MAYFAIR - My Ghosts Inside
Auch im Soundcheck: Soundcheck 04/2016
Mehr über Mayfair
- Genre:
- Avantgarde Rock
- ∅-Note:
- 10.00
- Label:
- Pure Prog Records
- Release:
- 15.04.2016
- Loss
- My Ghosts Inside
- Desert
- Blinded By Your Light
- When Angels And Demons Meet
- Our Fire Starts Here
- Ghostrider
- Boom
- Andermal
- Schrei Es Raus
- Until We Meet Again
Aufschrei einer entfesselten Kunst!
Was ist wichtig bei Musik? Was führt dazu, dass man sie gut findet?
Auf diese komplizierte Frage finde ich für mich vielfältig geschichtete Antworten. Sound, Spieltechnik, Gefühl, Eigenständigkeit und ein nicht zu vernachlässigender Überraschungs-Effekt beim Hören sind für mich wichtige Faktoren, die aber nicht zwingendermaßen gleichzeitig auftreten müssen.
Betrachte ich jedoch meine allergrößten Favoriten, so finde ich in deren Musik eine faszinierende Gemeinsamkeit. Sie schaffen es alle, mir durch ihre Musik auch etwas von ihren Persönlichkeiten zu vermitteln und damit eine Art Bindung und Vertrautheit zu schaffen. Und wenn sich Künstler ganz besonders in ihre Musik hineinsteigern, es zum Zeitpunkt der Aufnahme das Wichtigste in ihrem Leben sein lassen, um dadurch etwas tief Verborgenes zu entfesseln, dann kann man dies als emphatischer Hörer spüren, hören, fühlen. Bei MAYFAIR kann ich das.
Etwas oder jemanden zu verlieren, ist schmerzhaft. Jeder geht anders damit um. Wut, Trauer, Aggression, alles ist möglich und von der ersten Sekunde an vereinnahmen Sänger Marios einzigartige Stimme und Gitarrist Rénés Saitenzauber die gesamte Hörer-Seele mit ihren Gefühlen. "Loss can be a soft wind during spring": Mario verzehrt sich beim Opener 'Loss' im (Liebes-)Kummer und der Rest der Band wirkt, als wolle er die verbleichenden Erinnerungs-Fragmente in Töne verwandeln. Frühlingshaft lieblich und betörend muten diese zunächst an, doch die verschachtelten Drums wirbeln die Töne auf, sie flattern auseinander, zerstreuen sich im Vergessen, finden sich aber wieder und türmen sich auf. Und alles kumuliert am Ende im spitzen, verzehrenden Schrei nach Liebe. Wow!
Willkommen in der MAYFAIR-Welt, liebe Leute. Im Interview erzählt uns Mario, dass er sich noch nie zuvor so stark auf sich selbst eingelassen habe. Er spricht von einer Imbalance zwischen Selbstbewusstsein und innerer Zerrissenheit, die er während den Aufnahmen gespürt habe. Und diese führt zu kreativer Energie. So ist "My Ghosts Inside" vielleicht das MAYFAIR-Album, das am meisten vom Sänger der Band geprägt ist. Im Titelsong sowie im folgenden 'Desert' experimentiert er mit gehauchten und geschrienen Vocals und benutzt sogar Growls. Beide Songs sind garantiert keine leichte Kost und unterscheiden sich teilweise deutlich von der straighten Leichtigkeit des Vorgängers "Schlage Mein Herz Schlage". Die wunderschöne Ballade 'Blinded By Your Light' wirkt danach wie eine Erleichterung für Körper und Seele und deutet an, dass MAYFAIR sogar kommerzielles Potential hätte.
Die gleißende Intensität des Openers wird aber erst wieder mit 'When Angels And Demons Meet', dem zentralen Stück dieser Geister-Scheibe, erreicht. "Siehst Du auch den Devil zwischen mir und dem Blue Sky?" Jawohl, der von MAYFAIR bekannte Mix aus deutschen und englischen Textfetzen wird weiter auf die Spitze getrieben, und verfehlt auch hier seine Wirkung nicht. In der ersten Hälfte ist der Track gerade, fast tanzbar, ein Trademark der "Schlage…"-MAYFAIR, doch danach geht man zu den wunderbarsten Psychedelic-Prog-Spielereien seit dem 90er Album "Die Flucht" über. Zu diesem Album höre ich nicht nur einmal Parallelen, was eine fantastische Nachricht für alte Fans ist. Und was Mario und seine Freunde am Ende dieses Songs erschaffen, ist eine Poesie in Ton und Wort, auf die sich jeder Musikfan einmal einlassen sollte.
Auch danach lässt Mario einen nicht mehr los. Sei es der intensive Kurz-Track 'Our Fire Starts Here', der groovige 'Ghostrider', sei es 'Boom', für mich die musikalische Fortführung des "Die Flucht"-Tracks 'One Night And A Dream' oder der melancholische Rausschmeißer 'Until We Meet Again', alle Songs bestechen durch eine Eindringlichkeit und einen Tiefgang, der in der Form vielleicht tatsächlich nur möglich ist, wenn man sich völlig von sich selbst entkoppelt. Und wenn die Band dabei mitspielt.
Und das tut sie. Zwischen Réné und Mario scheint es wohl sowieso einen unsichtbaren geistigen Draht zu geben und Rénés oft orientalisch klingenden Melodien und psychedelischen Gitarren-Sounds sind die beste Untermalung für die manchmal schwer fassbaren Fantasien des Sängers. Doch sollte unbedingt hervorgehoben werden, dass MAYFAIR anno 2016 eine eng verschmolzene Einheit aus vier Leuten ist, die gegenseitig voneinander profitieren. So hieven Jolly Maehr (dr) und Johannes Leierer (b) "My Ghosts Inside" im Vergleich zur "Schlage..." durch ihre gefühlvolle wie dynamische Rhythmus-Arbeit, die mir schon beim allerersten Spin bei unserem Studio-Besuch aufgefallen ist, auf einen neues Level. Man höre nur auf den Groove des komplett auf einem anderen Planeten aufgenommenen 'Schrei Es Raus', das live sicher alles aus dem Zuhörer herausholt. Und wenn hier jemand von einer anderen Band eine vergleichbare Gitarrenarbeit wahrnehmen sollte, möge er mir dies bitte mitteilen. Ich habe so etwas noch nie gehört. Ein Fazit, das aber für jedes MAYFAIR-Album aufs Neue gilt.
- Note:
- 10.00
- Redakteur:
- Thomas Becker