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First Flight Of The White Raven

WARDRUNA ist eine norwegische Formation, die wohl kaum noch vorgestellt werden muss, da es die Bekannteste im Ancient-Folk-Sektor ist, wobei sie neben traditionellen Instrumenten moderne Elemente gekonnt einflicht. Gleichfalls ist die Band, insbesondere durch die allseits beliebte Runaljod-Trilogie sowie die vielfache Verwendung ihrer Musik in der TV-Serie "Vikings", für den weltweiten Aufschwung und die Hochkonjunktur in diesem Genre verantwortlich. Dennoch verbleibt sie seit der Gründung in 2003 in diesem Bereich durch ihre Vielfalt einzigartig, was die große Anhängerschaft erklären dürfte.

Im November 2020 hatte ich die Gelegenheit, mit Gründungsmitglied Einar Selvik ein Interview über das Anfang letzten Jahres erschienene Album "Kvitravn" zu führen. Aufgrund der in 2021 bestehenden allgemeinen Schwierigkeiten in der Reise- und Veranstaltungsbranche wurde dieses sowie einige frühere musikalische Stücke am 22.04.2021 im Rahmen einer virtuellen Konzertshow dargeboten, welche knapp einen Monat zuvor aufgezeichnet wurde. Diese "Live-im-Studio"-Aufnahme ist nun als Livealbum in diversen Formaten und sogar als DVD verfügbar. Zudem werden auch verschiedene Bundles angeboten.

"First Flight Of The White Raven" enthält unter anderem mit 'Kvitravn', 'Skugge', 'Grá' und 'Vindavlarjod' vier gut gewählte Lieder vom letzten Album. Das Rabenkrächzen und die Windgeräusche im Intro des Openers sind ein perfekter Einstieg in das Livealbum. Schon in 'Kvitravn' zeigt sich, dass Katrine Stenbekk, die Sängerin von Kalandra, die Klangkulisse von WARDRUNA bereichert. Im zweiten Stück ertönen Einar Selviks und Lindy-Fay Hellas Stimmen im bezaubernden Duett. Gegen Ende glänzt die Stimme der Sängerin als hier und da eingeworfener Gegenpol zum Gesang der anderen, der kaum Atempausen lässt.

Einziger Kritikpunkt an 'Grá' wäre, dass der Track so abrupt endet. Da möchte man sehr gern, noch etwas mehr in dieser besonderen Stimmung schwelgen. Sei es das Heulen eines Wolfes, das Klacken der Knochen, die gefangen nehmende, kräftige Stimme von Lindy-Fay Hella, der Sprechgesang des WARDRUNA-Frontmanns zusammen mit dem Flüstern im Hintergrund oder der immer wieder Gänsehaut erzeugende Moment, wenn alle anderen einstimmen. Alles an 'Vindavlarjod' ist geeignet, den Zuhörer in schwingende und wirbelnde Bewegung zu versetzen. Spätestens die verlockende Weidenflöte, gespielt von Eilif Gundersen, welcher schon oft WARDRUNA unterstützte, trägt einen in andere Gefilde hinfort. Die Schlussworte "weisen den Weg".

Ferner sind mehrere der schönsten Werke des bisherigen Schaffens dieses einzigartigen Norse-Projektes auf "First Flight Of The White Raven" zu finden. 'Bjarkan' von "Gap Var Ginnunga" aus 2009, 'Fehu' von "Yggdrasil" aus 2013 sowie 'Raido' und 'Isa' von "Ragnarok" aus 2016 sind vertreten, doch auch das relativ mittig gelegene, beruhigende 'Voluspá' von "Skald" aus 2018, das in altmodischer Dichtermanier von Einar Selvik mit seiner von Sverre Heimdal erschaffenen Kravik-Leier vorgetragen wird. Zu meiner Freude hat 'Solringen' aus 2013 mit seinem bestrickenden Stocktakt und vorzüglichen Flötenspiel einen Feinschliff erfahren.

In 'UruR' aus 2016 als Sinnbild für Auerochse begrüßt ein animalisches Schnaufen, welches an das ausgestorbene Urrind erinnert. Eilif Gundersen lässt beeindruckend die große, gewundene Bronze Lure erklingen. Tiefer Chorgesang der Bandmitglieder und Gastmusiker ertönt. Die von John Stenersen gespielte Moraharpa sowie die diversen Percussions von Arne Sandvoll und HC Dalgaard vervollständigen das Klangbild ebenso, wie der an einem Strick kreisende Stein. 'Rotlaust Tre Fell' von "Yggdrasil" rufen Lindy-Fay Hella und Einar Selvik mit starken Stimmen herbei, der Refrain nimmt einen wie immer voll in Beschlag. Alle Stimmen vereinen sich und das Klanggebilde baut sich Stück für Stück zu einem fulminanten Finale auf.

Schon allein die Gliederung zeigt den gleichen Aufbau eines typischen WARDRUNA-Konzertes mit einer Mischung neuer Songs und langjährigen Fanfavoriten sowie 'Helvegen' als krönenden Abschluss, weshalb es vermutlich die wohl verbreitetste Single der Band ist. Auch hier wird er erneut von Herzen dargebracht, wodurch er wie üblich Sprachlosigkeit und wässrige Augen hervorruft. Durch den Erwerb des Livealbums beziehungsweise der DVD kann man diesen emotionalen Moment nun auf ewig für sich festhalten. Insbesondere für Langzeitfans ist dieses "Live-im-Studio"-Album unverzichtbar, aber auch Neueinsteiger können hierdurch einen perfekten Überblick zum bisherigen Gesamtwerk der außergewöhnlichen Formation gewinnen.

Die abschließenden Worte zum Album überlasse ich Einar Selvik: "Kvitravn ist ein Album, das ich schon lange schreiben wollte. Dieses Album macht deutlicher als je zuvor, was das ultimative Ziel und die Motivation für Wardruna von Beginn an gewesen ist – mit alten, aber immer noch relevanten Gedanken etwas Neues zu erschaffen. Die Texte sind sehr wichtig. Kvitravn ist von mündlichen Traditionen, von einer mündlichen Kultur inspiriert. In einer mündlichen Gesellschaft hatten Worte, Dichtung und auch die Runen, in denen sie niedergeschrieben wurden, eine große Macht. Ich finde die Tradition alter nordischer Dichtung herausfordernd und inspirierend. Die Wahrheit wurde einem nicht auf einem Silbertablett serviert, sondern durch Fragen, Rätsel und abstrakte Bilder vermittelt. Diese erlauben unterschiedliche Interpretationen, was dem Zuhörer Raum gibt, seinen eigenen Sinn darin zu finden."

Im Übrigen erklärt er: "Ich mache keine norwegische Volksmusik. Aber es gibt viele Elemente in unserer Musik, die auf traditioneller nordischer Musik beruhen, sowohl in der gesanglichen als auch in der musikalischen Technik und Tonalität. Vorrangig glaube ich, dass dies Elemente sind, die früher entstanden sind als das, was man im Volksmund unter traditioneller Musik versteht. Obwohl es nicht mein Ziel ist, Musik aus einer bestimmten Periode zu kopieren, will ich mir doch immer einen festen Untergrund schaffen, bevor ich mich dem kreativen und intuitiven Prozess hingebe. Meine Herangehensweise ist interdisziplinär, mit einem schulischen Denkansatz was die Primärquelle angeht, kombiniert mit meinem eigenen Wissen und meiner Erfahrung als Musiker, Dichter und Fachmann. Ich mache keine Kompromisse, wenn es um meine Kunst geht. Niemand von außen hat irgendetwas zu sagen. Das ist etwas, bei dem ich niemals nachgeben werde, keinen Millimeter."

Anmerken möchte ich nur noch kurz, dass folgende Konzerttermine in Deutschland weiterhin bestätigt sind:
02.07.2022 Gelsenkirchen, Amphitheater
03.07.2022 München, Musik Arena
14.07.2022 Dresden, Weißer Hirsch
In München und Dresden werden zudem Lindy-Fay Hella mit ihrem Soloprojekt und KALANDRA auf der Bühne stehen. In Gelsenkirchen kommt EIVØR zusätzlich hinzu. Zudem wurde erst kürzlich für den 01.12.2022 ein Solokonzert von WARDRUNA im Theater am Potsdamer Platz angekündigt.