CRIPPLED BLACK PHOENIX - Ellengaest
Auch im Soundcheck: Soundcheck 10/2020
Mehr über Crippled Black Phoenix
- Genre:
- Atmopsheric Progressive Rock
- ∅-Note:
- 9.50
- Label:
- Season of Mist
- Release:
- 09.10.2020
- House Of Fools
- Lost
- In The Night
- Cry Of Love
- Everything I Say
- (-)
- The Invisible Past
- She's In Parties
Der große schwarze Vogel kreist über einer verlorenen Welt.
Dass wir gerade in einer komischen Zeit leben, muss ich wohl nicht mehr schreiben und es will ja eh keiner mehr lesen. Aber man kann ihr kaum entkommen. Die letzten Wochen hatte ich auch mal wieder Zeit, durch Fernsehen, Magazine oder Internet zu geistern, aber viel Erbauliches gibt es dort nicht. Natürlich ist dort in erster Linie Corona und das Trumpeltierchen präsent, aber man stößt auch auf Videos, die das Elend der Flüchtlinge in Moria dokumentieren, mal liest wie sehr die Erde eigentlich schon am Arsch ist, und es wird immer wieder gezeigt, wie brutal und rücksichtslos Menschen nicht nur mit Tieren, sondern auch mit ihresgleichen umgehen. Selbst nicht allzu zart Besaitete müssen da schon manchmal ganz schön schlucken. Schlimm finde ich insbesondere, wie hilflos man als Einzelmensch demgegenüber steht. Selbst wenn man den Willen hat, etwas zu ändern, etwas zu verbessern, erscheint das, was man selber tun könnte, so nichtig.
Doch was hat dies jetzt alles mit CRIPPLED BLACK PHOENIX zu tun? Nun, ich stelle fest, dass sich viele meiner favorisierten Künstler immer mehr mit oben erwähnten Themen befassen. So stoße ich während des Genusses der mich von der ersten Hörsekunde an einnehmenden Songs von "Ellengaest" auf das Video von 'Lost'. Leute, ich finde das schwer zu ertragen und habe es nicht ganz zu Ende schauen können. Ich werde es auch nicht nochmal versuchen. Den Song dazu spiele ich aber seit Wochen in Dauerrotation. Ach nein, das gilt für das gesamte Album! Doch von vorne:
Mein bewusster Einstieg in CRIPPLED BLACK PHOENIX' Musik fällt mit meinem Einstieg in unser Soundcheck-Team zusammen. Und schon anno 2012 hat sie mich mit "Mankind - A Crafty Ape" voll erwischt. Eine Entdeckungsreise in die Vergangenheit und in die Zukunft der Band begann. Es gab viel Spannendes, mitunter Überraschendes zu entdecken, doch der Affe blieb stets mein Liebling in der Diskografie. Das mag auch daran liegen, dass die Band rund um Justin Greaves nicht wirklich komplett fassbar ist. Das Personenkarussell dreht sich meist recht schnell und es ist immer etwas undurchsichtig, wer gerade zur Band gehört. Und mit Daniel Änghede als (semi-) festem Sänger hat der Vogel über die Zeit ein wenig von meiner Aufmerksamkeit eingebüßt. Doch schon die ersten Töne von "Ellengaest" erobern meine Ohren wieder zurück.
Es geht los mit 'House Of Fools'. Ein einsamer Trompetenton wird durch einen einfallenden Lärmschwarm abrupt unterbrochen, bevor sich ein langsamer Groove einspielt, über den Sängerin Belinda Kordic und Vincent Cavanagh große Melodien zaubern. Ja, richtig gelesen, der ANATHEMA-Sänger mischt diesmal in Greaves' Team mit! Denn Änghede ist nicht mehr mit an Bord und es heißt, Greaves musste für das neue Album nicht nur auf dem Gesangsposten ziemlich improvisieren. Belinda Kordic (auch Justins Lebensgefährtin) übernimmt nun einen größeren Teil der Vocals, und verschiedene Gastsänger drücken den Songs ihren eigenen Stempel auf. Cavanaghs großer Moment ist der hymnische Refrain von 'Lost', einem in allen Bereichen erhabenen Abgesang auf die Menschheit. Ein Song, bei dem der Phoenix wieder einmal seine riesigen Schwingen ausfährt, mit traurigen Augen auf die erbärmliche Welt herunter schaut und ihr damit einen letzten Hauch Schönheit zurück gibt. So sehr ich diesen Song auch feiere, was folgt ist nicht weniger intensiv. Eiskalte Schauer laufen mir bei der einleitenden Spoken Word-Passage zu 'In The Night' über den Rücken, als eine junge Frau von ihren seelischen Verletzungen aus der Kindheit erzählt. Wenn dann GORGOROTHs Gaahl (!) mit seinem dunklen Sprechgesang einsetzt, über dem Greaves stark verhallte Slidegitarre wimmert, ist das ganz große Kunst. Und es hört nicht auf: 'Cry Of Love' ist wohl der Track, den man am wenigsten von CRIPPLED BLACK PHOENIX erwartet hätte. Nämlich ein Hybrid aus Gothic Rock und Post Punk mit tanzbaren Beats und sehr eingängigem Refrain, der an SISTERS OF MERCY erinnert. Im Albenkontext kommt dieser Song zu einem perfekten Zeitpunkt. Was folgt, ist dann Belindas Meisterstück. In bester BETH GIBBONS-Manier leidet sie sich durch 'Everything I Say', eine weiteren dieser prägenden "Endtime Ballads", die auf "Ellengaest" zumindest in meinem Ohr zur Perfektion getrieben werden. Man muss diese Musik laut hören, sie völlig gewähren lassen, und sie wird sich Dir mit ihrer dunklen Macht und gleißenden Pracht zeigen, ihre Schwingen ausbreiten wie ein riesiger schwarzer Vogel, der von innen heraus glüht. Was kann darauf noch folgen?
Klar, man muss einen Kontrast setzen. Es folgt 'The Invisible Past', mit mehr als elf Minuten das längste Stück auf "Ellengaest". Mit seinen transzendent wirkenden, flächigen Passagen und beinahe hoffnungsvollen Melodien setzt er einen gekonnten Kontrapunkt zum bisher Gehörten. Allerdings ist er auch der einzige Track, bei dem ich tatsächlich kleine Längen ausmache. Jonathan Hulten (TRIBULATION) singt hier übrigens, aber leider gelingt es ihm als einzigem Gast nicht so ganz, "seinem" Song die Krone aufzusetzen.
Den Schlussakkord setzt dann noch einmal die großartige Belinda in einer Coverversion des BAUHAUS-Songs 'She's In Parties'. Dies ist für mich ein wunderbarer Schlusspunkt für "Ellengaest", passt er doch hervorragend zur allgemeinen Ausrichtung der Scheibe: Gotischer, hymnischer, weiblicher und für mich magischer als je zuvor. 2020 wird für mich zum Jahr des Phoenix.
- Note:
- 9.50
- Redakteur:
- Thomas Becker