Gruppentherapie: CALIGULA'S HORSE - "Charcoal Grace"

09.02.2024 | 22:36

Immer noch eine "typische Powermetal.de-Band"?

Kommen wir zum Schluß unserer Januar-Gruppentherapie-Serie wieder aufs Stockerl des Soundchecks. Dort konnten sich die modernen Progmetal-Granden von CALIGULA'S HORSE platzieren. Silber hinter MAGNUM (zur Gruppentherapie) war's. Allerdings gab es bei der Hauptrezension von Jens ungewohnt kritische Worte für die ansonsten von unserem lieben Ex-Boss immer sehr umschwärmte Musik. Unwohlsein und Ratlosigkeit bewirken die Australier bei Jens. Klar, dass von unseren Pferdchen-Liebhabern hier ein paar Widerworte kommen müssen. Aber gibt es auch Leute mit Jens-Ohren?

Zugegeben, mit dem Vorgänger habe ich mich etwas schwerer getan, doch ist CALIGULA'S HORSE, dieser australische Prog Metal, bei dem ich immer an unseren einstigen Chefredakteur Peter denken muss, eine so typische POWERMETAL.de-Band. Im Vergleich ist das neue Album etwas düsterer, melancholischer, die Riffs schwerer, der Prog noch etwas dynamischer und ausgereifter und die Songs bringen eine gewisse Emotionalität mit. Bei mir macht es auch diesmal wieder nicht in Gänze Klick, doch hat mich "Charcoal Grace" trotzdem auf eine sehr schöne, spannende Reise durch die Melodik Australiens mitgenommen.

Vor allem der doch erheblich epische Schlag, diese sehr effektiven Melodien haben es mir angetan, obgleich ich mich mit Jim Greys dezent zu dick aufgetragenem Gesang etwas schwer tue und ich als Artwork-Feinschmecker das Cover doch belanglos finde – auch da gefiel mir jenes von "Rise Radiant" etwas besser. Trotzdem: Vor allem das verspielte 'The Stormchaser' und das von der Melodie her pompöse 'Mute' zum Ende hin haben es mir angetan und können uneingeschränkt als Anspieltipps herhalten. Ab und an habe ich dann doch Bock auf Prog, ein wenig dunkler als zuvor, aber noch immer harmonisch und episch.

Note: 7,5/10
[Marcel Rapp]

Was Marcel mit einer "typischen POWERMETAL.de-Band" meint, ist, dass es sich bei CALIGULA'S HORSE um eine Band handelt, die einfach kaum Angriffsfläche für viel Kritik bietet und somit auch durch die Bank gute Noten erhält. Unser progressiver Konsens quasi. Das trifft den Nagel zwar genau auf den Kopf, verkauft die Australier aber auch deutlich unter Wert.

Es ist in Summe nicht nur flächendeckend besser als andere Soundcheck-Teilnehmer, sondern insbesondere in seinem Genre, dem modernen progressiven Metal, ein richtig starkes Album. Zwischen den ganzen unterkühlten Groove-Fragmenten (welche mich auch nicht zu 100% begeistern), erstrahlen immer wieder wunderbare Soli, tolle Gesangspassagen und technische Spielereien zum Zunge schnalzen. Beim ersten Hören gebe ich Jens recht, dass besonders die luftigeren, ruhigen Passagen begeistern. Aber umso mehr man sich dieser unfassbar homogenen Klanglandschaft öffnet, umso nachvollziehbarer und im Endeffekt auch besser funktioniert der Sog, den "Charcoal Grace" entwickelt.

Aktuell funktionieren für mich die musikalischen Grenzpunkte der Scheibe noch mit am besten. Ein Banger wie 'Golem' kann ohne Probleme in jeder Modern Metal-Playlist laufen, der Titeltrack dürfte auch jedem RIVERSIDE-Freund runtergehen wie Öl und 'Mute' ist aktuell mein Song des noch jungen Jahres. Ganz großes Kino. Für Fans von HAKEN, LEPROUS und vielleicht sogar moderneren DREAM THEATER müsste diese Scheibe Pflichtprogramm sein und der Band endlich auch diesen kommerziellen Schub geben, den sie schon lange verdient hat.

Note: 8,5/10
[Stefan Rosenthal]


https://www.youtube.com/watch?v=n59M9CvSnos

Es passiert selten, dass ich einen meiner geschätzten Kolleg:innen so vehement widersprechen muss, aber das Hauptreview kann ich nicht unkommentiert stehen lassen. Ich höre "Charcoal Grace" nämlich fast komplett gegensätzlich. Ich würde sogar soweit gehen und behaupten, dass es das bisher beste Album von CALIGULA'S HORSE ist.

Ich habe die Australier 2013 oder 2014 mit dem damals aktuellen Werk "The Tide, The Thief & River's End" auch über die Redaktionskollegen Peter Kubaschk sowie Frank Jäger kennengelernt (Danke dafür an dieser Stelle). Seitdem wünschte ich mir stets ein Album, dass in puncto Intensität, Emotionalität und einer gewissen Härte anschließt. Dieser Wunsch wurde mir mit den nachfolgenden Alben aber eher nicht erfüllt. Nicht falsch verstehen, es sind ohne Fragen ebenso Aushängeschilder im Progressive-Metier, doch es sollte gute 10 Jahre dauern, bis ich mit "Charcoal Grace" nun einen ehrwürdigen Nachfolger auf die Ohren bekomme.

Nach dem ersten Durchlauf deutete sich mir bereits an, dass es ein besonderes Album und nichts für nebenbei ist, es gibt enorm viel zu hören und entdecken, es fasziniert jedes Mal. Bereits über den zehnminütigen, hochdynamischen Opener könnte ich Bände schreiben. Herzstück ist aber ohne Frage das vierteilige Titelstück, das alleine auf eine Gesamtlaufzeit von fast 24 Minuten kommt. Die Übergänge ineinander und Querverweise der Songs zueinander sind absolut deliziös. Die djent-affinen Stakkato-Grooves, die schon immer Bestandteil der Musik von CALIGULA'S HORSE waren, erfreuen mich neben den unglaublich intensiven Gitarrensoli (ich war wirklich lange nicht mehr so mitgerissen vom Gitarrenspiel) und den TESSERACT-ähnlichen schwebenden Gesängen sehr. Gewiss, die sehr cleanen, teils zerbrechlich wirkenden Vocals von Jim Grey muss man mögen, den aufgestellten Verweis meines Vorredners auf HAKEN finde ich gar nicht verkehrt. Doch das ist noch nicht alles, denn mit dem Track 'Mute' gibt es einen weiteren 12-Minüter, der den Hörer auf eine kunterbunte Reise quer durchs Progland mitnimmt, inklusive fettem Riffing, königlichen Melodien, Querflöte und erneut einem furiosen Gitarrensolo. Zusammen mit dem epischen Opener schließt der Song den Kreis und schafft einen runden Abschluss.

Nun habe ich immer noch nicht über alle Songs geschwärmt, dabei ist 'The Stormchaser' eine weitere Perle und tolle zweite Single. Apropos Single: Ich habe bei aller Lobhudelei tatsächlich auch einen Kritikpunkt und der heißt 'Golem'. Als er als erste Single veröffentlicht wurde, war ich bereits etwas enttäuscht, er wirkte so lieblos dahingeschrieben. Da er auch im Albumkontext kaum auffällt, könnte man nun zum Schluss kommen, dass das Album wahrscheinlich auch gut ohne den Track hätte auskommen können.

Das ändert aber nichts daran, dass CALIGULA'S mit "Charcoal Grace" bereits im frühen Jahr 2024 eines der wichtigsten Progalben des Jahres veröffentlicht haben wird, wenn wir auf das Jahr zurückblicken. Wir sprechen uns in 12 Monaten.

Note: 8,5/10
[Jakob Ehmke]

Tja, was soll man nach so einer Abhandlung wie der von Jakob noch sagen, außer: Jung, dat is ein KURZ-Format. Nein, im Ernst: Herr E aus H trifft in vielen Punkten mein Empfinden. Wo HAKEN in letzter Zeit aus meiner Sicht falsch abgebogen ist, arbeitet CALIGULA'S HORSE konsequent am Kernbereich des metallischen Prog. Es gibt einige Pluspunkte, die "Charcoal Grace" weit über den Durchschnitt heben.

So geniale Soli habe ich schon lange nicht mehr gehört. Das ist wirklich große Kunst in der Verbindung von Technik und Gefühl. Ich liebe Soli, die eine Geschichte erzählen und nicht durch den klassischen Pornhub-Drum-Sound eingeleitet werden müssen, weil hier nur Holzgewichse stattfindet. Positiv sehe ich auch die virtuos geschriebenen Songs, die trotz technischem Anspruch immer wieder Melodien bieten, die sofort ins Ohr gehen.

Aber es gibt auch eine Schattenseite: Jim Grey. Sein Gesang hält teilweise nicht mit dem Gesamtkonstrukt mit. Und das hat nur bedingt etwas mit Geschmack zu tun. Ich empfinde seine Herangehensweise als störend. Fragilität an sich ist völlig in Ordnung, aber sie muss technisch brillant umgesetzt werden. Das ist hier nicht immer der Fall. Deshalb verliert CALIGULA’S HORSE auch den Kampf gegen EARTHSIDE. Vielleicht wäre der Ansatz, mit Gastsängern und -sängerinnen zu arbeiten, auch für die Australier das Richtige.

Note: 7,5/10
[Julian Rohrer]

https://www.youtube.com/watch?v=qlIlXhxJWLM

Fassen wir mal die Quintessenzen zusammen. Erstens, dieses Album muß man mehrmals hören. Beim ersten Durchlauf fand ich mich durchaus auf Jens' Seite wieder, da ist mir die Musik quasi durch die Ohren getröpfelt. Doch ein paar Passagen haben die Neugier geweckt. Also bekam das Album Premium-Hörzeit: diverse Autofahrten durch winterliche Alpenlandschaften. Und dabei machte es "klick", und zwar erstmal beim doch so zerbrechlich beginnenden Opener, später dann auch phasenweise bei den anderen Songs.

Ein wenig erinnert mich die komplexe Musik an ein Picasso-Gemälde: Die Band scheint manchmal ihre Songstrukturen regelrecht zu de-komponieren, fügt sie aber an den richtigen Stellen wieder genial zusammen, was mitunter in gipfelstrebenden Melodien endet. Wie im Gebirge wirkt der Kontrast zwischen schroffen Felstürmen und lieblichen Almen wie Balsam auf die Seele. Und dieser kommt, wie meine Vorredner schon treffend festgestellt haben, ganz besonders bei den Gitarrensoli zum Tragen. Quintessenz Numero zwei folgt daraus ganz logisch: CALIGULA'S HORSE agiert kompositorisch in der Tat auf ganz eigenen Pfaden und ich bin froh, dass ich dies jetzt schätzen darf und nicht wie Jens aufgeben musste.

Die dritte Botschaft dieser Gruppentherapie ist, dass des Pferdchens Schwachpunkt der Gesang sein könnte. Auch wenn Julian mir wohl mal bei einem Bier verklickern muß, an welchen Stellen Jim Grey die technische Fähigkeit fehlt, so muss ich den meisten Therapeuten doch beipflichten, das seine Stimme mitunter etwas farblos, oder ob der vielen Verfälschungen, die auch Jens schon aufgefallen sind, unecht wirkt. Wer weiß, was wäre, wenn hier ein Daniel Gildenlöw, Jonas Renkse oder Devon Graves mal ans Mikro dürfte. Allerdings stört mich dieser ätherische, etwas an SIGUR ROS erinnernde Gesang auch nicht, untermalt er doch die besondere Stimmung eines Albums, das ich von Spin zu Spin lieber höre und so langsam beginne zu verstehen. Außer 'Golem'. Richtig, Jakob, der könnte auch weg.


Note: 8,5/10
[Thomas Becker]



https://www.youtube.com/watch?v=pPWqa1LJdrU

Redakteur:
Thomas Becker

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