Gruppentherapie: ENSIFERUM - "Winter Storm"

06.11.2024 | 10:40

Querfeldein immer voran, Schwert hoch, Visier unten, hinein in den ewig goldenen Hain!

Kommen wir mit ENSIFERUMs "Winter Storm" nun zu einem Album, für das sieben von acht Oktober-Soundcheckern Noten zwischen 6,5 und 7,5 vergeben haben. Spannend, oder? Kontrovers gar? Und ob! ENSIFERUM-Gruppentherapien können lustig sein, wie diese hier zu "One Man Army" (2015). Und ich wette, ihr werdet erstaunt sein, wie sehr diese Musik die Fantasie eines unserer Therapeuten anregen konnte. Aber vielleicht hat er sich ja durch das Interview mit Sami Hinkka, der an einem Buch mit demselben Titel wie das Album arbeitet, inspirieren lassen. Aber auch die anderen Therapeuten haben etwas zu sagen, sei es als alte oder neue ENSIFERUM-Fans.

Die letzten Alben von ENSIFERUM gefielen mir trotz ihrer pompösen, mitunter recht kitschigen, manchmal Folk- oder Morricone-geschwängerten Art und ihres permanent trötenden Überbaus, allerdings fehlte den Finnen nun das Kernige der legendären "Victory Songs" oder des Tracks 'From Afar' vom gleichnamigen Opus. Ich dachte immer, wenn man über einen so geilen, giftigen Vokalisten wie Pete Lindroos verfügt, muss man ihn auch führend einsetzen und nicht nur für eine Strophe wie unter anderem in 'Rum, Woman, Victory': Seine inbrünstig gegrowlten Passagen gefielen mir nämlich immer am besten. Wie geht der musikalische Ritt also mit dem "Thalassic"-Nachfolger "Winter Storm" weiter?

Das Intro 'Aurora' führt so bandtypisch akustisch hochfahrend ins Geschehen ein, dass ich erst dachte, ich hätte eine der letzten CDs am Wickel. Zum Abheben schwingt sich dann 'Winter Storm Vigilantes' auf, auf dunklen Nachtschwingen und schartigen Krallen durch vereiste Schneetäler. Heißt, Lindroos giftet, wie er soll. Doch auch hier kommen dann wieder die hellen Power-Metal-Einsätze, die ich akzeptiere, allerdings... genau, siehe oben. Auch die Klargesangparts erinnern mich an mir total bekannte Passagen eines Liedes eines vorherigen Albums. Irgendwie eine Crux: Man bringt hier schon beinahe zuviel unter, man will abwechslungsreich, anspruchsvoll und zugleich zugänglich sein; ein Unterfangen auf schmalem Grat, das trotz meines Kritikpunktes am Ende doch recht gekonnt bewältigt wird.

Am Beginn von 'Long Cold Winter Of Sorrow And Strifes' haucht und gruntet Lindroos schlachtenepisch, der Track lässt uns samt Pferd den fünften Gang einlegen, wir galoppieren über dornige Hecken, steinige Waldsäume, querfeldein in Richtung der Schergen der schwarzen Feste von weit hinter den Bergen, immer voran, Schwert hoch, Visier unten, hinein in den ewig goldenen Hain inmitten der marmornen, halbkreisförmig aufgestellten Säulen. 'Fatherland' nimmt den Faden auf, im Schatten des Berges ertönt der Sound der Schlachthörner. Heroisch gestimmt geht es den Hang hinab, schon sind wir mitten im Scharmützel: Chöre, Growls und pathetische Klargesänge halten sich die Waage. Nach einem Spinett-Intro erklingt feenhaft von einer Elfe intoniert 'Scars In My Heart', duftende Blumen in mannigfachen Farben umfangen uns mit ihrer Schönheit und ihrem süßen Geruch, Vögel zwitschern, Bassins mit verlockend süßen Wasserfontänen laden zum Verweilen ein, denn der Kampf ist vorbei.

ENSIFERUM setzt erneut auf eher einfache, mitsingbare Melodien. Das die Jugend feiernde, narzisstische goldene Schwertchen wie in 'Ahti', 'Blood Is The Price Of Glory' oder 'One More Magic Potion' kommt durchaus zum Einsatz, weicht aber so manches Mal leichterem Minnesang. Allerdings wird auf diesem Album ja auch nicht der schellengekrönte Frühling vertont. 'Resistentia' gönnt uns eine Minute harmonischer Einkehr, bevor 'The Howl' wieder in den Galopp verfällt. Auch dieser Song fegt jedweden Schergen von basaltenen Straßen. Mit Streichern eröffnet 'From Order To Chaos', Lindroos geifert ganz wunderbar, er hat eine der besten Melodeath-Stimmen, das empfand ich so schon bei NORTHER oder jüngst bei WARMEN.

Der längste Track baut wieder auf diese typisch-wehmütige Atmosphäre, ganz kurz leuchtet Ennio Morricone auf; klar, das lässt sich ENSIFERUM nicht nehmen, recht genial platziert vor dem Schlussgalopp. Hüte, Patronengürtel und Colts, nein Schwerter natürlich, Morgensterne und Helme glitzern im Wind der abendlichen Sonne. 'Leniret Coram Tempestate' erweist sich als kurzer Stopper, wir dürfen kurz absteigen und die Pferde wechseln, denn die sind vom Dauerritt durch das Marschland erschöpft. Wir nicht, denn mit 'Victorious' hagelt es noch einen aggressiven Rausschmeißer: Formidabel und auf den Punkt arrangiert schimmert hier der Frühling; das ist der Finnen Ding, schnell, zackig, furios und euphorisch, überhaupt, Enthusiasmus und Melancholie sind hier immer dabei. Auf jeden Fall bedienen sie ihre Nische treu, sind sie doch komplett verschieden von Genregrößen wie FINNTROLL und MOONSORROW. Trotz meiner Kritik an den Powermetalklargesangparts und etwas zu viel sich türmender Opulenz werde ich es gern hören, auch wenn es eher in den Mai passt.

Note: 8,5/10
[Matthias Ehlert]

 

Mit einiger Faszination lese ich die Zeilen des Kollegen Ehlert und muss innerlich schmunzelnd feststellen, dass mir sein Text interessanter und künstlerisch wertvoller anmutet als das Album, über das er schreibt. In den Anfangstagen der Band war ich durchaus begeistert von ENSIFERUM, weil auf den ersten Tonträgern ein mitreißender, eigenständiger und markanter Stil kultiviert wurde, nicht unbedingt durch die Natur der verwandten Elemente selbst, sondern mehr durch die Art und Weise ihres Einsatzes. Einen ENSIFERUM-Song konnte man schon vor zwanzig Jahren sofort als solchen erkennen.

Aus meiner Sicht verflachte dann aber das musikalische Niveau von Platte zu Platte, so dass wir anno 2024 mit einem perfekt in Szene gesetzten, aber leider ziemlich leblosen und uninspirierten Abbild der kreativen Hochphase Vorlieb nehmen müssen. Klar enthält auch "Winter Storm" noch viele starke Momente, die zum ausgelassenen Kopfschütteln und Luftgitarre spielen einladen. Aber dazwischen findet man leider auch viel zu viel belangloses Tralala aus der Power-Metal-Konserve mit so ausgekauten nordischen Gesängen, dass die Kitsch-Schmerzgrenze bedrohlich nahekommt. Ich fasse also möglichst prägnant zusammen, indem ich schreibe, dass mir ENSIFERUM immer noch irgendwie sympathisch ist, aber mehr "Iron" und weniger Geschunkel auch dem aktuellen Album, wie schon seinen Vorgängern, deutlich besser getan hätte.

Note: 6,5/10
[Martin van der Laan]

 

Während ich ENSIFERUM in den Nullerjahren schon ziemlich cool fand, ödeten mich die letzten Alben durchweg an. Das war mir alles zu viel Bierzelt-Metal. "Winter Storm" ist also der nächste Versuch, mich der Band wieder anzunähern. Und ich kann schon relativ schnell feststellen, dass ich deutlich mehr Freude an dieser Scheibe habe als an dem Material, das ich zuletzt im Ohr hatte.

Woran liegt das? Nun, ich finde den Gesang weit weniger plakativ als zum Beispiel auf "One Man Army". Zudem ist der Schunkelmodus angenehm überschaubar. Die ganze Trinkorn-Metal-Szene ist mir seit vielen Jahren suspekt, aber hier haben wir es ja letztlich mit gut gemachtem Power Metal zu tun, der mit ordentlich Keyboards angereichert wird, ohne dass alles zugekleistert klingt. Ich glaube, dass das live auch massiv Spaß machen dürfte, die neuen Songs zu hören. Allzeit-Hits wie auf den Alben bis "From Afar" suche ich zwar vergebens, aber das hier ist wirklich gut gemachter Folk Metal, unpeinlich (abgesehen von dem Titel 'Scars In My Heart' mit Gastgesang von Madeleine Liljestam) und hochwertig. Genre-Fans können sicher noch einen halben Punkt drauflegen.

Note: 8,0/10
[Jonathan Walzer]

Ich glaube, das letzte ENSIFERUM-Album, das ich komplett abgefeiert habe, ist "Iron". Oder nein, das folgende "From Afar" hat sich seinerzeit auch wärmstens empfohlen. Danach folgte ein tiefes Tal, die finnischen Schwertträger konnten mich nur noch am Rande begeistern. Unterm Strich orientiere ich mich also exakt an der Einschätzung von Herrn Walzer. Ich gebe zu, etwas gleichgültig ging ich dann an "Winter Storm" heran. Der Auftakt 'Winter Storm Vigilantes' bietet zunächst das, was ENSIFERUM nach meinem Befinden irgendwann langweilig werden ließ. Der Titel klingt wie ein mehr oder weniger müder Abklatsch aus vergangenen Tagen.

Doch der Tag sollte wie immer nicht vor dem Abend gelobt werden. Im Verlauf des Albums zaubert die Band manch fein gestrickten Song aus dem Hut. Die typischen Trademarks liefern bestenfalls ein Grundgerüst. Ansonsten halte ich "Winter Storm" gerade in der zweiten Hälfte für ein starkes Album. Besonders 'Scars In My Heart' und das fast neunminütige 'From Order To Chaos' liefern Beweise dafür, dass ENSIFERUM immer noch spannend komponierte Hymnen vorlegen kann. Insgesamt ein cooles Album, das wahrlich einen vorderen Platz in meinem persönlichen ENSIFERUM-Ranking einnimmt.

Note: 8,5/10
[Frank Wilkens]

 

Ein guter Teil von mir wünschte sich fast, "Winter Storm" so hören zu können, wie es die Kollegen Wilkens, Walzer und Ehlert tun, immerhin halte ich das Frühwerk ENSIFERUMs und insbesondere "Iron" noch immer in besonderen Ehren. Am Ende obsiegt aber in mir angesichts des neuen Studioalbums doch ein Eindruck, der meinem geschätzten Mitschreiber van der Laan mehr entspricht und der sich mehr vom eben genannten Klassiker und weniger austauschbaren Wikinger Power Metal wünscht.

Klar, man muss den Finnen zu Gute halten, dass sie im Gegensatz zu "One Man Army" die Kitsch-Schraube und die reichlich ausgelatschten Gruppengesänge etwas zurückgeschraubt haben, insgesamt kehrt "Winter Storm" aber damit nicht zu den herben und rauen Wurzeln zurück, die ENSIFERUM einst so einzigartig und magisch gemacht haben, sondern kommt der ausgelutschten Power-Metal-Konserve in Teilen doch bedrohlich nahe. Dass obendrein eine große Hymne fehlt, versetzt dem Album zumindest in Relation zum eigenen Vermächtnis den Todesstoß. Objektiver betrachtet und verglichen mit dem Genre-Standard muss man natürlich dennoch festhalten, dass auch der Wintersturm seine Momente hat und teils handwerklich brilliert, über sieben Zähler komme ich aber auch mit abgesetzter Fanbrille nicht hinaus. Schade.

Note: 7,0/10
[Tobias Dahs]

Ich kann Tobias gut verstehen. Im Kern ist "Winter Storm" ein weiteres ENSIFERUM-Werk mit allen Stärken und Schwächen. Damit könnte die Einschätzung auch schon enden, jedoch möchte ich noch etwas ausführlicher darauf eingehen, warum dieses Album im internen Diskographie-Ranking relativ weit unten rangieren würde. Zum einen handelt es sich um das erste Konzeptalbum der Band – was ich grundsätzlich als Albumfreund auch positiv bewerte. Ebenso, dass man sich nicht an die x-te Vertonung bekannter finnischer Sagen gewagt hat, sondern einen komplett originären Stoff vertont. Dieser stammt aus der Feder des Bassisten Sami Hinkka und ist, ohne das komplette Buch gelesen zu haben, sehr generisch und gewöhnungsbedürftig. Es macht vielleicht doch Sinn sich als Band an renommierte Schreiberlinge zu halten, wenn die Story dann doch etwas komplexer und umfangreicher werden soll. Da haben BLIND GUARDIAN mit Markus Heitz ("Legacy Of The Dark Lands") und erst neulich SALTATIO MORTIS zusammen mit Bernhard Hennen und Torsten Weitze ("Finsterwacht") deutlich ambitioniertere Ergebnisse erzielt und musikalisch verarbeitet.

Aber es ist gar nicht mein Hauptproblem mit der Umsetzung, sondern eher die Tatsache, dass in einem solchen Konzept keine genretechnischen Experimente mehr Platz finden und sich die Finnen somit einer ihrer größten Kernkompetenzen beschneiden. Am meisten Spaß hatte ich mit ENSIFERUM (sorry, Jhonny), wenn komplett gaga der Partymotor angeworfen wurde. Cineastischer Country/Western-Wahnsinn in 'Stone Cold Metal', bizarre Disco-Momente in 'Two Of Spades' oder folkige Hippie-Tunes in 'Midsummer Magic' – das sind die Songs, die ich immer noch am meisten feiere. Auf "Winter Storm" gibt es solche Songs nicht. Also gar nicht. Nada.

Zusätzlich tut sich die Band aus meiner Sicht keinen Gefallen mit der Tatsache, Pekka Montin und seinem Klargesang immer mehr Spielraum zu gewähren. Ich fand "Thalassic" schon in dem Punkt nicht gelungen und auch hier gefällt mir dieser Wandel in Richtung traditionellerer Metal-Klänge nicht wirklich gut. Da ist und bleibt der harsche Gesang von Petri Lindroos doch eine ganz andere Liga. Sobald er mal wieder die Überhand gewinnt und eine zentrale Geige spielt, bin ich sofort angetan und auch deutlich involvierter im fortschreitenden Storytelling. Gute Beispiele dafür sind 'The Howl' oder 'Victorious'. Das sind beileibe keine Sternstunden der Band, aber so sollte ENSIFERUM aus meiner Sicht klingen. Vielleicht klappt es ja mit dem nächsten Album wieder besser, aber ich muss schon zugeben, dass mir die generelle Entwicklung der Band missfällt. Für Fans von "Thalassic" dürfte es aber erneut gut reinlaufen. Ich hab ja zur Not noch das Debüt oder "From Afar" im Regal stehen.

Note: 7,5/10
[Stefan Rosenthal]



Fotocredits: Svetlana Goncharova

Redakteur:
Thomas Becker

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