HIRSCH EFFEKT, THE - Holon : Agnosie
Auch im Soundcheck: Soundcheck 04/2015
Mehr über Hirsch Effekt, The
- Genre:
- Artcore / Mathcore / Avantgarde / Progressive Metal
- ∅-Note:
- 9.50
- Label:
- Long Branch Records / SPV
- Release:
- 24.04.2015
- Simurgh
- Jayus
- Agnosie
- [Chelicera]
- Bezoar
- Tombeau
- Emphysema
- [Defeatist]
- Fixum
- Athesie
- [Tischje]
- Dysgeusie
- Cotard
Die Zumutung des Jahres!
Enttäuschend schlicht. Ja geradezu banal – die ersten Klänge eines Albums, das wahrscheinlich die großartigste Zumutung des Jahres darstellt. Wer noch nie von der höchst eigensinnigen Artcore-Formation THE HIRSCH EFFEKT gehört haben sollte, wer nicht über das abstoßend groteske Cover des neuen Langspielers der Hirsche gestolpert ist, wer nicht mitbekommen hat, dass der Vorgänger "Holon : Anamnesis" vom Visions-Magazin unter die 20 besten Alben aller Zeiten gewählt wurde, kann unmöglich darauf vorbereitet sein, was ihn oder sie auf "Holon : Agnosie" erwartet. Kaum nachvollziehbares, metallisches Chaos trifft auf vermeintlich triviale popmusikalische Klänge, klassische Einsprengsel, jazzige Improvisationsschemata. Das Trio aus Hannover schreitet nicht nur über Grenzen hinweg, es ignoriert sie einfach vollständig und schafft sich so eine eigene musikalische Welt. Das auf Platte gebannte Ergebnis fällt anno 2015 härter aus als auf dem Vorgänger – und vermag nach einer nicht unerheblichen Anzahl an anstrengenden Hördurchläufen beinahe ebenso grenzenlose Euphorie zu entfachen.
Unverzerrte Gitarrenakkorde und eine schlichte Trompetenmelodie stehen am Anfang, so unbefangen, so dämlich, als müsste erst ein naiver Gegenpol zum abstrakten Chaos aufgebaut werden, das – selbstverständlich – nicht lange auf sich warten lässt. Höre ich richtig? "Die faulige Stelle an meinem Mund ist fast weg, nicht wahr...". Als der Opener 'Simurgh' beginnt, an Intensität zuzunehmen, wächst das Unbehagen des Hörers parallel zu seiner Neugier. Agnosie bedeutet Unwissenheit und Seelenblindheit, und tatsächlich ist 'Simurgh' nur der äußerste, fast unmerkliche Ausläufer eines Strudels, der uns Ahnungslose unwiderstehlich in einen Sog aus nackter Angst, Irrsinn, Resignation und verklärter Läuterung hineinreißt.
'Simurgh' ist gerade auf einem merkwürdigen Klimax verklungen, da stolpert 'Jayus' ins Bild. Einige dumpfe holpernde Schläge mit der Bassdrum – und dann bricht er los, ein wilder Tumult aus vertrackten Rhythmen, kakophonen Gitarrenläufen, und tiefem, bösartigem Gebrüll. Mit einem Schlag scheint der Schleier an Oberflächlichkeiten zerrissen, hinter dem die menschliche Seelenqual bislang verborgen lag. Musik ist stets Selbstoffenbarung der beteiligten Künstler, mal mehr, mal weniger glaubwürdig – doch wenn Nils Wittrock bei 'Jayus' wie von Sinnen zu schreien beginnt und mit seinen Bandkollegen ein rasendes Mathcore-Gemetzel veranstaltet, steht außer Frage, dass hier fern von avantgardistischem Hipstergehabe ein Musiker sein Seelenleben komplett an die Oberfläche kehrt. Mit dieser ersten Gewalttat scheint der Grundtenor für das Album vorgegeben. Wer die Hirsche kennt, weiß, dass sich die Band allerdings nicht allein an THE DILLINGER ESCAPE PLANschem Wahnsinn abarbeitet. Der Titeltrack 'Agnosie' beginnt zwar ebenfalls mit völlig durchgedrehter Hardcore-Raserei, doch erstmals wird hier im weiteren Verlauf mittels eines eingängigen Refrains auch ein melodischer Gegenpol zum entfesselten Chaos aufgestellt. Auch die Klassik hält bei 'Agnosie' schließlich wieder Einzug. Es gilt sich hier einzuarbeiten, in den labyrinthartigen Strukturen einen Weg zu finden.
Dabei bewegen sich die Hirsche immer wieder in den Grenzregionen zwischen faszinierender Kunst und offenkundiger Zumutung. Auf 'Agnosie' folgt ein halbminütiges, lärmendes Interlude, als Startrampe für 'Bezoar', das so konfus beginnt, als hätten sich die drei Musiker im Vollrausch an ihren Instrumenten vergangen. Für unsere Landsleute sind Chaos und Kakophonie selbstverständlich nur Mittel zum Zweck - nur wenige andere Bands spielen so ausdauernd und zugleich so gekonnt mit den Nerven ihrer Zuhörer. Eine Mischung aus speed- und postmetallischem Inferno wird entfacht, der folgende erste, nun, "Vers", könnte wiederum einer skandinavischen Black-Metal-Metzelei entstammen. Dann wird der Schlachtenlärm und das höllisches Durcheinander verlassen und von einer kindischen "Babbadabbadap"-Gesangseinlage abgelöst. Ratlosigkeit beim Hörer. Die augenzwinkernden Reflexionen über "den Mensch", begleitet von Latino-Gitarrenklängen, schießen endgültig Vogel ab. Ist das ernst gemeint? Ja, das ist es – denn das Tohuwabohu erfährt eine logische Zusammenführung, die Entgrenzung von Metal und Pop in ihren ursprünglichen Formen. Um diese zu erleben, sind allerdings mehr als nur ein, zwei oberflächliche Hördurchgänge vonnöten; ich selbst hätte 'Bezoar' zunächst schon fast als überambitionierten künstlerischen Fehltritt abgetan. Der Bogen wurde eindeutig überspannt – allerdings ganz bewusst und an dieser Stelle auch sehr gewollt platziert.
Zur Albummitte folgen mit 'Tombeau' und 'Emphysema' nämlich zwei Nummern, die in eine völlig andere, den Fans wohlbekannte Richtung zielen: Plötzlich erklingen zarte Klaviertöne, weiche Flächenklänge im Hintergrund, einfühlsam gesungene Texte zu zwischenmenschlichen Verwerfungen. THE HIRSCH EFFEKT besitzt auch diese ganz intime, zerbrechliche Seite. 'Tombeau' geht beinahe als Ballade durch, während 'Emphysema' zwar wieder härter ausfällt, mit dem mitreißenden Refrain aber geradzu Hymnencharakter aufweist. Glücklicherweise hat auch 'Fixum' (vor einem Jahr auf einer Split-EP mit ZINNSCHAUER veröffentlicht) seinen Platz auf "Holon : Agnosie" gefunden. Zu diesem geradezu perfekten Song sollen hier nicht noch mehr Worte verloren werden; ich verweise an dieser Stelle auf die Rezension besagter EP. Es soll nur unterstrichen werden, dass 'Fixum' alle Trademarks und das fantastische Können dieser Tausendsassas aus Hannover bündelt und überdeutlich unterstreicht. Arbeitet euch ein, seziert die Stücke, und ihr werdet neben den großen thematischen Spannungsbögen und hinter den scheinbar trivialen Elementen verblüffende, durchweg schlüssige Konzepte entdecken.
"Holon : Agnosie" bewegt sich auf dermaßen hohem Niveau, dass daneben vieles als Banalität erscheint, womit man sich als Musikjournalist sonst noch so beschäftigt. Die Messlatte haben die Niedersachsen quasi selbst astronomisch hoch angesetzt – und daher sei an dieser Stelle auch festgehalten, dass diesem Ausnahmealbum des Jahres gegen Ende beinahe die Luft ausgeht. Nach einem weiteren anstrengenden Interlude nimmt 'Dysgeusie' das schockierende Chaos von 'Jayus' wieder auf, fügt dieser brutalen Seite von "Holon : Agnosie" allerdings keine neuen Aspekte mehr zu. Und auch der Schlusstrack 'Cotard' wirkt zunächst ein wenig beliebig – dann allerdings greift die Band gekonnt mehrere Elemente und inhaltliche Linien der vorangegangenen Stücke auf und fügt sie zu einem Finale zusammen, dass die Stumpfsinnigkeit des Openers in einen erstaunlichen Höhepunkt verwandelt. Chapeau, meine Herren!
Wird man nach etwa einer Stunde schließlich völlig konsterniert, verprügelt, verwirrt und doch irgendwie versöhnt von "Holon : Agnosie" ausgespuckt, bleibt nur der Griff zur Repeat-Taste sowie die Erkenntnis, es womöglich schon mit dem Album des Jahres zu tun zu haben. Die Zumutung des Jahres ist "Holon : Agnosie" mit Sicherheit.
Anspieltipps: Fixum, Jayus, Emphysema
- Note:
- 9.50
- Redakteur:
- Timon Krause