ENEMY I - Dysphoria
Mehr über Enemy I
- Genre:
- Industrial / Gothic / Modern Metal
- ∅-Note:
- 6.00
- Label:
- Carrycoal
- Release:
- 26.05.2017
- Don't Trust
- Twinsight
- The Cage
- S.A.R.B.
- Placebo God
- Miss Sex
- Without Undue Delay
- A Battlefield
- Some Exist
- Heartbeat Decline
- Our Demise
- Final Cut
- Spell-Cast
Viel experimentiert, viel riskiert.
Mangelnden Fleiß oder fehlende Kreativität kann man den Herren von ENEMY I definitiv nicht vorwerfen. Auf ihrem Debütalbum "Dysphoria" fahren die Berliner ein ziemlich turbulentes Potpourri an Einflüssen auf und setzen sich bewusst keinerlei Grenzen. Schrille Industrial-Sounds, thrashige Gitarrenriffs, sowie ein düster-depressives Dark-Metal-Klanggewand charakterisieren die dreizehn Songs und fordern die Hörerschaft heraus.
Um mit "Dysphoria" warm zu werden, braucht es also Aufgeschlossenheit gegenüber musikalischer Grenzüberschreitungen – und Geduld, denn der ENEMY I-Erstling läuft locker über die Ein-Stunden-Marke. Geduld verlangt aber auch die ziemlich ziellose Vorgehensweise der Hauptstädter, denn einen stringenten roten Faden sucht man auf „Dysphoria“ vergeblich. Mit 'Don't Trust' wird das Album groovig-thrashig eröffnet, der sehr variable Rob DeVille am Mic lässt den lässigen Hardrocker raushängen, und nach dieser forschen Eröffnung wähnt man sich zunächst in modern-rockigen Gefilden – noch keine Spur vom dunklen FEAR FACTORY-Industrial, der mit dem folgenden 'Twinsight' Einzug hält. Beides vertrüge sich ja durchaus auf ein und demselben Langspieler, doch bei 'The Cage' wird es plötzlich so gothisch-gefühlvoll wie bei PARADISE LOST oder HIM. Besonders DeVille wird hier zum Bindeglied, weil er allen genannten Spielarten eine überzeugende Vokalperformance verleihen kann.
Doch ENEMY I verliert sich im Weiteren noch stärker in Experimenten, die dem Album als Ganzes nicht mehr wirklich dienen können. Das seltsame Interlude 'S.A.R.B.', scheinbar rückwärts abgespielt, das ziemlich bemüht bösartige 'Miss Sex', das etwas lasch herunter gezockte 'Without Undue Delay', und schließlich die beiden überlangen Gothic-Grusel-Nummern 'A Battlefield' und 'Some Exist' – es passiert jede Menge auf "Dysphoria", aber selten etwas wirklich Schlüssiges. Die einzelnen Versatzstücke sind solide bis ordentlich, Einzelmomente auch richtig stark (wie der großartige Refrain des leider zu langen 'Some Exist'), aber in der Summe kristallisiert sich kein stimmiges Gesamtbild heraus. So empfinde ich die Zeit mit den dreizehn Song mehr als Arbeit denn als Genuss. Nach 'Some Exist' könnte gefühlsmäßig Schluss sein, doch es folgen noch vier weitere Stücke, welche die vorangegangenen Aspekte aufgreifen, aber auch nicht mehr vollständig zusammen führen können. Und verzweifelte weibliche Spoken Words wie beim soliden Industrial-Stampfer 'Heartbeat Decline' oder die Live-Footage-Nachrichtenreporte bei der epischen Dark-Metal-Hymne 'Final Cut' als Stilelemente hat man schon viel zu oft andernorts gehört.
So sehr ich Experimentierfreude und Unkonventionalität in Sachen Musik begrüße, so sehr fehlt mir auf "Dysphoria" der stringente Ansatz, der zusammenfassende Rahmen für die dreizehn Nummern. Was zur Folge hat, dass das Album trotz seines enormen Abwechslungsreichtums kaum bei mir hängen bleibt und mir keinen dauerhaften Anreiz bietet, wieder aufgelegt zu werden. In jedem einzelnen Bereich wird bei ENEMY I ordentlich gearbeitet, und Fans von KATATONIA, PARADISE LOST oder FEAR FACTORY könnten durchaus etwas für sich auf diesem Langspieler entdecken – vorausgesetzt, die scheinbar willkürliche Grenzenlosigkeit der Berliner bereitet ihnen weniger Schwierigkeiten als mir.
Anspieltipps: Don’t Trust, Placebo God, Some Exist
- Note:
- 6.00
- Redakteur:
- Timon Krause