THE TOTEN CRACKHUREN IM KOFFERRAUM - Gefühle
Mehr über The Toten Crackhuren Im Kofferraum
- Genre:
- Elektropunk
- ∅-Note:
- 8.00
- Label:
- www.bfr-records.de
- Release:
- 15.10.2021
- Alles verkacken
- Zurück in der Gosse
- Living The Dream
- Bewerte mich
- 1000 kleine Ameisen
- Ich will dich heulen sehen
- Du könntest gehn
- Bau mir nen Schrank (feat. Taby Pilgrim & Blond)
- Herz
- Officer Sexy (feat. Babsi Tollwut)
- Ich nin eine Schlampe
- Punkrock hat mir mein Herz gebrochen
- Die Robbe und der Eisbär (Bonus-Track)
"Punk? Punk ist das was du draus machst!"
Diese Weisheit von Frau Punk (nicht fragen; ich löse noch auf, was es mit der Dame auf sich hat) war letzten Endes aus einer Auswahl von ungefähr 120 (!) teasertauglichen Textzitaten vom neuen Album "Gefühle" von THE TOTEN CRACKHUREN IM KOFFERRAUM das siegreiche. Die anderen beiden Treppchenplätze gefällig? Platz 3: "Wir machen, was wir wollen, wir haben kein Gewissen!" aus 'Alles Verkacken'. Platz 2: "Kuck mal, meine Scheide, sie leuchtet dir den Weg!" aus 'Ich bin eine Schlampe'. Mit dieser Zeile würde ich zwar mehr Klicks erzielen, was natürlich auch gut für THE TCHIK wäre, so das von der Band benutzte familienfreundlichere Kürzel für THE TOTEN CRACKHUREN IM KOFFERRAUM, aber pure Provokation macht den Großteil der Textinhalte dieser vierköpfigen Frauenband aus Berlin trotz des Bandnamens einfach doch nicht aus. Dennoch lässt die Schonungslosigkeit, mit der die Crackhuren Milieubeschreibungen, zynische Gesellschafts- und Alltagsbeobachtungen sowie Seeleneinblicke in Worte packen, empfindsamen Zuhörern so manches Mal den Atem stocken.
Neben dieser gewissen, nicht von der Hand zu weisenden Textlastigkeit regiert bei den Crackhuren der Electropunk, und das auf eine sehr erfrischende und coole Art und Weise. Live werden die Damen zwar von vier männlichen Crackhuren auf gängigen Rockinstrumenten begleitet, auf dem Album ist jedoch nur ganz vereinzelt ab und an eine Gitarre zu vernehmen, meist hämmert, stampft, piepst und quietscht es wirklich grandios aus den Lautsprechern. Diese musikalische Untermalung würde ich als abwechslungsreiche Mischung aus Ambient, Electro und Dancefloor beschreiben, ohne zugegebenermaßen viel Ahnung von den genannten Musikstilen zu haben. Ein quer drüber gespritzter Schuss klanglicher NDW-Querverweise wurde IDEALerweise auch nicht verhütet. Gewissermaßen ein persönliches Problem habe ich mit der stellenweise etwas zu belanglos dahertönenden Lala-Stimme der Leadsängerin Lulu. Die Scheibe hat demnach für mich bezüglich der Vocals ihre stärksten Momente, wenn die vier Crackhuren im Gangshout-Modus in ihre Mikros zicken.
Getreu dem Titel der ersten Single "Bewerte mich" verteile ich nun wieder Punkte für jeden Song der Crackies:
'Alles verkacken' tritt gleich zu Beginn richtig Arsch und ist ein Opener par excellence. Das Ding reißt dir die Augen auf und drückt dich durch die Wand! Die Motivationshymne schlechthin für alle, die glauben, nicht mehr motiviert werden zu können. Geile Nummer, alter Schwede! (9,5)
'Zurück in der Gosse' ist etwas poppiger, weniger aggressiv, aber genauso eingängig. Die Melodie bleibt im Gedächtnis hängen und der Song macht weiterhin Appetit auf mehr. (8)
'Living The Dream' hat einen zauberhaften Text über das Leben der unteren Gesellschaftsschichten in Ost-Berlin verpasst bekommen und wird extrem gut durch den Gangshout-Chorus im hinteren Drittel gesteigert. (8,5)
'Bewerte mich' schnürt zarten Seelchen, unterlegt von stampfenden Beats, die Kehle zu: Der Text gibt die Realität mancher Kommentare wieder, mit denen sich viele Mädchen und Frauen mittlerweile nicht mehr nur im Internet, sondern häufiger auch im Rest des täglichen Lebens, oft von Männern ausgehend, konfrontiert sehen. (9)
'1000 kleine Ameisen' beschreibt als dezente Dance-Pop-Nummer den Gemütszustand einer Panikattacke. Guter Song, der bei mir derzeit mit jedem Durchlauf mehr Wohlwollen erhält. Die vermittelte Atmosphäre des Liedes geht jedoch eher an meinem persönlichen Gusto vorbei. (6,5)
In 'Ich will dich heulen sehen' wird es dann wieder etwas schwungvoller. Das Thema ist in diesem Song verfehlte Streitkultur in der Partnerschaft, wenn ich das richtig interpretiere. Holt mich, ähnlich wie der Vorgänger, nicht so richtig ab. (6,5)
Noch depressiver wird es in 'Du könntest gehn'. Mit diesem Lied kann ich inhaltlich und musikalisch noch weniger anfangen. Laaangweilig! Ich muss allerdings an dieser Stelle auf das durchgängig hohe Niveau und vor allem das enorm große und originelle Ideenpotential der Songtexte hinweisen! Die Lyrics wurden übrigens zusammen mit den Downloads verschickt! Genau so geht das, Daumen hoch dafür an THE TCHIK! ( 5,5)
'Bau mir nen Schrank (Feat. Taby Pilgrim & Blond)' liegt laut Infotext folgender Gedanke zugrunde: Wie würde es klingen, wenn man Männer auf Aussehen und handwerkliche Fähigkeiten reduziert? Was bei THE TCHIK dabei herausgekommen ist, könnt ihr euch hier im fast anachronistischen Mitt-90er-Techno-Soundgewand reinpfeifen! Männer seien gewarnt: Mit "Wohlfühlfeminismus", wie die Crackhuren das Lied zynisch anpreisen, hat das nix zu tun, eher mit umgedrehtem Proleten-Sexismus! Lustig ist der Song aber definitiv und geht zudem gut ab. (8)
Der Text von 'Herz' ist einer der besten der ganzen Scheibe! Verantwortungsbewusstsein und Menschlichkeit sind die Themen, die hier in einem flotten NDW-Dance-Dingens umgesetzt werden. Definitiv was zum Nachlesen und öfter Hören (8,5)
'Officer Sexy (Feat. Babsi Tollwut)' ist eine atmosphärisch famos gelungene Dance-Nummer. Der Text nutzt elegant das Deckmäntelchen des Uniform-Fetischismus, um Polizeigewalt anzuprangern. Sogar der Rap-Einschub von Babsi Tollwut gefällt mir, weil er den Track nach vorne bringt. (9)
'Ich bin eine Schlampe' geht, wie von den Crackhuren in Hochform zu erwarten war, textlich kompromisslos und auf die Spitze getrieben, das auf die Geschlechter bezogen gesellschaftlich sehr unterschiedlich bewertete Thema Häufigkeit der Partnerwechsel an. (8,5)
'Woher soll ich wissen, was ich will' thematisiert die Auseinandersetzung mit der eigenen Zukunft und langweilt mich musikalisch ziemlich. (5,5)
Aber zum Schluss schaffen es die Crackhuren tatsächlich doch noch, mir in meinem Bewertungsreigen eine 10 zu entreißen: 'Punkrock hat mir mein Herz gebrochen' ist feinster Popschlager im HELENE FISCHER-Sound, wenn auch mit etwas deftigeren Beats. Gepaart mit der schieren Genialität des Textes, hat sich am Ende des vierten Albums von THE TCHICK hiermit ein waschechter Szene-Hit versteckt. Dieser gipfelt in einem launigen Plausch der Crackhuren mit Herrn beziehungsweise Frau Punk, die der Band und somit auch der geneigten Zuhörerschaft erzählt, worum es bei Punk eigentlich geht. Herrlich! (10)
Der Bonus-Song 'Die Robbe und der Eisbär' hat wieder einen überragenden Text, der musikalisch so mittel-aufregend in Szene gesetzt werden konnte. (7)
Unterm Strich kommen ohne den Bonus-Track somit 7,92, also 8 Punkte für "Gefühle" zusammen. Ehrlicherweise hatte ich zunächst mit einer Männerband gerechnet und war beim ersten Sichten und Hören der Downloads doch etwas verwundert. Heraus kam letzten Endes eine der bisher größten Überraschungen des Jahres für mich. Ein ernstgemeinter Kauf-Tipp geht raus an Punkrock-Fans, die über den Tellerrand gucken können, an Electro-Fans, an Liebhaber kerniger deutscher Texte, und nicht zuletzt an Musikfreaks, die sich schon immer eine zweite Neue Deutsche Welle herbeigesehnt haben.
- Note:
- 8.00
- Redakteur:
- Timo Reiser