Gruppentherapie: AT THE GATES - "At War With Reality"

25.10.2014 | 23:26

Nach neunzehn Jahren bangen kann man endlich wieder bangen! AT THE GATES ist zurück! Hier die Gruppentherapie.

Für unseren großen AT THE GATES-Anbeter Oli war das Verfassen der Rezension zum neuen Output kein leichtes Spiel (zum Review). "Slaughter Of The Soul" gilt für viele als großer Meilenstein der Metal-Geschichte und hat auch viele Bands des neuen Jahrtausends stark beeinflusst. Kein Wunder, dass dieses Comeback neben der Nackenmuskulatur auch den Denkapparat vieler Fans anregt. Man baut Erwartungen auf, analysiert die Vergangenheit der beteiligten Musiker und erbaut sich so seine eigenen Klanggebilde. Kann "At War With Reality" solche Erwartungen erfüllen? Oder ist es besser, gar keine Erwartungen zu haben? Wie immer haben wir hier eine bunte Mischung aus alten Fans, neuen Fans, interessierten Neugierigen und gar Erstkontaktlern zusammen getragen.

Hardcore, Thrash, Death Metal höre ich da, in einer ziemlich ausgewogenen Mischung; quasi die Blaupause für Metalcore, und zwar mit tiefen Wurzeln in dessen Metalseite. Alles aus einem Guss, es wirkt so souverän und frisch, als habe die Band diesen Stil gerade erst erfunden, so souverän und versiert, als habe sie ihn bereits auf den wesentlichen Punkt gebracht: Architektonisch streng, monolithisch, rauh, aggressiv, stoisch voran schiebend, hintergründig melodisch - und damit gar nicht so weit weg von den letzten Werken MACHINE HEADs, deren moderne Thrash-Variante sich ja ebenfalls von Hardcore hat beeinflussen lassen. Nun gilt AT THE GATES ja als wesentlicher Miterfinder des melodischen Schwedentods, sodass zu vermuten ist, dass die beiden Bands sich von zunächst entfernten Polen gegenläufig aufeinander zubewegt haben. Hier Metal, dort Hardcore; hier Death, dort Thrash; hier Tradition, dort Moderne; jedoch, solche Zuschreibungen waren einmal - und erst recht von der Warte eines von der Vergangenheit AT THE GATES' völlig Unbeleckten aus betrachtet, der keinerlei stilistischen Vorprägungen, Erwartungen, bandspezifischen Hörgewohnheiten unterliegt. Klar, hört man genauer hin, steckt "At War With Reality" ganz klar voller struktureller Markenzeichen des Death Metals - jedoch derart kalt, präzise, technisch steril verpackt, dass vom frühen, chaotischen Sound des Genres in seiner Findungsphase kaum noch etwas auszumachen ist; man könnte auch sagen: Das wird mit MEGADETH-Ästhetik präsentiert, eher industriell molochartig gleichgeschaltet als derwischartig fanatisch wütend. Die pure Wucht im strengen Korsett, kantig wie ein Würfel, aber auch glatt geschliffen, und gerade darum so kalt blitzend und widerstandsfähig. Das Album groovet und brüllt sich ohne Sträuben, ohne Widerhaken ins Ohr, eingängig zwar, aber darum noch lange nicht zugänglich. Hinter der harten Oberfläche lauert blanker Hass, der sich verschlossen gibt, störrisch, ohne Angriffsfläche, verkapselt, selbstbewusst trotzig, ohne zu schmollen, einfach nur seine Flagge ein einziges Mal in den Boden rammend: "Da habt ihr's! Macht damit was ihr wollt, aber an uns kommt ihr nicht heran. Mehr gibt es nicht zu sagen." - Dank seiner Konsequenz kann mich das Album zwar berühren, trotz aller Konsequenz jedoch nur selten vollends ergreifen. Die Beinahe-Hits 'Order From Chaos', 'Eater Of Gods', 'Upon Pillars Of Dust' und 'The Night Eternal' heben das gezügelt hassstarrende Album für mich von soliden 6,5 auf knappe 7 Punkte; mehr ist bei allem Respekt vor eigenständiger Geradlinigkeit nicht drin. Fans der Band dürfen einen wohlgegönnten Punkt dazutun.

Note: 7,0/10
[Eike Schmitz]

Anders, Tompa und Co. sind keine Mitte zwanzig mehr und Teenager erst recht nicht! Und seit "Slaughter Of The Soul" sind nun einmal fast zwei Jahrzehnte vergangen, seit "Terminal Spirit Disease" sogar genau. Und es war ja nicht so, dass sich die Mucker in dieser langen Pause aus dem Musikbusiness zurückgezogen hätten. Die Björler-Zwillinge waren beziehungsweise sind mit Adrian Erlandsson bei THE HAUNTED, einer Band, die sich nach dem Debüt durchaus moderneren Sounds geöffnet hat. Letztgenannter sitzt unter anderem bei PARADISE LOST hinter der Schießbude. Sänger Tompa Lindberg bereist(e) die Welt mit LOCK UP, ist in unzählige weitere Projekte involviert und wird möglicherweise sesshaft als Oberschullehrer. Der zweite Klampfer Martin Larsson hat mit den Crusties AGRIMONIA mittlerweile ein zweites musikalisches Standbein.
Wozu jetzt diese Aufzählung? Naja, will sagen, dass alle fünf Bandmitglieder nach dem AT THE GATES-Split in teilweise arg unterschiedlichen Bands ihre musikalische Weiterentwicklung angetrieben haben. Ob "At War With Reality" davon profitiert oder nicht, ist die entscheidende Frage. Es gibt Gutes, teils sogar Brillantes zu hören. Der Opener 'Death And The Labyrinth' (das unglaublich gelungene, verstörende Intro mal nicht eingerechnet) ist zwar kein 'Blinded By Fear' oder 'The Swarm', aber knallt schön ordentlich und gibt die weitere Marschrichtung des Albums vor. Brillant ist der genial stampfende Titelsong, 'The Conspiracy Of The Blind' (geniale Mischung aus uralt-THE HAUNTED und "Slaughter Of The Soul") oder 'Order From Chaos'. Der Rest ist mindestens gutklassig, hier und da blitzen ein paar geniale Soli auf. Die technische Darbietung der Björler-Brüder, Larsson und Lindberg ist über jeden Zweifel erhaben. Gähnend langweilig hingegen finde ich das sehr uninspirierte Schlagzeugspiel von Adrian Erlandsson. Klar, im Einfachen steckt oft Großartiges, nicht aber in den Drum-Patterns des Tausendsassas. Ein klarer Minuspunkt für mich als Fan großartig arrangierter Drumbeats.
Abschließend noch ein Wort an meinen Kollegen Schmitz: Finde ich klasse, dass du dich als "Nicht-Fan" mit "At War With Reality" auseinandergesetzt hast - aber wo du hier Hardcore heraushörst, ist mir ein Rätsel. Daher ist das Ding auch ganz weit weg von Metalcore, um Gottes Willen!

Note: 8,5/10
[Haris Durakovic]

Wenn neunzehn Jahre zwischen zwei Alben einer Band vergehen, dann darf der Fan ruhig etwas bangen. Entweder die Gruppe knüpft an alte Taten an oder die Musiker haben sich dermaßen weiterentwickelt, dass man eben nicht mehr an alte Taten anknüpfen kann, sondern etwas völlig Neues, vielleicht etwas nicht Gewolltes, serviert bekommt. Im Fall des Reunion-Albums "At War With Reality" schafft AT THE GATES immerhin einen Mittelweg. Das neue Werk geht bedenkenlos als Nachfolger von "Slaughter Of The Soul" durch, jedoch fehlt es 2014 an der Durchschlagskraft des übergroßen Vorgängers. AT THE GATES packt einige extrem gute Songs auf "At War With Reality", wie etwa den erstklassigen Titeltrack, der mit einem tollen Gitarrenlead punkten kann. Geknüppel, Melodie und Atmosphäre vereinen sich besonders in diesem Stück mehr als eindrucksvoll und stellen, zumindest für mich, den Höhepunkt des Albums dar. Trotzdem kann auch das folgende Material überzeugen. Einen neuen Meilenstein, wie 'Blinded By Fear', welcher ein ganzes Genre definierte, sucht man allerdings vergebens. Die Frage, die sich stellt ist, ob die Schweden dieser Bürde überhaupt gerecht werden konnten. "Slaughter Of The Soul" hat Tonnen an Bands beeinflusst und wird auch noch in neunzehn Jahren als Referenz dienen. Von daher kann "At War With Reality" früheren Heldentaten gar nicht das Wasser reichen, dennoch knüpft das Album an der Vergangenheit an. AT THE GATES geht den damals eingeschlagenen Weg konsequent weiter und fährt dabei mit zwölf feinen Melodic-Death-Kompositionen auf. Mein Tipp: "At War With Reality" gar nicht erst mit den Vorgängern vergleichen, sondern sich einfach nur über ein starkes Schweden-Tod-Gewitter freuen.

Note:8,0/10
[Sebastian Berning]

Eike gibt uns eine tiefgehende Analyse der Musik, Haris erklärt auf Basis der Historie der Musiker, warum diese so klingt und Sebstain erläutert, weshalb AT THE GATES heute wohl keine Genre-Revolution mehr auslösen wird. Es gibt aber auch eine deutlich einfachere Herangehensweise an "At War With Reality": CD einschieben und laut aufdrehen. Bei mir wird dann nach neunzehn Jahren fast zwangsläufig dieselbe Reaktion eintreten wie bei Sebastian: Ich werde bangen! Aber nicht mit dem Denkapparat, sondern mit dem Kopf! Wieder lange Haare haben, wäre jetzt geil. Das, was ich höre, klingt nämlich voll und ganz nach AT THE GATES, und zwar von der ersten Sekunde des Openers an. Und mehr noch: AT THE GATES kommt meinem persönlichen Geschmack sehr entgegen, indem man immer wieder tolle Harmonien und Melodien aus dem Hut zaubert, die es in der Form früher noch nicht gab. Doch auch wenn man das Tempo drosselt wie bei 'Heroes And Tombs', klingt das immer noch wuchtig und elegant. Ja, ich bin sehr angetan von "At War With Reality". Es ist Gott sein Dank keine durchgehende Highspeed-Aggro-Scheibe wie "Slaughter Of The Soul", und warum auch? Wenn ich sowas will, leg ich doch gleich die auf. Oder "The Haunted Made Me Do It". "At War With Reality" jedoch ist deutlich filigraner, musikalischer und erwachsener. Genauso und nicht anders habe ich mir dieses Comeback vorgestellt. Chapeau, AT THE GATES!

Note: 8,0/10
[Thomas Becker]

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Review von Oliver Paßgang

Redakteur:
Thomas Becker

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