MYRATH - Karma
Mehr über Myrath
- Genre:
- (Oriental) Progressive Metal
- ∅-Note:
- 9.00
- Label:
- earMUSIC (Edel)
- Release:
- 08.03.2024
- To The Stars
- Into The Light
- Candles Cry
- Let It Go
- Words Are Failing
- The Wheel Of Time
- Temple Walls
- Child Of Prophecy
- The Empire
- Heroes
- Carry On
Am Anfang stand Enttäuschung.
Manche Rezensionen schreiben sich wie von selbst. Andere kosten Blut, Schweiß und Tränen. Diese hier gehört zur zweiten Kategorie. "Karma" von MYRATH hat mich enttäuscht und begeistert zugleich, und in diesen Zwiespalt möchte ich euch mit hineinreißen. Reisen wir rund 15 Jahre in die Vergangenheit. Die in Tunesien gegründete Band löste sich mehr und mehr von ihren Wurzeln als Covertruppe von Bands wie SYMPHONY X. Mit "Desert Call" (2010), spätestens aber mit "Tales Of The Sands" (2011) hatte sich MYRATH eine eigene musikalische Nische geschaffen: Oriental Progressive Metal.
Wie arabischer Honig floss das in meine Ohren: zart, anschmiegsam, mitreißend, wunderbar exotisch.
2016 kam mit "Legacy" das Highlight der Diskografie in die Läden: Moderner Progressive Metal, Melodien für Millionen, orientalische Einflüsse und ein überdurchschnittliches Können der Musiker rissen die Zuhörer mit in einen wilden, funkensprühenden Tanz in einer fremden, aber gastfreundlichen Oase im Orient.
"Shehili" konnte das Niveau halten. Deutlicher als jemals zuvor versuchte die Band, sich weiterzuentwickeln. Vielleicht ein wenig der selbst kreierten Musik überdrüssig, wurden die orientalischen Elemente leicht zurückgefahren. Ein Mehr gab es dafür auf der Pop-Seite, auf mich wirkte es wie der Versuch, eine Daseinsberechtigung als Songschreiber zu bekommen, ohne dass sich die Leute immer wieder milde lächelnd auf den Exotenbonus der orientalischen Melodiemacher bezogen.
Hier ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass es gerade das tief in das Songwriting eingewobene arabische Kulturgut ist, das mich in der Vergangenheit mit MYRATH wild tanzen ließ. Weil es eben nicht schmückendes Beiwerk ist, sondern die Songs vorantreibt und auf neue, bisher ungehörte Ebenen hebt, oder auch mal für sich steht und fast folkig wird. Zum Beiwerk degradiert, drohte die Band ihre DNA zu verlieren. Mit dieser vorsichtig aufkeimenden Sorge blickte ich also auf "Karma". Und was soll ich sagen? MYRATH treibt die Entwicklung gnadenlos voran. Radikal und unerbittlich.
Man möchte rufen: "Herr der Wüste, was haben wir dir getan, dass du uns im Stich lässt?" Und während wir wild an Aladins Wunderlampe rubbeln, flüstern uns die Geister des Sandes zu: "Es sind immer noch die gleichen Musiker, die "Legacy" geschrieben haben, die hier am Werk sind. Warum löst man sich nicht von seinen Erwartungen und versucht zu verstehen, was sie aus ihrem großen Potential machen?"
Und bevor man mich jetzt wegen all der Klischees in diesem Text zurechtweist: Lasst uns einmal "Sesam (in diesem Fall: "Karma") öffne dich" rufen und vorsichtig durch das sich öffnende Tor gehen. Denn Schätze warten auf uns, goldene, glänzende Schätze!
Es entsteht Raum, indem man den Fokus von den fernöstlichen Elementen wegnimmt. Die Band füllt ihn mit hymnischen Refrains, die sofort ins Ohr gehen. Durch energetisches Riffing. Apropos Energie: "Karma" strotzt nur so vor Energie, meist positiver Art. Dabei spielt sich die Band immer wieder an erinnerungswürdige Hooklines heran, mal etwas cineastischer, mal etwas zurückgenommener. Dabei weiß sie in jeder Sekunde, was sie warum tut.
Die einzelnen Musiker bekommen ihre Momente, in denen sie glänzen können. Seien das tolle Soli ('The Empire') oder auch wunderbare, vom Klavier getragene Songs. Dazu gehört vor allem 'Child of Prophecy', das auch zeigt, dass die Band ihre DNA natürlich nicht ganz hinter sich gelassen hat. Der Song spielt nach wie vor gekonnt mit orientalischen Melodien und hätte so auch auf eines der älteren Alben gepasst. Die Band ist ein Meister im Ausreizen der Grenzen des Spiels. Bei 'Temple Walls' wippt der Kopf im Takt zu fast sprechgesangartigen Rhythmen, bevor man beim Refrain lauthals mitsingt. 'Words Are Failing' kommt dagegen new-agig, proggig daher.
Sollte dieses Album der erste Kontakt mit MYRATH sein, so liegen Referenzen, wie die eingangs erwähnten Power Progressive Bands oder KAMELOT auf der Hand. Wechselt man auf die Metaebene, muss ich das eine oder andere Mal an AVANTASIA (vor allem 'Let it Go') denken. Durch die Variabilität, mit der Tobias Sammet die Songs auf seine Gastmusiker zuschneidet, entstehen sehr abwechslungsreiche Alben, die am Ende doch recht homogen klingen. Das macht auch MYRATH, nur dass sie ihre Songs bei aller Unterscheidbarkeit immer wieder auf eine der besten Stimmen im Melodic Metal zuschneidet: Zaher Zorgati. Egal, was die Band ihm an Soundbrocken hinwirft, Zorgati ist die Klammer, die sich um alles schließt – und das macht er wunderbar. Wer also auf Sänger und Sängerinnen fixiert ist, für den sollte das allein schon Grund genug sein, mal reinzuhören.
Nun, wie viel Enttäuschung bleibt am Ende? Satt und glücklich thronen wir zwischen den goldglänzenden, in Melodienbrokat gehüllten Liedern und dürfen festhalten: keine. Okay, vielleicht ein bisschen. Aber man darf Bands einfach zugestehen, dass sie sich entwickeln. Was heißt "darf"? Es liegt nicht in unserer Macht als Hörer, das zu beeinflussen. Aber manchmal braucht es einfach ein bisschen Zeit, um sich an das Neue zu gewöhnen und das Gute daran zu entdecken. Wenn man das schafft, erwartet einen ein tolles Album.
- Note:
- 9.00
- Redakteur:
- Julian Rohrer