WILSON, STEVEN - Hand. Cannot. Erase.
Mehr über Wilson, Steven
- Genre:
- Progressive Rock / Artrock
- ∅-Note:
- 10.00
- Label:
- Kscope (Edel)
- Release:
- 27.02.2015
- First Regret
- 3 Years Older
- Hand Cannot Erase
- Perfect Life
- Routine
- Home Invasion
- Regret
- Transcience
- Ancestral
- Happy Returns
- Ascendant Here On ...
Die Definition des Progressiven.
Ob man sich zum Fanlager von STEVEN WILSON zählt oder nicht: Auf kaum ein Album wartet die Prog-Jüngerschaft gebannter als auf "Hand. Cannot. Erase.". Wilson, ja eigentlich der Prototyp des Sparten-Nerds, ist seit seinem letzten Soloalbum "The Raven That Refused To Sing" in aller Munde. Der Mainstream hat Gefallen gefunden am introvertierten Briten, der scheinbar nicht nur die Rolle des Musikromantikers perfekt ausfüllt, sondern mit seiner Tonkunst einen Nerv abseits seiner eigentlichen Zielgruppe trifft. Dabei war der nicht-singende Rabe eine Hommage an den Progressive Rock der 70er, ein Potpourri an Eindrücken, die Wilson während seiner zahlreichen Remix- und Remaster-Arbeiten an etlichen Klassikeralben verarbeiten musste.
"Hand. Cannot. Erase" ist von einem gänzlich anderen Schlag. Es ist progressiv, aber nicht im Kontext des Genre-Selbstzwecks. Es biedert sich nicht dem Willen der Fans an, es provoziert durch seine poppige Luftigkeit. Es ist auf den ersten Blick eingängig, aber so tiefgründig, wie Musik nur sein kann. Und trotzdem ein homogenes Album, ja eine erzählte Geschichte, die für 65 Minuten alles andere aus der Wahrnehmung des Zuhörers zu verdrängen vermag.
Die wahre Geschichte, auf der das Konzeptalbum textlich fußt, ist die der Joyce Vincents, die drei Jahre lang tot in ihrer Großstadtwohnung lag, ehe sie vermisst wurde. Wilson greift dieses menschliche Drama auf, um die Anonymität der modernen Gesellschaft zu besingen, die Technik- und Ego-Bezogenheit des 21. Jahrhunderts anzuprangern und letztlich dafür zu sorgen, dass man ins Grübeln gerät.
Der musikalische Auftakt steht sinnbildlich für das gesamte Album. Ein sanfter Grundton wird von der pulsierenden Instrumentalfraktion durchbrochen, ehe nach knapp fünf Minuten zum ersten Mal Wilsons Gesang das Geschehen dominiert. Und wäre da nicht das hektische Zappeln der Saiten, das entspannte und doch virtuose Schlagzeugspiel, man könnte '3 Years Older' für einen Popsong halten. In eine ähnliche Kerbe schlagen auch der Titelsong und die Ballade 'Happy Returns'.
Wilson wäre aber nicht Wilson, würde er sich nicht weiter aufs Glatteis wagen. Mit 'Perfect Life' und 'Routine' folgen zwei Songs, die den fragilen, proteischen Charakter des Albums auf die Spitze treiben. Mit sakraler Traurigkeit gelangt das Album so zu seinem ersten Höhepunkt, der mit Knabenchor, Spoken Words und Samples nicht hätte unkonventioneller ausfallen können.
Die oft in Interviews kolportierten "Death-Metal-Riffs" sind in realiter dann doch "nur" herbe Stakkato-Riffs, besorgen am Anfang von 'Home Invasion' aber einen deftigen Kontrast zur vorangegangenen Feinfühligkeit. Die Mannschaft, erneut bestehend aus Guthrie Govan (Gitarre), Marco Minnemann (Drums), Nick Beggs (Bass, Chapman Stick), Adam Holzman (Tasteninstrumente) und Theo Travis (Blasinstrumente), darf sich dann auch mal richtig austoben und im Doppelpack 'Home Invasion' & 'Regret' die klassische Progrock-Keule herausholen.
Nimmt man jetzt noch das ätherische 'Ancestral' hinzu, offenbart "Hand. Cannot. Erase." eine sowohl musikalische als auch emotionale Bandbreite, dass kaum eine andere Band sich getraut hätte, das alles auf einem Album zu verewigen. Aber genau deswegen ist "Hand. Cannot. Erase" auch noch ein Stück mehr STEVEN WILSON als es "The Raven That Refused To Sing" war. Anfangs kopfschüttelnd eingängig, gibt es die vielen Facetten eines Charakters erst nach ausgiebiger Beschäftigung preis. Wirklich selten macht Musik nach mehr als 50 - ich habe aufgehört zu zählen - Durchläufen so viel Freude, rührt einen zu Tränen und lässt den Kiefer herunterklappen wie "Hand. Cannot. Erase." Das mit Abstand beste Album im Prog-Umfeld. Seit Jahren. Und wer weiß, für wie lange.
Anspieltipp: Tonträger einlegen. Genießen. Und wieder von vorne.
Einen Teaser für den letzten Vorgeschmack gibt es hier.
- Note:
- 10.00
- Redakteur:
- Nils Macher