TANGENT, THE - The World That We Drive Through
Mehr über Tangent, The
- Genre:
- Prog Rock
- Label:
- Inside Out
- Release:
- 04.10.2004
- The Winning Game
- Skipping The Distance
- Photosynthesis
- The World That We Drive Through
- A Gap In The Night
Boah, was ist das?! Was für geniale Klänge! Mein persönlicher Musik-Olymp hat soeben die Geburt eines neuen Gottes feiern können. Dieses komplexe Prog-Rock-Album stellt für mich ganz einfach d a s Album des Jahres dar. Die Schönheit der vielschichtigen Klänge bezaubert bis in die Träume hinein und haut mich vom ersten bis zum letzten Ton einfach um. Die Musik eignet sich außerdem für ein echtes Hörtraining unter dem Thema "Feinwahrnehmung von Details im Sound". Denn was hier alles an vielen kleinen Sounds, instrumentalen Meisterleistungen und schlichter Opulenz aufgefahren wird, steht in fast einsamer Größe in der Musiklandschaft der letzten Zeit da. THE TANGENT bewegen sich dabei zwischen deutlich hörbaren Referenzen an den klassischen Siebziger-Prog von VAN DER GRAF GENERATOR und modernen Bombast-Prog englischer Prägung.
Ursprünglich war THE TANGENT als Soloprojekt des Keyboarders Andy Tillison von PARALLEL OR 90 DEGREES geplant. Doch der Mann gewann plötzlich einen schwedischen Flowerpower-Blumentopf und zwar in Form dreier FLOWER-KINGS-Mitglieder - allen voran die KINGS-"Orchidee" Roine Stolt, der nun auch bei THE TANGENT am Mikro sowie an der Gitarre zu hören ist. Komplettiert wird der reiche Blumenstrauß durch Jonas Reingold und Zoltan Csorsz, die ihre Meisterleistungen am Bass bzw. hinter der Schießbude zelebrieren. Während beim ersten Album noch der Saxophonist von VAN DER GRAF GENERATOR David Jackson sozusagen Verantwortung für seine musikalischen Nachkommenschaft übernahm, hat er sich diesmal wohl geweigert, die Alimente zu zahlen, und daher musste nun der ebenso luftgewaltige Theo Travis (u. a. PORCUPINE TREE, GONG) seinen Part übernehmen, um der Band einen zu blasen. Ähem, oder so ähnlich ... Das genügte aber offenbar noch nicht, denn Andy Tillison holte sich seinen Bandkollegen Sam Baine als weiteren Keyboarder und Guy Manning als zweiten Gitarristen mit an Bord, denn das Wort Soundloch ist für die Herren Musiker wohl ein Synonym für Sünde. In dem Auto, mit dem THE TANGENT – wie der Albumtitel sagt – durch die Welt "driven", ist es platz- wie klangtechnisch ziemlich eng. Bei THE TANGENT handelt es sich im Grunde um ein echtes Künstlerkollektiv.
Dass die vorliegende CD einen unbedingten Pflichtkauf für jeden FLOWER-KINGS-Fan darstellt, braucht eigentlich gar nicht erwähnt zu werden. Aber auch Freunde anspruchsvoller Rockmusik, die mit den Schweden nicht viel anfangen können, sollten in das neue TANGENT-Album unbedingt reinhören. Die Stimmung der Musik ist doch um einiges dunkler und teils mit einem melancholischen Pathos versehen, der sich in dieser Form bei den "Blumenkindern" seltener findet. Die Gesangsleistung von Roine Stolt auf diesem Album ist zudem wirklich allererste Sahne.
Fünf Stücke haben THE TANGENT hier eingespielt, die insgesamt knapp eine Stunde ausfüllen. Die Spielzeiten der Songs liegen zwischen acht und achtzehn Minuten, in denen ein übersprudelndes Ideenfeuerwerk veranstaltet wird. Der Opener 'The Winnig Game' überrollte mich auch gleich mit seiner Eleganz und einer Atmosphäre, die ein wenig das Flair einer nächtlichen Großstadt mitsamt ihren Tragödien vermittelt. Der obergeniale Gesang, der eine verhaltene Theatralik erzeugt, erinnert in dieser Nummer gar ein wenig an NICK CAVE. Nach ruhig-symphonischem Beginn erschallt ein orgelnder Teppich, dem glitzernde Gitarrentöne und eine ruhige, leicht jazzige Rhythmik nachfolgen. Während der Gesang in den Strophen geheimnisvoll von Geschichten zu erzählen weiß, erhebt er sich im Refrain zu leidenschaftlicher Intensität – begleitet von den Klängen der Orgel. An dieser Stelle setzt das Saxophon einen weiteren Achtungspunkt im Sound. Allerlei mystische und treibende Keyboardsounds weben im Weiteren ihre eigenen Stimmungen, untermalt von den angejazzten Pianofolgen, die das erzählerische Moment der Musik unterstützen. Das ausschweifende Gitarrensolo im letzten Drittel des Stückes erfreut wieder das Herz des Rockers mit seinem gefühlvollem Ausdruck. Zwischendurch darf es sogar mal kurz, aber geil grooven.
Leicht beschwingt gibt sich dann das nachfolgende 'Skipping The Distance', welches jetzt größtenteils dem Siebziger-Rockgroove und den JETHRO-TULL-artigen Flötentönen huldigt. Natürlich gibt es auch hier einige instrumentale Superleistungen, die das Hören zu einem spannenden Abenteuer machen. 'Photosynthesis' fließt verträumt dahin und erzeugt vor dem inneren Auge das Bild einer sonnigen Waldlandschaft. Der Gesang kommt hell und einschmeichelnd. Akustische Gitarren und romantische Flöten- sowie Pianotöne stimmen den einlullenden Track ein, um im Verlauf ihre ganz unterschiedlichen Ständchen darzubringen. Der Bass zaubert dazu einen warmen weichen Untergrund. Einmal spielt aber trotzdem die Hammondorgel zum Tanz auf.
Beschaulich beginnt auch das Titelstück und besticht durch eine schöne Melodielinie. Im Anschluss an den Refrain verwenden THE TANGENT dann symphonische Sounds, die eine treibendere Gestaltung des Stückes einleiten. Schließlich schweben die Klänge gänzlich durch die Weite des Sounds. "I think it’s strange" tönt es dramatisch aus den Boxen, dem kurz darauf ein schrilles Saxophonsolo Nachdruck verleiht. Sonst aber klingen die Saxophon-Harmonien dieses Album sehr gleitend, psychedelisch oder atmosphärisch gelöst, wobei sie sich immer organisch mit den anderen Elementen der Musik verbinden. Insofern stellen sie für mich ein ganz besonderes Highlight auf dieser Scheibe dar.
'A Gap In The Night' bringt es zum Schluss auf die epische Länge von achtzehn Minuten, die sich als emotional sehr vielschichtig erweisen. Die dunklen Töne herrschen aber deutlich vor, wobei die Erwartung künftiger hellerer Tage immer wieder durchklingt. Daher wechseln die besinnlich-grübelnden Momente mit kraftvollen Passagen, die zusammen eine wellenartige Dynamik im Sound erzeugen. Psychedelisch-geheimnisvolle Klangschwaden kreisen untergründig im Vorborgenen, um manchmal selbst zum Vorschein zu kommen und ambiente Räume zu bilden. Auf der Special-Edition der CD befindet sich außerdem noch das vierzehnminütige Bonusstück "Exponenzgesetz", was leider nicht auf meine Promo zutrifft.
"The World That We Drive Through" ist ein Meilenstein des Prog Rock. Diese filigranen Rockklänge sind schlicht zeitlose Musik, die man auch noch in zwanzig Jahren hören können wird. THE TANGENT ergreifen Herz und Verstand gleichermaßen, so dass ein regelrechter Suchteffekt nach ihrer Musik entsteht. Der Anfang, der für diese Klangmuster in den Siebzigern gesetzt wurde, erscheint hier in einer verwandelten, ja vertieften Form, die auf dem Grund des Alten etwas ganz Neues erschafft.
Anspieltipps: alles; jedes Stück ist ein kleines Meisterwerk
- Redakteur:
- Jörg Scholz