Gruppentherapie: AMORPHIS - "Borderland"
10.10.2025 | 18:34Laufen, schnaufen, tanzen? Oder doch lieber ein Glas Whiskey?
Langsam robben wir uns an den Soundcheck-Thron des Monats September heran. Nach CEA SERIN (Platz 4; zur Gruppentherapie) und PARADISE LOST (Platz 3; zur Kollektivbelauschung) geht es nun um die Silbermedaille. Die geht an AMORPHIS mit dem neuen Album "Borderland". Unser Frank, der Jäger und alte AMORPHIS-Fan, findet auch dieses fünfzehnte Album der Finnen exzellent, obwohl es Growls enthält. Auch die Soundchecker hatten abgesehen von Rauhbein Rüdiger kaum etwas zu mäkeln. Da wir das Album auch mit einer Listening-Session, einem Interview und einer Pommesgabel-Folge featuren, mag man sich fragen, warum man hier noch eine Therapie braucht. Nun, manchmal feiern wir eben Musik, weil wir uns mit ihr wohlfühlen. Und vielleicht findet sich ja doch noch einer, dem das hier zu viel Geschmuse ist!?
Die Finnen sind wieder da und haben zugleich auch ihren Schwan wieder mit von der Partie. Welch wunderschönes Artwork, welch warmer Klang, welch verträumte Melancholie, welch Melodien zum Dahinschmelzen und Einbetten. Stilistisch trennen AMORPHIS und PARADISE LOST einige Welten, doch beide Alben, sowohl "Borderland" auf der einen als auch "Ascension" auf der anderen Seite, haben diesen absoluten Wohlfühlfaktor, der sich binnen weniger Augenblicke bereits festsetzt.
Irgendwo zwischen Schönheit und Epik versteht es wohl keine andere Band so gut, so eindringlich - und das bereits seit vielen Alben - Licht und Schatten zu einer feinen Symbiose zu verschmelzen und die Schönheiten beider Facetten derart gut zu inszenieren. Dieser schmale Grat, dieser sensible Balanceakt ist es doch, der die AMORPHIS-Alben auszeichnet und sich auch heuer zu einer großen Stärke entwickelt. Gegensätze ziehen sich an ('Light And Shadow'), bilden einen herrlichen Kreis zu vorangegangenen Werken ('The Circle'), dürfen auch mal überraschen, lassen gar das Tanzbein schwingen ('Dancing Shadow'), nur um anschließend komplett in den Bann zu ziehen ('The Strange').
Keine Worte können so schön sein wie größtenteils die Arrangement auf "Borderland". Daher schließe ich den Beitrag und widme mich einmal mehr diesem Kunstwerk der Finnen.
Note: 9,0/10
[Marcel Rapp]
Was für ein geiles Teil, was für eine Offenbarung. Ich bin von Anfang bis Ende bei Marcel. Das Schöne, wenn man wie ich erst im fortgeschrittenen Alter zu Heavy-Metal-Klängen gefunden hat, ist ja: Ich kann im Jahr 2025 noch Bands für mich entdecken, die es quasi schon gibt, seit ich auf der Welt bin. "Borderland" ist mein erster richtiger Kontakt mit AMORPHIS und ich bin hin und weg.
"Sei vorsichtig mit Superlativen!", hat Papa mal gesagt. Blabla. 'Dancing Shadow' ist für mich schon im September der beste Song des Jahres und 'Light And Shadow' schafft es vermutlich auch ohne Anstrengungen in meine Top Fünf. Jeder einzelne Song auf dem Album gefällt mir ausgezeichnet. Gehört nicht zum Thema, aber "Borderland" zu hören und etwas dazu aufzuschreiben, hat bei mir binnen drei Tagen zum Kauf der halbe AMORPHIS-Diskografie geführt. Die zweite Hälfte folgt jetzt.
Note: 9,0/10
[Nils Pfennig]
Mit "Borderland" ist das so eine Sache. Das Album läuft das erste Mal durch und ebenso dermaßen schnell auch wieder aus meinem Kopf raus, dass ich zwar angenehm berührt, keineswegs aber völlig begeistert bin. Doch je mehr und je intensiver ich mich mit der Platte auseinandersetze, desto tiefer bin ich in die neue Welt der Finnen eingetaucht und habe vollste Zufriedenheit, ja gerade Glückseligkeit erfahren. Klingt pathetisch, aber genau so muss ich das umschreiben.
Nachdem ich seinerzeit mit "Tales From The Thousand Lakes" von dieser finnischen Band überrascht wurde, konnte ich AMORPHIS immer mal wieder starke Alben nachsagen und auch Tomi Joutsen hat es nach seinem Einstieg geschafft, selbst den seltenen nicht ganz so starken Platten etwas Positives einzuhauchen. An "Borderland" habe ich mittlerweile so gut wie gar nichts mehr auszusetzen. Warum nicht?
Nun, die Platte strotzt nicht vor Hits und die Songs kommen auch nicht wirklich spektakulär daher. Aber es sind die feinen Nuancen, die das Werk so stark machen. Obwohl es vordergründig eigentlich zehn absolut typische und für eine Progband schon fast langweilig zu nennende Songs enthält, so ist es eben auch diese absolut konstante Gemütlichkeit, mit denen die Jungs das hier konsequent durchziehen. "Borderland" ist für mich ganz persönlich das exakt richtige Album zur richtigen Zeit.
Note: 9,5/10
[Frank Wilkens]
Für mich war und ist AMORPHIS eher ein Randthema. Allerdings ist es einer der großen Vorteile der Tätigkeit als Musik-Journalist, dass man sich auch immer mal wieder mit gefühlten Randthemen beschäftigen muss, oder besser gesagt: darf!
Meinen ganz persönlichen musikalischen Nerv trifft AMORPHIS auch mit "Borderland" nicht, aber ich anerkenne unumwunden, dass mein Respekt und meine Hochachtung vor dieser Band nach dem Genuss der Platte einmal mehr gestiegen sind. Das Songmaterial ist bemerkenswert kompakt und kohärent, da sitzt jede Note am richtigen Fleck, jeder Effekt, jeder Akzent ist wohl gesetzt, jede Harmoniebrücke verbindet die Ufer mit meisterhafter Sicherheit und gelassener Klarheit.
Musterbeispiel ist ein Song wie 'Bones': Wie AMORPHIS hier großflächige Melodien mit Heavy-Rock-Pinselstrichen, Düstergroove und episch-symphonischer Grundierung zusammenführt, das könnte man in ein Buch über zeitlose Kompositionslehre aufnehmen. So geht es dann weiter auf der Reise durch eine knappe Stunde schwermütige Eleganz, melodische Meisterschaft und freundliche Melancholie. An deren Ende ist man beschwingt und berührt zugleich, aber auch ein wenig eingelullt aufgrund der fehlenden Ecken und Kanten und der graduellen Zunahme von Pop-Musik über die Spielzeit von "Borderland" hinweg. Kein Meilenstein, aber - summa summarum - ein angenehmes Hörerlebnis beschert von hervorragenden Musikern.
Note: 8,0/10
[Martin van der Laan]
Gemütlichkeit, Plätschern, Wohlfühlfaktor – und plötzlich purzeln die guten Noten wie reife Äpfel. Mein Gott, seid ihr alt geworden, liebe Kollegen! AMORPHIS stand einmal für psychedelischen Death Metal aus dem Land der Tausend Seen: episch, folkloristisch – und ja, tanzbar. Heute wirkt das Bild eher wie ein plüschiger karhu (Bär), der sich am mückenverhangenen Seeufer in der Spätsommersonne räkelt. Die Dämmerung, erste Boten des Herbstes und die lange dunkle Jahreszeit sind spürbar – aber noch hält er sich an seinem Cocktail fest. Ein durch und durch flauschiges Gesamtbild. Das macht es Neueinsteigenden leicht, "Borderland" und die Band zu mögen – cool.
Für Langzeit-Fans ist es einfach ein weiteres Album: an manchen Stellen etwas glatter, hier und da weniger Kanten, dezent weniger überladen als die jüngeren Alben. Aber an das beste Album der AMORPHIS-Welt der vergangenen Jahre reicht es für mich nicht heran – und nein, ich meine nicht die Klassiker. Vor ein paar Jahren veröffentlichte Esa Holopainen mit seinem Solo-Projekt "Silver Lake": kein Best-of, sondern neue Songs mit hochkarätigen Gaststimmen, die der AMORPHIS-DNA verblüffend nah kommen - und sogar eins draufsetzen an Explorationsfreude und Virtuosität. Wenn ich heute dieses spezielle Gefühl suche, lande ich eher dort – ohne die ersten 15 Bandjahre wieder und wieder zu beschwören.
"Borderland" wird trotzdem seinen Weg in meine Ohren finden – in Playlists, in Momenten. Denn auch ich bin älter geworden und lasse mich gern songweise vom gemütlichen Wohlfühlfaktor umplätschern, während ich whiskeyschlürfend an der Isar die Spätsommersonne auf die Plautze blitzen lasse. Für die ganz große Ekstase fehlt mir diesmal der Kick – aber für den warmen Sog reicht es allemal.
Note: 7,0/10
[Julian Rohrer]
Ich kann Julians Gefühlslage gut nachvollziehen. Seine Beschreibungen des neuen Bandsounds treffen den Nagel ziemlich genau auf den Kopf. Nur: Ich sitze weder an der Isar noch habe ich das Bedürfnis nach einem Glas edlen Whiskeys. Stattdessen laufe ich lieber (manche würden sagen: ziemlich viel) und brauche daher ständig Nachschub für meine Running-Playlist. Außerdem bin ich klar Team Party statt Chill-out, also eher der Typ Absinth-Vanille-Coke. Soll heißen: Für sportliche Einheiten darf es gerne eingängig sein, und sobald etwas tanzbar wird, spitze ich ohnehin die Ohren. Bei Nummern wie 'Dancing Shadow' oder 'Light And Shadow' bin ich daher fast versucht, Höchstnoten zu zücken.
Nachdem AMORPHIS mit "Halo" den letzten Albumzyklus beendet hat (im Rückblick würde ich meine damaligen 9,0 Punkte sogar leicht auf 8,5 Punkte abwerten), war ich mir sicher, dass nun spürbare Veränderungen im Sound folgen würden. Aber dass das neue Werk derart poppig, zugänglich und ballaststoffarm daherkommt und dabei gleichzeitig alle Hits der letzten Jahre in den Schatten stellt, hätte ich nicht erwartet. Ein Refrain wie in 'Bones' gehört für mich zum Besten, was ich in diesem Jahr im Genre gehört habe.
Und es bleibt nicht bei einem einzelnen Glanzmoment. Hier marschiert Hit auf Hit, sodass ich mir bereits nach der ersten Albumhälfte verwundert die Augen reibe. Doch ein Best-of kann es nicht sein, denn schließlich kenne ich die Diskografie in- und auswendig.
Kritikpunkte? Eigentlich nur Kleinigkeiten. Das Artwork erinnert unweigerlich an "Silent Waters" und das war bekanntlich eines der schwächeren Kapitel der Bandgeschichte. Außerdem kommt "Borderland" leider einen Monat zu spät. Bei meinem TAR-Lauf über die Alpen hätte ich dieses Album gerne schon im Gepäck gehabt. So bleibt am Ende vor allem das Gefühl, hier möglicherweise das Ohrwurm-Album 2025 vorliegen zu haben.
Note: 9,5 / 10
[Stefan Rosenthal]
Fotocredits: Frank Jäger
- Redakteur:
- Thomas Becker