DREAM THEATER - Black Clouds & Silver Linings
Mehr über Dream Theater
- Genre:
- Progressive Metal
- ∅-Note:
- 9.00
- Label:
- Roadrunner/Warner
- Release:
- 19.06.2009
- A Nightmare To Remember
- A Rite Of Passage
- Wither
- The Shattered Fortress
- The Best Of Times
- The Count Of Tuscany
Sich selbst immer wieder neu erfinden – DREAM THEATER schaffen es, und nebenbei immer phantastische Scheiben.
Für viele ist DREAM THEATER keine Band, sondern eine Institution. Kritik ist nicht erwünscht. Das ist in Anbetracht der Diskographie auch durchaus verständlich, wenn man sich vor Augen führt, dass selbst vermeintlich "schlechte" Alben wie "Falling To Infinity" oder "Train Of Thoughts" für die meisten anderen Prog-Bands den Höhepunkt ihres Schaffens darstellen würden. Wer für solche Alben Prügel einstecken muss, dürfte einfach über dem ständigen Gemaule nach einem zweiten "Images And Words" stehen. Sollte man meinen. Doch gerade die DREAM THEATER-Masterminds fachen dieses Feuer durch ihr Gerede von der Rückkehr zu den Wurzeln immer wieder an. Und da kommt die zweite Fraktion ins Spiel, die genau das Gegenteil der DREAM THEATER-Vergötterer darstellt. Hier tummeln sich diejenigen, für die DREAM THEATER sowieso nichts mehr recht machen können, Junkies nach dem Gefühl ihres ersten "Images And Words"-Hörens. So war im Internet bereits viel Kritik von "Insidern" zu lesen, die Meinungen machen wollen, bevor das Album selbst auf dem Markt ist.
Dazwischen ich, der ich keine Rückkehr wünsche, da so etwas nie funktioniert. Ich will ein Album, mit dem die Band zufrieden ist und das sie jetzt und hier abbildet, mit dem ich mich mit der Band mitentwicklen kann, das mich überraschen darf und soll, das aber auch nicht über der Kritik steht. Geht man so an ein neues DREAM THEATER-Album heran, und nicht immer mit 'Space Dye West' oder 'Learning To Live' im Hinterkopf, kann man die Musik viel mehr genießen.
So funktioniert auch "Black Clouds & Silver Linings" ausgezeichnet. Habe ich für den Vorgänger "Systematic Chaos" lange gebraucht, um mit dem plötzlichen schwermetallischen Stil zurecht zu kommen, scheint das die richtige Vorbereitung gewesen zu sein, um jetzt das neue Werk mit großen Augen empfangen zu können. Denn die neugewonnene Härte wurde nicht abgelegt, sondern kanalisiert und mit alten Zitaten zu einem neuen Werk verflochten, das im ersten Moment äußerst unzugänglich wirkt. Besser als auf "Systematic Chaos" gefällt mir der Gesang von James LaBrie, der weicher und melodischer zu Werke geht, dafür aber sogar ein paar Growls einbaut. Warum soll DREAM THEATER auch nicht moderne Elemente einbauen, vor allem wenn es so hervorragend klingt. Auch wenn die Traditionalisten schreien.
Unzugänglich wirkt aber auch "Black Clouds & Silver Linings", vor allem wegen der Songlängen, da nur zwei der sechs Titel unter zehn Minuten bleiben. Mit diesem Album muss man sich beschäftigen, um in das Universum der Ausnahmemusiker einzutauchen. Aber dann wächst die Scheibe mit jedem Durchlauf, zieht an "Systematic Chaos" auf der Überholspur vorbei und drängelt "Octavarium". Es gibt tatsächlich keinen schwachen Song auf dem Album.
'A Nightmare to Remember': Zum Anfang ein ziemliches Brett, das nach einem "Hundewetter-Intro" gut nach vorne geht. James singt rau wie auf "Systematic Chaos", aber der erste melodischere Teil erinnert an "Scenes From A Memory" – mit Double-Bass-Drumming! Abgefahren. Überhaupt, Portnoy haut hier ganz schön auf die Felle, die gesamte Band gibt sich zeitweise redlich Mühe, Progressive Thrash zu machen, Petrucci hat wohl Gefallen an modernen Sounds gefunden. Dafür schwelgt 'A Nightmare to Remember' dann im Kontrast unverzerrter Gitarren und ruhiger Sounds mit einem schönen Teil, bei dem James seine melodische Stärke voll ausleben kann. Alle Härte ist fort, es dominiert das Herz, bevor der Mittelteil in einen frickeligen Gitarren- und Keyboardsolopart kulminiert, der Fusion-Qualitäten aufweist. Was singt LaBrie da? "Beautiful Agony"? Absolut! Speziell die hardcorigen Shouts zu Beginn des letzten Drittels werden einigen Fans eher als Letzteres aufstoßen, stzen aber einen hervorragenden Kontrapunkt zu Keyboardteppich und einfühlsamen Gesang. Die Rückkehr zu neuer Härte dürfte nicht überraschend kommen und endet den Spannungsbogen sehr passend in Wiederholungen der Anfangsteile und, soweit ich mich erinnere, den ersten Blastbeats in der Bandgeschichte. Dieser Song muss wachsen, da er die wildesten und untypischsten Passagen des ganzen Albums enthält. Als Opener ist er möglicherweise nicht ganz glücklich platziert. Allerdings, das kann ich vorweg nehmen, allzu viele andere Anwärter für diesen Platz gibt es nicht. Außer vielleicht 'A Rite Of Passage'.
'A Rite Of Passage': Als Radio-Single ist dies ein typisches, melodisches DREAM THEATER-Stück. Der Chor ist eingäng und umschmeichelt das Ohr, ohne dass der Song an Wucht verlieren würde. Ein starkes Stück, das schon beim ersten Hören gefällt und damit im Kontrast zum restlichen Material steht. Tatsächlich hätte dieser Song bestimmt einen guten Opener gegeben. Aber das wäre wohl berechenbar gewesen. Und das waren DREAM THEATER noch nie.
'Whither': Baladesk in der Tradition von 'The Silent Man', 'Hollow Years' und ähnlichen ruhigeren Songs der Band. Mit etwas über fünf Minuten ein echter Quickie, aber auch ein absoluter Ohrwurm. Sollte man mal das Mainstream-Radio knacken wollen, könnte das eine zweite Single werden. Sehr schön.
'The Scattered Fortress': Heftig, hier wird das Vorgängeralbum weitergeführt. Der Kontrast aus Melodie und heftigem Riffing hat sich bei der Band etabliert, macht aber immer noch eine gute Figur. Auch die "bösen" Vocals aus dem Opener kehren zurück. Eindeutig der härteste Track auf dem Album, das hätte ich nach 'A Nightmare to Remember' nicht erwartet. Im hinteren Teil nehmen die vier Herren allerdings die Härte deutlich zurück zugunsten weiterer ausufernder Soloparts, vor allem Petrucci darf hier brillieren. Dies tut er aber mehr nach der "viele Noten"-Methode denn mit Gefühl. Für Gitarren-Freaks ein Fest, sonst hart an der Grenze zum Selbstzweck.
'The Best of Times': Nach langem, ruhigen Beginn erklingt ein Riff – hey, das klingt anfangs stark nach RUSHs 'Spirit Of Radio', auch vom Arrangement her, doch danach mündet es in einen relativ seichten, hundertprozentig typischen DREAM THEATER-Teil. Hier wurde tatsächlich alle neue Härte abgelegt und der Bandsound aus der Zeit vor Jordan Rudess reaktiviert. Das ist schon fast poppig im Kontrast zu den anderen Songs, der Song wird sicher eine neue Bandhymne. Du willst DREAM THEATER wie früher? Bitteschön. Für mich ein toller Song, aber eben wegen seiner Retrolastigkeit nicht der stärkste Track.
'The Count of Tuscany': Der längste Song des Albums, deswegen auch der beste? Oft sind gerade bei Progbands die Longtracks das Herz eines Albums. Nun ist dieser aber nur wenig länger als der Eröffnungssong, DREAM THEATER haben sich wohl gegen eine Neuauflage des "Epic Track-Syndroms" à la 'Six Degrees Of Inner Turbulence' entschieden. Mit tollen Harmonien und einem Petrucci-Rudess Solo-Teil fängt der Song ebenfalls klassisch an, erst nach einigen Minuten kommen modernere Sounds in den frühen DREAM THEATER-Stil. Dann ertappt man sich, an SYMPHONY X erinnert zu sein, aber im Herzen ist es doch typisch für die Jungs. Man muss schon sagen, anfangs fast zu typisch. Die Eruptionen, die es früher nicht gab, wirken aber nicht als Fremdkörper, sondern erfrischend. Dies ist wie man so schön sagt "the best of both worlds", alt und neu in Synergie. Also doch das Herzstück des Albums. Im hinteren Teil wird das Stück dann geradezu atmosphärisch und geht sogar zurück bis in die siebziger Jahre, die Gründungszeit des ausufernden Prog Rock. Am Ende spielt Rudess seinen besten Teil, eine einschmeichelnde Melodie, episch und mitreißend.
Insgesamt empfinde ich nur Jordan Rudess' Keyboardspiel als irgendwie uninspiriert und dudelig, sonst gibt es an diesem Album nichts auszusetzen. Im Gegenteil, LaBrie singt besser als auf "Systematic Chaos", wo die gezwungene Härte einigen Songs emotionale Durchschlagskraft raubte. Mit den letzten beiden Songs haben DREAM THEATER sogar das stärkste Material für die Frühfans seit mindestens "Scenes From A Memory" am Start. Doch auch dem neuen Sound wird in 'A Nightmare to Remember’ und 'The Scattered Fortress' gefrönt, so dass der Brückenschlag von neu zu alt gelungen ist und sogar in Form der Anordnung der Titel auf dem Album quasi eine schrittweise Rückkehr darstellt. Das wird sicher viele freuen, während mir nur ein Fazit zu ziehen bleibt: Ein tolles Album, bei dem sich die Band nicht kopiert, aber dennoch teilweise zum alten Sound zurückkehrt. Es bleibt also alles beim Alten: Für mich ist jedes DREAM THEATER-Album ein Meisterwerk auf seine eigene Art – dieses auch.
- Note:
- 9.00
- Redakteur:
- Frank Jaeger