GAZPACHO - Night
Mehr über Gazpacho
- Genre:
- Prog/Ambient
- Label:
- Intact Records
- Dreams Of Stone
- Chequered Light Buildings
- Upside Down
- Valerie's Friend
- Massive Illusion
GAZPACHO ist der Name einer spanischen Suppe auf Tomatenbasis, die in der Regel kalt gegessen wird. Macht als Bandname keinen Sinn? Eben. Deshalb verwundert es nicht, dass MARILLION - deren Name mit Sicherheit noch einige Male im Verlauf dieses Textes fallen wird - einen Song namens 'Gazpacho' auf ihrem "Afraid Of Sunlight"-Album veröffentlicht haben. Den würde ich eher als Einfluss auf die Namensgebung der sechs Norweger ansehen als das Gericht.
"Night" ist das mittlerweile vierte reguläre Studioalbum GAZPACHOs, hinzu kommt noch ein Demo mit sieben Songs, die später neu aufgenommen wurden. An sich war es bisher recht schwer, von den Jungs überhaupt etwas zu hören. Ein Label hatten sie weder zu Zeiten des Debüts "Bravo" (2003), noch ein Jahr später beim Nachfolger "When Earth Lets Go". Die Norweger machten sich über mp3.com einen Namen im Netz und nutzten die moderne Technik auch bei Aufnahmen aus: So entstand das traumhaft schöne 'Novgorod' in Zusammenarbeit mit einer Sängerin und einem Produzenten aus Neuseeland, wobei sich die Künstler bis heute noch nicht getroffen haben - das Netz macht's möglich.
Das größte Event für die filigrane Band war sicherlich die "Marbles"-Tour im Support-Slot für niemand geringeres als MARILLION. Und hier komme auch endlich ich ins Spiel: Nachdem ich den Briten leider nicht livehaftig beiwohnen konnte, werde ich nach dem Gig von einer Freundin mit Platten überfallen, eben jenen von GAZPACHO. Sie fuchtelt mit "Bravo" und "Whean Earth Lets Go" rum, berichtet aufgeregt von einem einmaligen Konzerterlebnis und legt mir die Mucke dermaßen ans Herz, dass ich mich sofort mit ihr beschäftigen muss. Und was soll ich sagen? Alleine ein "Bravo"-Durchlauf reichte, um das komplette Gefühlsspektrum abzudecken. Der astrale, verträumte, so unheimlich zerbrechliche und dennoch markante Gesang von Jan Henrik, Geschichten aus dem Leben erzählend, fesselt von der ersten Sekunde an. Dazu noch eine Vielseitigkeit, die ich so bei kaum einer anderen Band kennengelernt habe: Strand-Hymnen, Kuschelmucke, Nachdenkliches, Trauriges, Poppiges, Rockendes, folkig angehauchte Hymnen - man wusste nie, was einen als nächstes erwarten würde. Ganz großes Kino.
Diese Richtung behielten die Norweger mit dem Nachfolger "When Earth Lets Go" teils bei, teilweise wurden die Kompositionen aber ein bisschen kopflastiger, zumindest äußerlich. Melancholischer, aber nicht zwingend ruhiger. Und für einen dicken Sonnenstrahl inmitten der Traurigkeit sind GAZPACHO immer gut.
Beim Drittwerk "Firebird" (2005) hatte die Band dann endlich ein kleines Label im Hintergrund, abgesehen davon konnte auch Steve Rothery von - natürlich - MARILLION für einen Gastauftritt verpflichtet werden. Auch der Feuervogel strickt die musikalische Bandgeschichte weiter, GAZPACHO werden ausladender, progressiver, fahren einen Breitwandsound aus etlichen Instrumenten auf, wirken aber dennoch klein, zerbrechlich und so unglaublich filigran, von Überfrachtung keine Spur.
Jetzt, zwei Jahre später, hat die Formation ihr absolutes Meisterwerk abgeliefert. "Night" ist ein Konzeptalbum über, nun ja, die Nacht, Träume und Realität, über eine gedankliche Welt, die ebenso zart, zerbrechlich und sphärisch scheint, wie es die Musik von GAZPACHO ist. Fünf Songs, fast eine Stunde Musik.
Der Einstieg ist nicht unbedingt leicht, immerhin bringt es 'Dreams Of Stone' auf genau siebzehn Minuten. Doch die sind schneller rum, als es mir am Ende lieb ist. Fast schon monoton wirkt der Song, unablässig vom leicht treibenden Schlagzeug aus pushend, aber nie überstürzt. Dann erklimmt man als Hörer emotionale Berggipfel, die Musik zieht an, der Gesang wird eindringlicher. Erinnert, ohne zu stark angelehnt zu sein, an die beiden Übersongs von MARILLIONs "Marbles", namentlich 'The Invisible Man' sowie 'Ocean Cloud'. Doch nur dies wäre zu wenig Diversität, zu wenig emotionale Achterbahnfahrt. Und so finden sich in den letzten fünf Minuten nicht nur eindringliche Slide-Gitarren (Erinnerungen an DREDG werden wach), sondern auch die GAZPACHO-eigene Violine, die so traurig, so flehend, so erzählerisch und lautmalerisch klingt wie nie zuvor. Ganz ruhig, fast nur von Klavier begleitet, erinnert das ein wenig an französische Chansons aus den 1930ern.
Auch 'Chequered Light Buildings' setzt auf eine sehr ruhige Note, zu deren Vergleich MARILLION fast schon metallisch drauflos lärmen. Nach der Hälfte des Stücks explodieren auch hier die Sinne, ausdrucksstarkes Drumming paart sich mit der allgegenwärtigen und hier doch im Hintergrund agierenden Violine, es wird Dramatik aufgebaut, von der man sich wünscht, dass sie niemals enden möge. Sänger Jan thront indes wie ein ganzer Chor über der Komposition, schmeichelt und trauert zugleich.
'Upside Down' bringt es auf fast zehn Minuten, beginnt mit laid-back-beats und einer entspannten Klavierbegleitung, bevor die Gitarren angenehm im Hintergrund schnurren und der Bass die vordergründigste Rolle übernimmt. Natürlich neben dem Gesang, der auch hier jede Sekunde zu einem Moment für die Ewigkeit veredelt. Schon wenn die erste Bridge einsetzt, möchte man genießerisch die Augen schließen und einfach nur die Musik inhalieren. Auch hier schimmern wieder neuere MARILLION durch, aber eher bei der Gitarrenfraktion, weniger im Gesamtkontext des Songs - und auch wenn Jans Gesang manchmal nach Steve Hogarth klingt, so hat er doch noch viel mehr und ganz andere Klangfarben zu bieten. Und wenn am Ende des Songs Violine und Tin Whistle einen traurig-schönen Reigen tanzen, geht man ohnehin komplett in der Musik auf. Herrlich.
Mehr als die Hälfte der Platte ist um, und plötzlich glaube ich, THE MARS VOLTA im Player zu haben. 'Valerie's Friend' hätte auch einer der ruhigeren, nicht so abgedrehten Songs aus deren Feder sein können. Erstaunlich. Gerade beim Refrain fühle ich mich sehr an "Frances The Mute" erinnert. Wunderbar, wie in diesem mächtigen Moment der monumentale Gesang von fast hektischen Drum-Rolls konterkariert wird, fast schon lustig, wie mühelos die Band dort ein schräges Break einbaut, das dennoch wunderbar in den Kontext passt.
Das grande finale nennt sich 'Massive Illusion' und ist wohl der vielseitigste Track auf "Night", was schon was heißen will. Wenn die latent irisch klingende Melodie zu Beginn dann in einen souligen Gospel-Song umschlägt, und GAZPACHO zu Handclaps im Hintergrund ihre Geschichte vom Träumen und von Träumen erzählen, kann man schonmal ins Stutzen kommen. Aber wenn dann das dort ebenfalls literweise mitfließende Herzblut in den Ohren ankommt, hat man auch diese stilistischen Ausflüge lieb gewonnen, weil sie einfach passen. Im weiteren Verlauf wird die Illusion noch zu einer weiteren Verneigung vor MARILLION, bevor Violine und Klavier - dieses Mal gänzlich intim unter sich - das Geschehen elegisch-ergreifend ausklingen lassen dürfen. Jetzt am besten Stille. Augen öffnen, reiben, Lächeln aufsetzen.
Hier kann - und wird - sich jeder heimisch, glücklich und ziemlich bald abhängig fühlen, der Combos wie MUSE, MARILLION, CHROMA KEY, RADIOHEAD, PORCUPINE TREE, SIGUR ROS oder PINK FLOYD liebt. Versprochen. Interessierte schauen am besten gleich mal auf der Homepage vorbei, oder aber bei MySpace. Hörproben gibt es mehr als genug, und die Alben direkt zum Bleifisch auch bei iTunes zum Laden, falls der Dealer vor Ort nicht damit dienen kann.
Für mich persönlich nicht nur eine der aufregendsten und vielseitigsten Bands, die ich über die letzten Jahre kennengelernt habe, sondern auch eine dieser Truppen, bei der man die Liebe zur Musik in jeder Note heraushören kann. Schlichtweg ergreifend.
Anspieltipps: An sich natürlich ein Gesamtwerk, aber zu Beginn sollten Neugierige mal in 'Upside Down' sowie 'Valerie's Friend' hineinlauschen. Der Rest ergibt sich von selbst.
- Redakteur:
- Rouven Dorn