Babycall
- Regie:
- Pal Sletaune
- Jahr:
- 2012
- Genre:
- Thriller
- Land:
- Norwegen
- Originaltitel:
- Babycall
1 Review(s)
11.02.2013 | 10:55Über Mutterliebe, ein zweischneidiges Messer
Anna (Noomi Rapace) beginnt mit ihrem achtjährigen Sohn Anders (Vetle Q. Werring) ein neues Leben. Gerade hat sie die schwierige Beziehung zu Anders' Vater beendet, gemeinsam mit ihrem Sohn zieht sie in einen anonymen Wohnblock. Doch die Angst zieht mit. Und der Beschützerinstinkt, den Anna für Anders entwickelt, steigert sich ins Manische. Als Annas Sorge um Anders so groß wird, dass sie ihn auch nachts nicht allein lassen möchte, kauft sie ein Babyphon. Doch damit hört Anna nicht nur ihren Sohn - andere Geräte überlagern die Frequenz, und so schleichen sich auch Stimmen und Geräusche aus benachbarten Wohnungen ein. Als sie dabei Dinge hört, die auf einen Mord hindeuten, und gleichzeitig seltsame Veränderungen im Verhalten ihres Sohnes wahrnimmt, gerät Anna immer mehr in Panik... (Verleihinfo)
Filminfos
O-Titel: Babycall (NOR 2012)
Dt. Vertrieb: Eurovideo NFP
VÖ: 14.2.2013
EAN: 4009750205853
FSK: ab 16
Länge: ca. 93 Min.
Regisseur/ Drehbuch: Pal Sletaune
Musik: Fernando Velázquez
Darsteller: Noomi Rapace (Anna), Kristoffer Joner (Helge), Vetle Qvenild Werring (Anders), Henrik Rafaelsen (Lege) u.a.
Handlung
Eine männliche Stimme fragt die zerschmettert am Boden liegende Anna, wo ihr Sohn Anders sei. Anna erinnert sich...
Anna zieht mit ihrem Sohn Anders in einen anonymen Wohnblock ein. Sofort richtet sie ihre eigene Wohnhöhle ein, und Anders, obwohl schon acht Jahre alt, muss neben ihr im Bett schlafen. Als das Jugendamt, das ihr diese komfortable Wohnung verschafft hat, dies moniert und außerdem kritisiert, dass sie ihn nicht zur Schule schickt, passt sie sich an. Sie will nicht riskieren, dass es nach dem vorerst gewonnenen Prozess, den sie gegen Anders' Vater geführt hat, Rückschläge gibt.
Sie sorgt sich um Anders, so sehr, dass sie nicht nur den ganzen Tag vor der Schule auf ihn wartet, bis die Schulleitung sie wegschickt. Sie kauft auch ein Babyphon, mit dem sie überwachen kann, ob er schläft. Der Verkäufer ist nett, wenn auch schüchtern. Helge heißt er, und seine alte Mutter liegt im Sterben. Hinterm Hochhaus liegt ein Wald, und als sie eine Mutter ihr Kind dorthin führen sieht, geht sie den beiden nach. An einem See liegt ein idyllischer See, und die beiden anderen sonnen sich auf einer Decke am Ufer. Wie schön. Als sie Anders davon erzählt, muss sie ihm versprechen, ihm eines Tages dieses schöne Fleckchen zu zeigen.
Schreie im Babyphon! Sie wecken Anna und treiben sie in Panik ins Kinderzimmer. Doch Anders schläft friedlich in seinem Bett. Die Schreie im Gerät sind die eines kleinen Jungen, der sich vor einem Mann fürchtet und um Hilfe schreit. Das erinnert sie an Anders' Vater, der ihn erst in der Badewanne ertränken und dann aus dem Fenster werfen wollte, wie sie dem Gericht gesagt hat. Als sie Anders nicht zur Schule gehen lässt, kommen die Beamten des Jugendamtes vorbei und drohen mit einer Wiederaufnahme des Prozesses. Einige ihrer Angaben haben sich als unwahr herausgestellt, und der Vater dringt auf das Sorgerecht für seinen Sohn.
Wegen den Stimmen im Babyphon geht sie zu Helge, dem Verkäufer. Man braucht bloß den Übertragungskanal zu wechseln, meint er, und schon herrscht Frieden. Aber die Schreie hören nicht auf. Sie macht sich an die Aufgabe, die Position des anderen Babyphons, das sie empfängt, zu bestimmen. Es ist eine ganz bestimmte Wohnung im 5. Stock. Sie trägt die Position auf der Zeichnung ein, die Anders vom Wohnblock akkurat angefertigt hat. Woher kommt der Blutfleck, fragt Anders anklagend. Ein tiefroter Fleck verunstaltet das Blatt Papier. Sie kann sich nicht erinnern.
Als Anders verängstigt weg rennt, eilt sie ihm in die Tiefgarage nach. Dort sieht sie, wie eine Leiche, in einen blauen Schlafsack gehüllt, abtransportiert wird. Sie wendet sich an Helge. Wo, was für eine Geschichte, lacht er. Sie habe wirklich viel Fantasie. Er habe sie hier schon mal hier im Café, wo er die Mittagspause verbringt, gesehen. Das streitet sie entschieden ab. Aber sie gibt zu, manchmal Aussetzer in ihrer Erinnerung zu haben. Als Beweis ihrer aktuellen Präsenz macht er ein Digitalfoto von ihr und sie eins von ihm. Als Anders das ausgedruckte Foto von Helge sieht, wird er vor Eifersucht wütend. Wenig später taucht ein Foto seines Vaters über seinem Bett auf. Hat er ihn getroffen? Will sein Vater ihn ihr wegnehmen?! Anna bewaffnet sich mit einer großen Schere, die sie neben ihr Bett legt. Sie wird sie bestimmt schon bald brauchen.
Das Jugendamt entdeckt weitere Lügen Annas, als sie sich bei der Schulverwaltung beschwert, die die Beamten ruft. Sie war ja nie Lehrerin, wie sie im Prozess behauptete. Der männliche Beamte macht ihr anzügliche Angebote, falls sie ihm "ein wenig entgegenkommt", sonst müsse er Anders ins Heim einweisen lassen. Zur Abwehr des potentiellen Vergewaltigers lädt sie den schüchternen Helge zum Abendessen ein. Er hat inzwischen seine Mutter dahingehen lassen.
Am Nachmittag geht sie mit Anders, wie versprochen, in den nahen Wald und dann weiter zur Hütte am See.
Aber da ist kein See, beschwert sich Anders. Da ist nur ein Parkplatz...
Mein Eindruck
Was ist wahr, was passiert nur in unserer Vorstellung? Dieser Frage stellt der Fall von Anna, mit der Helge Bekanntschaft schließt. Dass sie existiert und dass er existiert, belegen Fotos und Stimmaufzeichnungen, ja, auch ihre beängstigend paranoiden Tagebuchaufzeichnungen. Doch dass es Anders und seinen namenlosen Freund gibt, dass es die Jugenamtleute gibt, dafür existiert kein Beweis. Gut möglich, dass sie nicht nur das Gericht, sondern auch Anders, falls existent, und Helge anlügt, also auch uns, die stummen Zeugen.
Die besondere, geradezu kafkaeske Reiz der Handlung ist ihre Zweifel- und Symbolhaftigkeit. Warum trägt Anders Blutergüsse an den Armen und auf dem Bauch, wenn er doch nur in Annas Einbildung existiert? Welchen Jungen hat Helge, der reale Zeuge, wirklich in Annas Wohnung gesehen und warum gibt es von diesem Junge keine Spur mehr?
Als Anna und Helge zeitversetzt ihren jeweiligen Hinweisen folgen, stoßen sie auf ein unglaubliches Verbrechen. Die Ironie liegt darin, dass Anna höchstwahrscheinlich geistig verwirrt ist, als sie auf die Tat stößt, und Helge völlig bei Verstand ist, als er das traurige Ergebnis der Tat findet. Doch woher stammt der Hinweis, dem er gefolgt ist? War es Anders oder Anna, der das Grab im Wald auf Anders' blutverschmierten Zeichnung eingezeichnet hat?
Es ist nicht unmöglich, dass ein menschliches Gehirn mehrere Bewusstseine entwickelt. Fälle von multipler Persönlichkeit wurden von Daniel Keyes in "Billy Milligan" und "Die fünfte Sally" aufgezeichnet. Viele Filmfans kennen auch den Fall des multiplen Killers aus "Identität", dem Thriller, in dem John Cusack eine Leiche nach der anderen findet.
Ein solcher Thriller, der den Zuschauer zunehmend verwirren will, funktioniert nur dann, wenn die Figuren völlig und von A bis Z glaubhaft sind. Anna tritt erstmals als Sterbende auf, nicht etwa in ihrer Wohnung, sondern auf dem winzigen Rasenfleckchen, das etwa 15 Meter darunter liegt. Ihr Anblick ist ein Schock, der jeden Partybesucher aufwecken dürfte. Hier geht es um die letzten Dinge, wird klar. Noomi Rapace spielt Anna beklemmend gut, und wir bangen mit ihr, wenn sie glaubt, dass sich das Monster des Vaters ihr wieder nähert und ihrem Sohn, ohne den sie nicht leben will. Wenn es je einen Fall von Besessenheit gab, dann Anna.
Noomi läuft wie eine vernünftige Frau durch die verlassenen, hell beleuchteten Gänge ihres Wohnblocks, in der Hand das Babyphon wie eine Art Geigerzähler, um die Quelle des Geschreis eines gequälten Junge aufzuspüren. Wie krank ist das? Ist das nicht doch vernünftig? Ist Paranoia heutzutage bereits mit Besorgtheit um Mitmenschen zu verwechseln? Gut möglich, dass die Anonymität der modernen Wohnrealität solche Paranoia, wie Anna sie an den Tag zu legen scheint, gefördert, vielleicht sogar erst ermöglicht wird. In Lindqvists Vampirgeschichte "Let me in" (siehe meinen Filmbericht) beispielsweise waren es auch moderne Wohnblöcke, die den Monstern Zuflucht boten - und jede Menge Jagdbeute.
Regisseur Pal Sletaune sagt über seinen Film BABYCALL sehr interessante Dinge:
,,BABYCALL ist ein Film über eine moderne Heldin. Er geht der Frage nach, wie viel ein Mensch ertragen kann, und wie weit die Hauptfigur Anna - wie jeder andere Mensch auch - sich seine eigene Welt schafft.
BABYCALL ist ein emotionaler Thriller über Einfühlungsvermögen, Ängste, und die Grenzen unserer Wahrnehmung. Er nimmt den Zuschauer mit in die beklemmende Welt der Hauptfigur, mit ihr bewegt er sich durch unbehagliche und verstörende Situationen, in denen auf niemanden Verlass ist.
BABYCALL hat einen sehr reduzierten Stil, der unser Gefühl verstärken soll, dass das, was wir sehen, real ist. Als dann aber Annas Wirklichkeit immer mehr zu zerbröckeln beginnt, fangen wir an, mit ihr zu verzweifeln, und fragen uns selbst, was Realität und was Einbildung ist.
Das führt uns zu der Frage, wer eigentlich darüber entscheidet, was in unserem Leben wirklich ,real' ist. Wie die meisten anderen Menschen bin auch ich sehr durch meine Erziehung beeinflusst, und ich habe mich immer sehr für die Mechanismen interessiert, die die zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmen.
Als ich dann selbst Vater wurde, wurde mir immer mehr bewusst, wie empfindlich und verletzlich die Beziehung zwischen Eltern und Kindern sind. Ich wollte diese Thematik schon lange in einen Film umsetzen, und als ich dann das Drehbuch zu BABYCALL schrieb, habe ich gemerkt, dass dies auch eine Geschichte darüber ist, dass Liebe das gefährlichste aller Gefühle sein kann.
Ich wünsche mir und hoffe, dass BABYCALL die Zuschauer sowohl schockiert als auch bewegt,dass es ein Film ist, der einen Eindruck der menschlichen Verletzlichkeit und Träume hinterlässt."
Die DVD
Technische Infos
Bildformate: 2,35:1 (16:9)
Tonformate: D in DD 5.1, Norwegisch mit dt. Untertitel in DD 5.1
Sprachen: D, NOR
Untertitel: D
Extras:
- Kinotrailer
- Deleted Scenes (dt. Untertitel, ca. 5 min)
- Programmvorschau
Mein Eindruck: die DVD
Die Qualität von Bild und Ton ist einwandfrei. Im Bild konnte ich keinen Fehler feststellen, und wie gut die Tonaufnahmen gelungen sind, lässt sich leicht anhand des Blätterrauschens im Wald ablesen: Da gibt es kein verwischtes Rascheln oder Zischeln, wie es noch in Robert Zemeckis "What lies beneath" (hervorragend mit Harrison Ford und Michelle Pfeiffer besetzt) zu hören war.
Dass die deutsche Tonspur keine Untertitel anbietet, finde ich gar nicht nett, denn Hörbehinderte haben dann wenig davon. Dafür kommt diese Zuschauergruppe dann bei der Tonspur des Originals auf ihre Kosten, denn dort gibt es deutsche Untertitel. Fragt sich nur, warum man dieses Privileg nicht auch der deutschen Tonspur gegönnt hat.
EXTRAS
1) Kinotrailer (1:55 min)
Schon der sehr ruhig erzählte Trailer zeigt auf, dass etwas an Annas Sicht der Dinge nicht stimmen kann. Dann kommt es zu einer dramatischen Zuspitzung. Natürlich will man jetzt das Rätsel lösen. Aber der Neugierige sei gewarnt: Die FSK-16-Einstufung hat ihren guten Grund...
2) Deleted Scenes (dt. Untertitel, ca. 5 min)
Dieser Menüpunkt fand sich nicht auf meinem Presseexemplar. Deshalb kann ich dazu nichts sagen.
3) Programmvorschau
a) Alles wird gut
b) Bessere Zeiten
c) Carlos - der Schakal (siehe meinen Bericht)
d) Das letzte Schweigen
e) Die Einsamkeit der Primzahlen
f) Haus der Sünde
g) Headhunters (siehe meinen Bericht)
h) Zimmer 205
Unterm Strich
"Babycall" beginnt ganz eindeutig und vertrauenerweckend, doch dann muss der Zuschauer mehr und mehr erkennen, dass er aufs geistige Glatteis geführt worden ist. Doch dann ist es schon zu spät, um noch umzukehren. Er steht vor der Wahl, entweder seine Sympathie für die Hauptfigur aufzugeben oder ihr bis ans bittere Ende ihres Weges zu folgen.
Der Regisseur, dessen Statement ich oben in aller Ausführlichkeit, wiedergegeben habe, stellt den Zuschauer vor die Wahl: Willst du dieser Mutter namens Anna wirklich vertrauen oder gehst du lieber den Zweifeln auf den Grund, die an ihrer Darstellung bzw. Wahrnehmung der Geschehnisse aufkommen? Allein schon diese Wahl erfordert vom (erwachsenen) Zuschauer, dass er sich mit der Liebe zwischen Mutter und Kind auseinandersetzt. Die kann, wie Sletaune sagt, eine sehr gefährliche Sache sein. Sie kann, wie sich zeigt, zu einer multiplen Persönlichkeit führen.
Noomi Rapace braucht keinen Irokesenschnitt wie in der Millennium-Trilogie, um überzeugend die paranoide, possessive Mutter zu spielen. Ihre Anna ist zwar manisch, aber nicht dämlich. Sie weiß, wie man mit einem Babyphon umgeht, sich Hilfe holt und wie man systematisch vorgeht, um ein zweites Babyphon aufzuspüren - und das in einem Ameisenhaufen von Wohnblock, wo jede Tür genauso aussieht wie die nächste.
Auch ihre Besessenheit hat Methode. Sie weiß genau, dass sie deswegen nicht zum Arzt gehen darf, denn der würde ihr umgehend das Sorgerecht für den geliebten Sohn entziehen. Da beißt sich also die Katze in den Schwanz. Der Wahnsinn ist sich selbst sein bester Freund. Das bedeutet auch, dass ihr eingebildeter Sohn Anders einen Freund hat, der ihm hilft - und den der außenstehende Zeuge Helge konkret und real vor sich sehen kann. Stellenweise fragte ich mich, ob dies wohl ein Film über Geister sei.
Helge ist auch der einzige Beweis, dass Anna nicht vollkommen ihrem Irrgarten aus Selbsttäuschungen ausgeliefert, sondern dass sie einen realen Kern hatten. An diesem Punkt findet der bislang so verunsichernde Film wieder zu einem wohlbekannten Genre: dem skandinavischen Thriller. Wer also behauptet, der Schluss ergebe keinerlei Sinn, sitzt einem Irrtum auf: Alles wird erklärt, kein loser Faden bleibt zurück. Wer's partout nicht glaubt, der schaue den Film noch einmal an.
Es ist nur Helges Liebe für Anna zu verdanken, dass er den versteckten Hinweisen nachgeht und im nahen Wald ein echtes Opfer findet. Ohne diese Liebe, die man in anonymen Wohnblöcken selten findet, wäre der reale Mord nie entdeckt und gesühnt worden. Liebe, so lernen wir, ist die beste Detektivin - und die schlimmste Mörderin.
Die DVD
Die Silberscheibe bietet neben einem einwandfreien Bild eine Auffälligkeit bei den Untertiteln: Es gibt sie nur in der Tonfassung des norwegischen Originals. Die Extras bestehen vor allem aus Werbung. Die in den Online-Informationen versprochenen Deleted Scenes habe ich auf meinem Presseexemplar jedenfalls nicht finden können.
Michael Matzer (c) 2013ff
- Redakteur:
- Michael Matzer