeiert wird, taucht dann als Schmankerl auch noch Marty Friedman auf und macht die Bühne endgültig zu einem Festival der Gitarrenriffs. Und schließlich geht es tatsächlich auf der Nostalgie-Rutsche ganz runter zu den Anfangstagen. 'The Four Horsemen'...nein, natürlich die Mustaine–Version 'The Mechanix' wird hervorgekramt und da ich bei der anderen Version textsicherer bin, singe ich für mich einfach mal den Refrain von 'The Four Horsemen' mit. Ich hoffe, Herr Mustaine ist mir deshalb nicht böse. Nachdem der Auftritt mit einem "Rust In Peace"-Song begonnen hat, endet das Ganze auch folgerichtig mit 'Holy Wars' von eben jenem Album mit dem angedeuteten Strahlenzeichen. In Wacken jedenfalls strahlt der MEGADETH–Stern ganz helle am Horizont.
"The Future Past" ist der Name der aktuellen IRON MAIDEN-Tour, die im Rahmen der Europaschleife final in Wacken ihr Ende findet. Kann man mal so machen! Hinter diesem Tour-Etikett verbergen sich mehr oder weniger die Albumschwerpunkte aus "Somewhere In Time" und dem aktuellen "Senjutsu". Dieser Auswahl fallen leider ein paar Standards wie 'Number Of The Beast' und 'Run To The Hills' (hat man immerhin bei KREATOR als Intro vom Band gehört) zum Opfer. Dies ist für mich als langjähriger IRON MAIDEN-Beobachter aber einigermaßen verkraftbar, da ich mich wie Bolle auf die erstmalige Präsentation von insbesondere 'Alexander The Great' freue. IRON MAIDEN muss man hoch anrechnen, dass die Band über all die Jahre ihrem Stammpublikum immer mal wieder eine andere Schwerpunkt-Show anbietet und so die Auftritte auch immer wieder besonders erscheinen. Dieses Mal ist also "Somewhere..." an der Reihe und es beginnt mit 'Caught Somewhere In Time' und 'Stranger In A Strange Land' schon einmal standesgemäß. Hatte man 1986 (jaja, so lange ist das schon her!) erst gedacht, dass diese Songs etwas zu ausladend gestaltet seien, so erscheinen sie vor dem Hintergrund der aktuellen Scheiben, "Senjutsu" eingeschlossen, geradezu kompakt auf den Punkt gebracht. Für mich ist das "Somewhere"-Album in der Discographie sowieso das unterbewertetste MAIDEN-Album überhaupt. Das soll an dieser Stelle aber nicht weiter vertieft werden. Nachdem also auch dem "Senjutsu"-Album im weiteren Verlauf die gebührende Spielzeit eingeräumt wird, ertönt aus dem Off der altbekannte Ausruf "We want Information!" Aber selbstredend ist man keine Nummer, sondern ein freier Mensch! 'The Prisoner' wird als Nostalgiebonbon unters MAIDEN-Volk geworfen und schmeckt natürlich allerbestens. Und nachdem auch 'Alexander The Great' endlich zu seiner Aufführung gekommen ist, bleibt noch ein bisschen Spielzeit übrig, um die wirklich unverzichtbaren MAIDEN-Perlen zu zelebrieren. Bruce Dickinson in einen Umhang gehüllt - leider dieses Mal ohne Nachtwächter-Leuchte - fragt die schier endlose Meute, ob sie Angst vor der Dunkelheit habe. Mit Sicherheit nicht! 'Fear Of The Dark' ist vom Stimmungslevel ganz sicher der Höhepunkt der Show, mein Alltime-Lieblingssong 'The Trooper' kommt dann im Zugabenteil dran. Mich freut es auch, dass der Auftritt mit dem für mich als Geheimhit geltenden 'Wasted Years' sein glorreiches Ende findet. Eine tolle Special-MAIDEN-Show, die mit ein paar weniger "Senjutsu"-Liedern noch einen Tacken ergreifender hätte sein können.
[Stefan Karst]
Alter schwedischer Verwalter, war das geil! Nachdem vier umstehende kräftige junge Männer mit vereinter Power mein linkes Bein aus dem Schlamm gezogen haben, wobei dann doch der Fuß aus dem Schuh rausgerutscht ist, stapfe ich schließlich mit dem linken Stiefel in der Hand zwangsläufig humpelnd, leicht dehydriert und körperlich ziemlich erschöpft, aber glücklich durch den Schlamm in Richtung eines Getränkestandes, wo ich mir erst mal eine 5,80 €-Cola reinpfeife. Anschließend begebe ich mich auf die Suche nach einer trockenen Scholle Boden, auf der ich mir im Sitzen den Stiefel wieder über den Fuß pfriemle. Boah, war MAIDEN heute wieder eine Macht!
Danach gibt es nordische Folkmusik von WARDRUNA, die jetzt, ehrlich gesagt, sehr gut als Ambient-Musik zum Wundenlecken nach dem IRON MAIDEN-Gig passt. Für diese Art von Musik bin ich kein Spezialist, weiß aber, dass bei POWERMETAL.de bereits ein ausführlicher Bericht von einem Konzert dieses interessanten Musikprojektes existiert. Die helle, dennoch gedämpfte und an Kerzenlicht orientierte Ausleuchtung der Bühne mit Hilfe von angestrahlten Tüchern schafft jedenfalls ein stimmungsvolles Ambiente, in dem die sieben Musikerinnen und Musiker ihre stets außergewöhnlich instrumentierten und ebenso klingenden Stücke darbieten. Mal lauter, mal leiser, flotter oder beruhigender: WARDRUNA bildet während des Konzerts ein vielfältiges Spektrum nordischer Klänge ab. Ohne wirklich fachmännisch etwas dazu sagen zu können, finde ich persönlich durchaus Gefallen an dem Gig, wenn auch hauptsächlich zum Ausruhen und zur Entspannung. Hierbei handelt es sich ganz sicher um den außergewöhnlichsten Auftritt des diesjährigen Wacken-Open-Airs.
LORD OF THE LOST liefert ein gewaltiges Kontrastprogramm zur historischen Nordmänner-Musik von WARDRUNA. Die glorreichen ESC-Verlierer flitzen zu Beginn des Gigs wie Leistungssportler über die Bühne, vor allem Chris Harms scheint Kilometergeld beantragt zu haben. Leicht verdauliche, flotte, eingängige und angenehm dunkel tönende Mucke wäre jetzt theoretisch genau das Richtige für mich. Theoretisch, denn leider bin ich hundemüde, jede Muskelfaser schmerzt mit den Füßen um die Wette. Die Lust, die Bands zu genießen, steht mit dem Bedürfnis, sich endlich abzulegen in direktem Wettstreit. Daher suche ich eine Lösung des Problems in Bewegung (Was für ein Trugschluss!) und einem durch den vorgenommenen Bühnenwechsel vor die Louder-Stage bedingten musikalischen Stilwechsel. BLOODBATH kann mich überraschenderweise wirklich fesseln. Der Gitarrensound ist ultrafett, der Gesang von Nick Holmes, den ich vor Ort als Unwissender nicht erkannt hatte, ein derb-keifendes, tiefes Growlen und das Tempo ein schnelles, aufputschendes. An den technisch komplexen, abwechslungsreichen Riff- und Songstrukturen habe ich einige Zeit meine Freude, bis das oben genannte Leiden mich einholt. Ich überlege allen Ernstes noch, SOLSTAFIR auf der Headbangers-Stage einen Besuch abzustatten und hadere mit der halsbrecherischen Musik von BLOODBATH im Hintergrund noch mit den drei verschiedenen Ideen, was ich mir jetzt noch anschauen könnte. Leider müssen alle drei Möglichkeiten dem vorrangigen Wunsch weichen, nun mitten in der Nacht endlich so schnell wie möglich in den Schlafsack zu kommen. Und so gehe ich langsam, aber glücklich zu meinem Zelt, selig 'Caught Somewhere In Time' vor mich hin summend.
[Timo Reiser]
- Redakteur:
- Timo Reiser