Gruppentherapie: APRIL ART - "Rodeo"

02.11.2024 | 16:59

Zerkratzte Brillen und blutende Ohren nach diesem Hit-Rodeo?

Seit ein paar Tagen ist der Oktober-Soundcheck von der Leine, also wird es allerhöchste Zeit, uns ein paar kontroverse Alben vorzuknöpfen. Fangen wir an mit einer Metal-Hoffnung aus deutschen Landen, APRIL ART. Genau, alte Hasen und graue Ohren dürfen gerne die Nase rümpfen, wenn ich hier "Metal" schreibe, aber so klingt unsere geliebte Spielart eben heute auch. Unser Tobi ist schwer begeistert, gibt für die jungen Wilden fast alle verfügbaren Notenpunkte (zum Review von "Rodeo") und das Interview mit Sängerin Lisa-Marie war natürlich Chefsache. Aber es gibt auch Widerspruch. Der eine macht die Band für seine zerkratzte Brille verantwortlich, der andere versucht seine Ohren mit Klanganalyse-Tools zu retten.



APRIL ART böllert uns Metalcore mit Frauengesang um die Öhrchen. Der Titelsong von "Rodeo" ist zugleich der Opener des Albums, der auf die Kontraste zwischen harten Strophenphasen und weiten, melodischen Refrains aufbaut. Die ersten Sekunden gefallen mir, tönen sie doch etwas nach dem irren Professor TOWNSEND, doch wenn der Gesang einsetzt, wird es sehr plakativ. Übrigens auch beim Nachfolgetrack 'Burn', Schablone, tausendmal gehört. 'Who I Never Meant To Be' klingt genauso, im wahrsten Sinne, dachte erst, ich hätte zurückgeskippt. Nun ja, warum auch nicht?

Bei 'Not Sorry' nerven dann Gesang und Breitwandchorusse auf eine Weise, dass ich es kaum schaffe, das Liedchen zu Ende zu hören. 'On Your Side' ist erst in der Strophe Ballade, um dann erneut in stadionkompatiblem, ausgelutschtem Mainstream zu mäandern. Unentwegt werden Zeilen wiederholt, es klingelt, trötet, rasselt. Es wird permanent Unruhe verbreitet, jedoch kein Flow oder Atmosphäre, auch keine Ekstase, wie es zum Beispiel das raffiniert aufgebaute 'Deceiver, Deceiver' von ARCH ENEMY so schön vormacht. Okay, Alissa spielt wie auch die Band in einer anderen Liga, dennoch drängen sich hier Vergleiche auf: So kann man nämlich auch komponieren, mit Spannung, Breaks, sinnvoll abgestimmten Parts, ohne jedes Gegurke.

Mich spricht bei APRIL ART wirklich nichts an. Leicht karnevalistische Discoklänge dann in 'Jackhammer': Au weia, das Album möchte eine Qual sein und das schafft es mühelos. Grässlich der Refrain, der im Grunde alle anderen verwendeten, furchtbaren Schrammel-Chöre aufgreift und minimal variiert. An das beschriebene Schema halten sich alle Tracks ohne Ausnahme. Verschachteltes, unausgereiftes Riffing und diese leicht sägende Voice der Grand Dame fräsen einem in 40 Minuten wirklich sämtliche Gläser von der Sehhilfe. Wenn ich da Produzent wäre, würde ich tatsächlich alles ändern. Es muss ja nicht so krachen wie ARCH ENEMY oder in die DORO-Richtung gehen, aber Oktoberfest mit schiebenden Gitarren ist auch nur dann zu empfehlen, wenn man sechs oder acht Maß intus hat oder eher gar nicht, wenn man mich fragt.

Note: 5,0/10
[Matthias Ehlert]

 

So wirklich Metalcore bietet APRIL ART nicht, finde ich. "Rodeo" ist doch eher in einem Koordinatensystem zwischen Metalcore, Nu Metal und etwas modernem Hard Rock anzusiedeln. Wenn man sich als traditionalistischer Metalfan die Videos und die Social-Media-Arbeit anschaut, dann will man das eigentlich doof finden. Mir geht es zumindest so. Aber dann höre ich diese Songs und merke: Die Jungs und Sängerin Lisa-Marie können eindeutig Hits schreiben. Lisa-Marie ist eine totale Rockröhre, die vor jeglichem Kitsch zurückschreckt und ihren Job enorm gut macht. Was mir auf dieser Scheibe zudem ausgesprochen gut gefällt: Die Gitarrenriffs sind melodisch, abwechslungsreich und wesentlich verspielter als man es vielleicht bei solchen durchaus auf Hittauglichkeit getrimmten Songs vermuten würde. Das straighte Drumming treibt die Scheibe nach vorne.

Da auf nervige Dance-/Elektro-Effekte weitestgehend verzichtet wird, tappt die Truppe nicht in die Falle vieler "moderner" Metalbands, die letztlich langweiligen Euro Dance mit E-Gitarren unterlegen. Einziger Ausfall ist für mich 'Jackhammer' - hier geht wohl alles schief, was man im modernen Metal so befürchten muss. Aber dieser eine Totalausfall wird völlig abgefedert durch zehn weitere Songs (auch der Akustik-Track kann was), die letztlich zeigen, wie Nu Metal mit Metalcore-Einflüssen 2024 richtig stark sein kann, ohne unnötige Anbiederungen an den Zeitgeist zu leisten.

Note: 8,5/10
[Jonathan Walzer]

 

"Rodeo", das dritte Album von APRIL ART, war meine Nagelprobe des Oktober-Soundchecks, denn es wollte einfach nicht zulassen, dass ich es mir leicht damit mache. An sich ist moderner Metalcore mit Nu-Metal-Versatzstücken schon von Grund auf nicht mein Ding. Doch ich habe die Truppe mit dem Fetisch für die Farbe Rot heuer beim "Rock am Härtsfeldsee" live gesehen, und irgendwie hat mir das dann doch gefallen. Warum auch immer. Der Drive, die Performance, die Ausstrahlung, die Songs: Sie rangen mir Respekt ab und erzeugten ein gewisses Interesse an dem kommenden Album, gerade weil ich auch gerne mal was anderes höre. Dann war die Promo endlich da, und was ist beim ersten Durchlauf passiert? Nun, ich hätte sie am liebsten direkt wieder am Fenster hinaus geschmissen! Aber mach das mal mit einer digitalen Promo! Iss nich... wie man auf Neudeutsch sagt.

Was ist passiert? Nun, die Produktion ist für meine in den Achtzigern und Neuzigern geeichten Lauscher einfach grausam und tut mir physisch weh. Ernsthaft. Und so habe ich mir das mal in Audacity genauer angeschaut, und das Maß an Kompression und Übersteuerung ist wirklich eindrucksvoll. Die Snare ist völlig drüber, und die Sibilanten im Gesang clippen immer mal wieder. Wenn jemand meinte, dass der Loudness War spätestens seit dem Beginn des dritten Jahrzehnts des dritten postmessianischen Jahrtausends endlich mal ausgefochten und befriedet sein sollte, dann ist APRIL ART samt den befassten Produzenten wohl angetreten, um das Gegenteil zu beweisen. Hier scheint der Krieg um den ballerndsten Sound nicht enden zu wollen. An der Stelle war ich so weit, und wollte schon eine richtig miese Note zücken, so ganz knapp oberhalb des Gefrierpunkts.

Doch Hinweise der Kollegen, dass andere Bands da nicht viel besser seien, auch im stilistisch klassischen Metier, und dass es irgendwie ja auch zum Stil der Band passe, ließen langsam aber sicher eine gewisse Milde einkehren. Das Album bekam eine weitere Chance, und noch eine, und als es dann schließlich offiziell veröffentlicht war, lief es dann auch mal über einen Streamingdienst, und siehe da und höre da: Der Mix fürs Streaming ist etwas angenehmer in den Öhrchen als jener der Promo. Noch immer zu laut, zu komprimiert und übersteuert, aber eben nicht mehr in dem Maße, dass dir das Ohr wegfliegt und du Migräne bekommst. So bleibt am Ende dann doch ein Einsehen meinerseits, dass die Soundästhetik einer Band nicht komplett den Schnitt verhageln sollte, wenn sie kompositorisch und musikalisch was zu bieten hat, und das ist bei APRIL ART der Fall. Sängerin Lisa-Marie Watz hat eine kraftvolle, charismatische Stimme, die sie vielseitig einsetzt; die Songs sind eingängig und abwechslungsreich, und am Ende punktet man auch mit der Durchschlagskraft der Riffs. Wenn man sich also mal an moderne, harte Rockmusik irgendwo im Quadrat zwischen den Eckpunkten INFECTED RAIN, ELECTRIC CALLBOY, SLIPKNOT und EVANESCENCE herantasten möchte, dann ist APRIL ART sicher nicht die schlechteste Option, und so gibt's unterm Strich einen wohlwollenden Sechser, der auch ein bisschen besser hätte sein können, wenn man das Ding nicht permanent bis zum Anschlag aufgerissen, sondern dem Sound ein kleines bisschen Dynamik gegönnt hätte. Leute, manchmal ist weniger echt mehr!

Note: 6,0/10
[Rüdiger Stehle]

Interessant, zu welchen anspruchsvollen Analysen APRIL ART manche meiner Kollege offenbar einlädt. Ich muss gestehen, dass ich zunächst mal einfach nur Spaß mit "Rodeo" hatte, weil da ganz viele knackig frische und gute Laune machende Lieder drauf sind. Mein erster Eindruck war "GUANO APES meets Metalcore in ziemlich gut". Mir macht diese Musik beim Autofahren genau so viel Freude wie in der Küche beim Zwiebeln schneiden oder beim Workout, ich mag besonders die energische Stimme der Powerfrau am Mikro und alles andere, wie zum Beispiel der komische Gitarrensound, kümmert mich zunächst mal nur in zweiter Linie.

Eine ganz hohe Wertung ist leider nicht drin, weil das Ganze auf Albumdistanz zu wenig Variabilität und kompositorische Tiefe zeigt. Gerade in der zweiten Halbzeit mischt sich doch etwas zu viel seelenloses Geballer in die Musik. Da müsste APRIL ART doch noch mal nachlegen, um mich in allen Belangen zu überzeugen. Aber wunderbar lebendige und ohrwurmige Lieder wie 'Burn' oder 'Not Sorry' würde ich gerne mehr und öfter hören. Makes my day!

Note: 7,5/10
[Martin van der Laan]

 

Wenn jemand einen Tipp für moderne Rock-Sounds aus Deutschland möchte, dann ist APRIL ART definitiv die aktuell erste Wahl und Band der Stunde. Wie Martin schon richtig aufgezeigt hat, gibt es auf "Rodeo" eine ganze Reihe an formidablen Hits und Ohrwürmern, welche die Konkurrenz aus Übersee nicht zu scheuen brauchen. Songs wie 'Not Sorry' oder 'On Your Side' sind eine echte Meisterprüfung im Thema "Don't bore us - get to the Chorus" und liefern dann auch erstklassig ab. Im Gegensatz zu unserem Hauptrezensenten Tobias hätte ich mich sogar über einen weiteren stilistischen Ausbruch in Richtung 'Jackhammer' gefreut. So steht der Song tatsächlich etwas alleine auf weiter Flur und hätte sich sicherlich über einen ebenbürtigen Partner gefreut. Das Ding funktioniert zwischen ESKIMO CALLBOY und anderen "Trinkhelm"-Metal-Bands nämlich perfekt.

Pickt euch eine Nummer raus und ab in die präferierte Playlist. Genau dafür wurden diese Tracks geschrieben und nicht für den verregneten Sonntagnachmittag unter dem Kopfhörer. Dabei schafft es die Band bei allen generischen Versatzstücken aus dem Metalcore, Djent und Alternative Rock trotzdem noch die ganze Chose mit einer individuellen Note zu versehen und das ist der Verdienst von gutem Songwriting und der Leistung von Lisa-Marie Watz. Hatte ich zu Beginn echte Probleme mit ihrem Melissa Etheridge-Timbre, so sehr habe ich es mittlerweile als Alleinstellungsmerkmal verinnerlicht. Mittlerweile bin ich soweit, dass ich sogar hoffe, dass die Band auch zukünftig auf typische Growls und harsche Vocals verzichtet und weiterhin alles auf diese Karte setzt. Ähnlich wie bei ARCH ENEMY (Verzicht auf Klargesang), könnte das eine Stellschraube sein um sich von der Konkurrenz dauerhaft abzugrenzen. Ganz tolle Song-Sammlung, welche qualitativ zum Ende zwar etwas nachlässt und grundsätzlich für ein Album zu kurz ist, aber in Summe richtig Laune macht.

Note: 8,0/10
[Stefan Rosenthal]

Es ist bestimmt schon gut zehn Jahre her, als mir APRIL ART beim Hessischen Rock- und Pop-Preis zum ersten Mal untergekommen ist. Damals noch tief im Alternative Rock steckend, habe ich die Band im Anschluss komplett aus den Ohren verloren. Diese Gruppentherapie hat mich nun dazu veranlasst, mal in die aktuelle Musik der Gießener reinzuhören - und siehe da: Ich bin begeistert. Mittlerweile hat sich APRIL ART zu einer Modern-Metal-Band transformiert, die sicherlich mit Gruppen wie AMARANTHE oder auch BATTLE BEAST zu vergleichen ist. Kein Wunder also, dass die neue Scheibe "Rodeo" innerhalb der Redaktion durchaus kontrovers diskutiert wird. Hier findet man ultratiefe Klampfen, überraschend coole Breakdowns, ein bisschen Djent, moderne Soundspielereien und darüber hinaus noch schmissige Songs um die kompakten drei Minuten, die vor mächtig Energie, aber auch großartigen Hooks nur so triefen.

Gut, die zaghaften Nu-Metal-Anleihen brauche ich jetzt persönlich nicht unbedingt, aber der Großteil der gut vierzig Minuten knallt wie Hölle. 'Burn', 'Head Up High' oder auch 'Not Sorry' dürften jeden Klub, aber auch jedes Festival zerlegen. Natürlich ist ein Song wie 'Jackhammer' eine Zerreißprobe für jeden Old-School-Metaller, doch die neue Generation um ESKIMO CALLBOY und Konsorten dürfte direkt steilgehen. Somit machen die großartige Lisa-Marie, die wie eine härtere Sandra Nasic daherkommt, und ihre Kollegen fast alles richtig. Zeitgeistig, absolut modern. Ich behaupte mal, es dauert nicht mehr lange und die Hallen sind nicht nur rappelvoll, sondern vor allem groß. Hut ab.

Note: 8,5/10
[Chris Staubach]

Ich bin ein wenig verwundert, warum Kollege Stehle ausgerechnet bei diesem Album eine substantielle Soundkrise durchläuft, fallen mir doch die bekannten Probleme moderner Produktionsweise hier nicht in erhöhtem Maße auf. Also ganz bestimmt nicht mehr als bei der neuen FLOTSAM & JETSAM, wo besonders das Schlagzeug penetrant in den Ohren klackert. Ja, der Sound ist klinisch, die Gitarren stumpf, doch für mich persönlich hat die Scheibe auch einen Trumpf. Wer mich kennt, der weiß, dass ich ein Faible für gute Frauenstimmen habe, und Lisa-Marie hat es, wie mein Vorredner gerade schon erwähnt hat, voll drauf. Schön angeraut, vordergründig in Szene gesetzt, ja das passt mir.

Den Rest haben die anderen Therapeuten schon erzählt. APRIL ART hat ein paar gute, eingängige Songs, die Redundanz ist aber noch zu groß für eine Top-Note. Wenn man daran arbeitet und das nächste Mal auch auf einen organischeren Klang achtet, könnte es tatsächlich steil nach oben gehen für die Damen und Herren Frühlingskünstler.

Note: 7,5/10
[Thomas Becker]

Fotocredit: Julie Key

Redakteur:
Thomas Becker

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