VARIOUS ARTISTS - THE HIRSCH EFFEKT / ZINNSCHAUER (Split EP)
Mehr über Various Artists
- Genre:
- Alternative / Progressiv Rock / Artcore
- Label:
- Kapitaen Platte
- Release:
- 31.05.2013
- Datorie
- Ole Minun
- Irrath
- Fixum
- Ich bin deine wachsenden Arme - I
- II
- III
- IV
Reine Kunst.
Je intensiver ich mich mit der Split-EP der beiden deutschen Formationen THE HIRSCH EFFEKT und ZINNSCHAUER befasse, desto schwerer fällt es mir, für dieses sperrige, fordernde, ungewöhnliche Hörerlebnis auch nur ansatzweise angemessene Worte zu finden. Eine Wertung verbietet sich von vorne herein - zu unterschiedlich ist die jeweilige Herangehensweise der Musiker, zu scharf die Kontraste, die auf "Fixum / Ich bin deine wachsenden Arme" vorherrschen. Und überhaupt: Da trifft mit THE HIRSCH EFFEKT ein Trio, das in den vergangenen Monaten zum ultimativen Geheimtipp in Sachen Artcore und Post Rock avanciert ist, und dessen letzte Veröffentlichung vom Visions-Magazin auf Platz 16 der besten Alben aller Zeiten (!) gewählt wurde, auf ZINNSCHAUER, eine Art Singer-Songwriter-Kunstprojekt, dessen Vorgehensweise fast noch ungewöhnlicher ist als die sämtliche Musiksparten übergreifende Arbeit der drei Hannoveraner. Für mich war die Single 'Fixum' der Erstkontakt mit THE HIRSCH EFFEKT, es erforderte diverse Hördurchgänge, bis sich mir das Lied mit seinen umfassenden Spannungsbögen erschloss – und die vollständige EP verlangte mir nun noch deutlich mehr Aufmerksamkeit ab.
Vier Lieder von THE HIRSCH EFFEKT bilden die erste Seite der auf Vinyl erschienen Kurzspielplatte, auf der Rückseite befindet sich 'Ich bin deine wachsenden Arme', ein 20minütiges, in vier Abschnitte unterteiltes Stück von ZINNSCHAUER. THE HIRSCH EFFEKT steuert mit 'Datorie' und 'Irrath' zwei neu vertonte Songs des vorangegangenen Meisterwerks "Holon: Anamnesis" bei, sowie das fragmentarische Zwischenstück 'Ole Minun', ehe man mit dem schier unbeschreiblichen 'Fixum' dieser ungewöhnlichen Scheibe einen brutalen Höhepunkt setzt, der den ansonsten eher ruhigen Grundtenor der Gemeinschaftsproduktion messerscharf und kantig aufbricht.
Widmen wir uns zunächst jedoch ZINNSCHAUER, dem Soloprojekt des Hamburger Musikers Jakob Amr. Der Versuch, ein zwanzigminütiges, progressives Monstrum wie 'Ich bin deine wachsenden Arme' zu beschreiben erscheint vermessen, obwohl die Stilmittel des Norddeutschen im Grunde genommen sehr überschaubar ausfallen: Zu akustischem Gitarrenspiel singt Amr, mal verklärt, naiv verträumt, mal zerbrechlich, unsicher - und an anderer Stelle schreit er sich völlig unvermittelt, wie der Sänger einer Hardcore-Combo, die Seele aus dem Leib! Schreigesang über einer Akustikgitarre, das muss man erst einmal verdauen. Im Grunde trifft bei 'Ich bin deine wachsenden Arme' klassisch balladesker Gesang auf abstrakte Singer-Songwriter-Musik und schmerzhaft intensiven Post Hardcore ohne Band. ZINNSCHAUER bietet dem Hörer außerdem keinen Refrain, kein wiederkehrendes Motiv. Die sprachlich mitunter gewalttätige Poesie von Amrs Texten muss ebenso bewältigt werden wie die komplexe Musik des Hamburgers. Nach dem ersten Durchlauf war ich mit 'Ich bin deine wachsenden Arme' noch hoffnungslos überfordert, und entsprechend erleichtert, als ich das versöhnliche, endlich von einer vollständigen Bandinstrumentierung zelebrierte Ende erreichte. Lässt man sich allerdings ganz bewusst auf 'Ich bin deine wachsenden Arme' ein, erschließt sich früher oder (wahrscheinlich) später ein unerklärlicher Zugang zu diesem abstrakten musikalischen Kunstwerk. Wie hier zwischenmenschliche Verwerfungen und innere Zerrissenheit zu Klang gebracht werden, kann nur als einmalig bezeichnet werden. ZINNSCHAUER ist eines mit Sicherheit nicht: Reine Unterhaltung. Sich mit einem solchen Ansatz einen höheren Bekanntheitsgrad zu erarbeiten, dürfte ein anspruchsvolles Unterfangen darstellen – und ist aller Ehren wert! 'Ich bin deine wachsenden Arme' ist eines der mutigsten und anspruchsvollsten Stücke, die es in den vergangenen Jahren ans Licht der Öffentlichkeit gebracht haben.
THE HIRSCH EFFEKT macht es einem nur unwesentlich leichter. Zunächst präsentieren uns die Niedersachsen eine Akustikversion von 'Datorie', eine Variante, wie sie die Band auch live schon dargeboten hat. Der Song wurde von seiner elektronischen Untermalung befreit, rhythmisch entkompliziert, und somit auf das Wesentliche reduziert. Das Ergebnis ist verblüffend eingängig, aber nicht eine Sekunde lang oberflächlich. Die Gesangsstimme von Gitarrist Nils Wittrock schmeichelt, umgarnt, klagt an, mit einer unglaublich einnehmenden, charismatischen Färbung. 'Datorie' in der 2013er Fassung ist Gänsehaut pur, noch intimer, noch ergreifender als die Albumversion von "Holon: Anamnesis". Mit 'Ole Minun' folgt ein Fragment, ein postapokalyptischer Brückenschlag, wie eine verklärte Stimme aus einer künftigen, nicht-existenten Welt – ein atmosphärischer Lückenfüller sozusagen. Während sich der Hörer nun also im grauen Schleier einer Schattenwelt zu verlaufen droht, wird er mit der von klassischer Instrumentierung getragenen Neufassung von 'Irrath' in eine zunächst trauergeschwängerte Gegenwart zurück geholt. Welch faszinierendes, bewegendes Spiel aus Stimme, Klavier, Violine! THE HIRSCH EFFEKT experimentiert nicht einfach mit verschiedenen Stilen – die Band verbindet wie kaum eine andere sämtliche Sparten von Klassik bis Rock auf ganz natürliche Weise, nicht zweckdienlich, sondern selbstverständlich. Der subtile Einstieg des Schlagzeugs wird bei 'Irrath' beispielsweise kaum wahrgenommen; erst als auch Gitarre und Bass verzerrte Fundamente unter das imposante musikalische Gerüst legen, stellt man fest, dass hier wahrhaftig gerockt wird. Das aufwühlende orchestrale Ende setzt diesem wunderbaren Post-Rock-Kleinod vollends die Krone auf. Phantastisch! Das Einzige was bislang fehlt, sind die Core-Elemente, die man von den Niedersachsen auch kennt. Sieben Tracks der Split-EP schlagen vor allem ruhige Grundtöne an. Und dann kommt 'Fixum'.
Wenn es so etwas wie den "perfekten Song" bislang noch nicht gegeben haben sollte, wurde die entsprechende Kategorie hiermit durch 'Fixum' begründet. Völlig unvermittelt wird die introvertierte Stimmung der Platte durchbrochen, von polyrhythmischem Gedresche, dissonant verzerrten Gitarren, und haarsträubendem Geschrei. Wie besessen prügeln die drei Musiker in scheinbar rasender Willkür auf ihre Instrumente ein, durchbrechen die Hatz immer wieder kurz für verspielte Bass- und Schlagzeugläufe, um abermals loszupreschen - bis gänzlich unerwartet ein hymnischer Refrain wie gleißendes Licht in das Chaos bricht. 'Fixum' ist als Ganzes betrachtet durchaus nachvollziehbar komponiert, besteht im Einzelnen allerdings aus rhythmisch hochkomplexen Math- und Postcore-Elementen. THE HIRSCH EFFEKT bündelt hier sämtliche hauseigenen Trademarks zu einer avantgardistischen, aber niemals abgehobenen Artcore-Standortbestimmung. Wirr vertrackte Verse, mitreißende Gesangslinien, kurze, atemlose Verschnaufpausen, dann wieder radikale Tempowechsel hin zu verschleppten Headbang-Passagen – 'Fixum' lässt wahrlich nichts aus. Und überhaupt: Niemals zuvor habe ich ein Stück gehört, dass so überwältigend und mitreißend zwischen kakophonem Chaos und ergreifenden, erhabenen Melodien wechselt! Zu 'Fixum' gibt es desweiteren noch ein Musikvideo, das auf den ersten Blick wie eine spaßige, künstlerisch-kreative Studienarbeit anmutet, aber bei allen unterhaltsamen wie anarchischen Elementen auf rätselhafte Weise doch ganz essenziell den Kern dieses ernsten Stückes trifft und ein Stück weit (be)greifbarer macht.
Doch genug der Worte, überzeugt euch lieber selbst von dieser höchst anspruchsvollen Doppelarbeit. Was THE HIRSCH EFFEKT und ZINNSCHAUER mit "Fixum / Ich bin deine wachsenden Arme" abliefern, ist vor allem eines: reine, klanggewordene Kunst.
- Redakteur:
- Timon Krause