ENSLAVED - Vertebrae
Mehr über Enslaved
- Genre:
- Progressive Black Metal / Progressive Viking Metal
- ∅-Note:
- 9.50
- Label:
- Indie Recordings / Soulfood
- Release:
- 26.09.2008
- Clouds
- To The Coast
- Ground
- Vertebrae
- New Dawn
- Reflection
- Center
- The Watcher
Zwei Jahre haben die Norweger ENSLAVED gebraucht, um den Nachfolger des mehrfach prämierten Albums "Ruun" zu vollenden. Als Titel hat man den lateinischen Begriff "Vertebrae" gewählt, der in der Medizin "Wirbel" bedeutet. "Vertebrae" ist mehr als nur diese Bezeichnung, "Vertebrae" ist das Bindeglied in der Musik ENSLAVEDs, es stellt mehr oder weniger das Rückgrat der neuren Entwicklung der Norweger dar. Bevor ich aber mit der Rezension dieser vielschichtigen Scheibe fortfahre, möchte ich an dieser Stelle anmerken, dass "Vertebrae" wohl zu jener Sorte CD gehört, bei der sich die Rezensenten gegenseitige die Augen auskratzen könnten, weil jeder etwas anderes dabei zu hören meint. Ich denke, dass bei solch einer komplexen und großen Scheibe einfach noch wesentlich mehr Subjektivität in der Beurteilung eine Rolle spielt, als sie es in der Schreiberzunft sowieso schon tut, da die Musik ständig weiter wächst.
Der ein oder andere wird es sich bei diesen Worten schon gedacht haben: Ja, ENSLAVED vollziehen die Entwicklung, die sie auf "Isa" und "Ruun" begonnen haben, konsequent weiter. "Vertebrae" ist reifer und erwachsener, es ist durchdachter und epischer, es ist entspannter und beruhigender - und es ist wärmer als alle vorhergegangenen Veröffentlichungen der Mannen um Sänger Grutle Kjellson. Wie bereits angedeutet, wildern ENSLAVED weiter fröhlich in den progressiven Gewässern, in denen sie bereits auf "Ruun" gefischt haben. Insgesamt ist in "Vertebrae" die Prog-Komponente allerdings noch mal einen Zacken höher als noch auf dem Vorgänger, die schwarzmetallischen Wurzeln in Grutles Gesang zwar immer noch vorhanden, aber auch dieser schraubt sich zugunsten der Gesamtkomposition um einiges zurück. So sind die Gesangsanteile zwischen den klaren Vocals von Keyboarder Herbrand Larsen und Grutles fauchender Stimme inzwischen etwa ausgeglichen. Ebenso verzichten ENSLAVED zu größten Teilen auf Blasts, obwohl das Riffing in vielen der Songs von der Grundstruktur Black-Metal-Wurzeln zumindest erahnen lässt. Fakt ist dennoch, dass jemand, der ohne Vorwissen an "Vertebrae" herantritt, die Scheibe durchaus in die Prog-Ecke schieben könnte, ohne an Black Metal überhaupt zu denken.
Die Melodien auf "Vertebrae" sind vornehmlich melancholisch und weisen immer wieder psychedelischen Charakter auf. ENSLAVED schrecken auch vor gewissen Experimenten nicht zurück, so erinnert mich ein Zwischenstück im etwas flotteren Titel 'To The Coast' fast an Lounge-Musik. Beim Mixing haben sich die Norweger Mühe gegeben, keines der Instrumente oder keine der beiden Stimmen zu sehr in den Vordergrund treten zu lassen, alle Anteile an der Musik wirken auf den Hörer gleichwertig. Grutles Gesang ist zudem die meiste Zeit mit leichtem Echo unterlegt, was seiner Stimme nochmals einen Teil der Aggressivität nimmt. Interessant ist dabei, dass sich ENSLAVED trotz aller Experimentierfreudigkeit und Progressivität kaum in technischen Spielereien verlieren, "Vertebrae" bleibt alles in allem bodenständig und direkt. Trotzdem die Scheibe definitiv eines dieser Alben, das mit der Zeit immer weiter wächst, dessen Vorzüge mit jedem Durchlauf hörbarer werden, ähnlich als würde man ein Gemälde auf einem Dia langsam hereinfaden lassen und je schärfer es wird, immer mehr Details erkennen können.
Einzelne Songs wirklich vor den anderen hervorzuheben, fällt mir relativ schwer, "Vertebrae" sollte meiner Meinung nach als Einheit gesehen werden. Natürlich wird es so sein, dass jeder seine eigenen Vorzüge haben wird, aber insgesamt sind die Titel allesamt gelungen und gehören, so wie es der Albumtitel schon impliziert, wie ein Wirbel zum anderen, in exakt dieser Reihenfolge. Meine persönlichen Favoriten sind dabei der Titeltrack, das etwas rockigere und flottere 'Reflection' und der großartige und episch wie melancholische Rauswerfer 'The Watcher', der in dieser Form auf der Titelliste von "Ruun" hätte stehen können . Diese Auflistung sollte aber wie gesagt mit Vorsicht genossen werden - ich bin mir sicher, es gibt einen Haufen Leute, die andere Songs stärker finden.
"Vertebrae" ist eine große Scheibe geworden, eine erwachsene und reife Version der Musik, die ENSLAVED in den letzten fünf Jahren zelebrieren. Fans der frühen Werke der Norweger werden sich mit dem neuesten Output noch schwerer tun, als sie es sich vielleicht schon mit "Ruun" getan haben, ohne Frage. Wem die progressive Entwicklung auf "Isa" und "Ruun" aber noch nicht weit genug gegangen ist, oder wer wunderbare, entspannende, melancholische und komplexe Musik, die weit entfernt irgendwie noch progressiver Black Metal ist, hören möchte, der ist hier goldrichtig. Ich für meinen Teil finde, ENSLAVED gehen auf "Vertebrae" fast einen Schritt zu weit, "Ruun" war für mich der Höhepunkt der Abstraktion. Trotzdem ist "Vertebrae" ein großartiges Album, auch wenn ich insgeheim hoffe (ja, steinigt mich), die nächste Veröffentlichung wird wieder einen wenig mehr in Richtung "Isa" und "Below The Lights" gehen. In meinen Augen ist "Vertebrae" definitiv das erwachsenste und reifste Album der Norweger, wenn auch nicht das Beste. Dies ist aber nur mein eigener Geschmack ich denke, viele Menschen werden "Vertebrae" als den besten Output sehen, den ENSLAVED je kreiert haben. Gemessen an der musikalischen Größe auch mit Recht.
Anspieltipps: Eigentlich sollte man "Vertebrae" nicht aus dem Gesamteindruck reißen. Wer trotzdem ein paar Songs genannt haben möchte: Clouds, Vertebrae, Reflection, The Watcher
- Note:
- 9.50
- Redakteur:
- Hagen Kempf