Gruppentherapie: KATATONIA - "The Fall Of Hearts"

15.06.2016 | 13:50

Können uns die Melancholiker des Schwedenrocks 2016 noch aufhören lassen?

In den Top 10 des Mai-Soundchecks belegte das akutelle KATATONIA-Album immerhin Platz 8. Obwohl sich Hauptrezensent Thomas Becker zunächst schwer damit tat. Doch dann bewegte ihn "The Fall Of Hearts" um so mehr: Note 9 von 10 wurde gezückt. Und wie erging es dem Rest der POWERMETAL.de-Redaktion? Nur soviel sei vorab verraten; dass die Meinungen gespalten sind... Aber lest am besten selbst!

Es ist schon eine Weile her, dass ich mich mit einem Album so richtig schwer tue. Schließlich reden wir hier nicht von irgendeiner kleinen Dorfband, sondern einem schwedischen Urgestein, welches mit seinen sehr vielfältigen Alben immer wieder die Lager spaltete.

Obwohl bereits im Vorfeld angekündigt wurde, dass mit neuen Experimenten zu rechnen sei, kann man sich als Hörer einfach keine konkrete Vorstellung davon machen. Denn bei dieser Truppe weiß man wirklich nie, was der Terminus "experimentell" bedeuten kann.

"The Fall Of Hearts" hat viele - wirklich viele - Chancen bekommen, und ich stelle mir jedes Mal die Frage, zu welcher Entscheidung ich gekommen wäre, wenn ein ganz anderer Name auf der Platte stehen würde. Obwohl ich sie mir eigentlich gerne anhöre, suche ich wie Kollege Thomas nach diesem fesselnden Erlebnis: Etwas, das mein Interesse dauerhaft einfängt. Gefunden habe ich es bisher noch nicht, und im Gegensatz zu Thomas beschreite ich leider nicht den goldenen Pfad der Harmonie und Akzeptanz.

Insgesamt wirkt die Scheibe leer und zu monoton, obwohl es den einen oder anderen durchaus guten Song gibt. Und übrigens: 'Passer' fühlt sich meiner Meinung nach an wie ein verzweifelter Akt, um noch ein paar alte Fans irgendwie bei der Stange zu halten.

Note: 7,0/10
[Hang Mai Le]

Bei KATATONIA geht es mir wie mit einer Mondfinsternis: Ich weiß, dass es sie gibt, schon lange gibt, sie viele Freunde hat, es viele Diskussionen um deren Schönheit gibt (oder eben nicht), sie immer anders in Erscheinung tritt - aber so richtig dabei war ich nie. Ganz ganz sporadisch streifte die Band durch meine Wahrnehmung, aber dann war sie auch gleich wieder weg. Im September treffen wir beide endlich mal zusammen, diese Melodieschweden und ich.

Beim Konsum dieses aktuellen Albums rasseln erste Gedanken durch den Kopf: Schönheiten, Eingängigkeit, Eintönigkeit, Leidenschaftssperre, Schönheit, ANATHEMA, AMPLIFIER, Schönheit. So wie die Truppe mit 'Takeover' einsteigt, alle Achtung, bestens arrangiert und ein Sog der Melodie! Ist das nun schon Progressive Rock? Oder Musik für die Krisen des persönlichen Mittelalters? Denn so schick melodiös hier auch gesungen, geliebt und wahrscheinlich gelitten wird, so festgefahren erscheint aber der Stil der Band. Dauerhaft behört.

Ich sehe, dass diese Wasserfallmusik auch in Kollegin Hang nicht wirklich viel bewegen kann; ab und zu eine eisige Attacke, ein Einfrieren, ein geheimnisvolles Wispern, eine Erosion des Sounds oder auch gern eine Überflutung - das täte hier gut. Aber wenn ich das schreibe, ist das auch wieder einfach zu hart, ein Luxusproblem fast, sich über die erhabene Band KATATONIA zu erregen!

Ja, aber apropos: Erregung. Exemplarisch für das oben Gesagte ist irgendwie 'Old Heart Falls'. Textlich und auch von den Arrangements her. Ich muss mich mal unter den Vollmond setzen und das Album in dieser Stimmung hören. Vielleicht wird dann das Gedanken- und Empfindungs-Karussell besser angeworfen und die wirklich "schöne" Musik der Altschweden entfaltet sich so richtig. Für den Tagesgebrauch im vierten Durchgang zu fahrstuhlig... wasserfallig...! Entschuldigung.

Note: 5,0/10
[Mathias Freiesleben]

Zugeben, "The Fall Of Hearts" ist meine erste ausführliche Beschäftigung mit KATATONIA. Klar, den einen oder anderen Song habe ich mal gehört, doch "The Fall Of Hearts" ist das erste Album der Schweden, das in mein CD-Regal wandert. Wenn der richtige Moment da ist, liebe ich die Schwermütigkeit, die Emotionalität und die Musikalität, die dieses Album offenbart.

Insbesondere das lebendige Schlagzeugspiel des Neuzugangs Daniel Moilanen hebt die Songs auf ein ganz neues, höheres Niveau als zuvor. Ein Album für jede Gelegenheit ist "The Fall Of Hearts" indes definitiv nicht, und vielleicht ist es das, weshalb es bei einigen Kollegen in diesem Kreis nicht so ankommt - weil es sie im falschen Moment erwischt hat.

Wenn Mattes also schreibt, dass er das Album vielleicht nochmal unterm Vollmond hören sollte, dann muss ich sagen: Verdammt nochmal ja! Denn wenn die Zeit für "The Fall Of Hearts" gekommen ist, lassen sich mit Songs wie 'Takeover', 'Serein' (Hit!), 'Serac' und 'Last Song Before The Fade' astreine schwarze Perlen ausmachen, die mich bestimmt durch das Jahr und darüber hinaus begleiten werden.

Note: 9,0/10
[Jakob Ehmke]

Weder 'Takeover' noch das etwas progressivere 'Serein' sind für mich Hits dieses Albums. Im Gefühl ergreift mich erst 'Old Heart Falls'. Hangs und Mattes' Kritik vollziehe ich nach. Eingefahren & monoton traf auf KATATONIA insgesamt zu; auf dieses Album indes seltener: Auf 'Sanctions' (+AMPLIFIER) noch, meinethalben auch auf 'Serac' (+TOOL).

'Decima' werten dezente Folk- & deutliche ANATHEMA-Einflüsse auf. Perfekt integriertes Klavierspiel lässt den typischen Bandsound auf 'Last Song Before The Fade' frischer klingen; doch ist dies erst der Auftakt zum für mich großartigsten Song des Albums: 'Shifts'. Hier darf sich die werte Hörerschaft ganz der Melancholie hingeben. Nuancierter Leitgesang, spieluhrgleiche Nostalgie in dessen instrumentaler Begleitung, gespenstische Sirenen und echobehaftete Vocals im Hintergrund, eine glasklare und dennoch entrückt wirkende Produktion; kurzum: musikalische Zeit-Raum-Auflösung. Hiermit zeigt sich KATATONIAs beste Seite.

Mein zweiter Hit heißt 'Residual': Verwaschene Atmosphäre, nahezu jazziger, dabei jedoch trockener die flüchtige Zeit wegtickender Rhythmus, melancholisch-hypnotischer Gesang, sehnsüchtig und hintergründig sich durch den Soundnebel heranschleichende Gitarrenläufe, ein wie von Meeresrauschen gedämpfter, vage angedeuteter Gefühlsstrudel, der dem Stück Zauber und Tiefe verleiht, dazu diese unruhig stille Form von Spannung vor dem Sturm, bevor die nächste Gischt elektrisch verzerrter Akkorde heransprüht. Berückend schöner, flüchtiger, psychedelischer Rock vor davon ungerührter, unbarmherzig schwermetallischer, melancholischer Leinwand. Wie eine Ode an die Vergänglichkeit.

KATATONIAs neues Album mag etwas progressiver sein; dennoch haben Fans hier nichts zu befürchten: Alle Trademarks vorhanden, und keine Prog-Rock-Exzesse! Wasserfallig? Ja, klar. Das kann schon mal am Ohr vorbeirauschen. Dennoch klingen die Herzensfälle wahrlich nicht fahrstuhlig, werter Mattes! Und bei genauem Hinhören hat auch 'Passer' mehr zu bieten als bloßes Schema K, teuerste Hang! Auf volle Spielzeit bleibt dennoch die EP "Brave Murder Day" mein Bandfavorit, weil noch abwechslungsreicher, zauberhafter, jeder Song darauf noch charakteristischer abgegrenzt gegenüber seinen Gefährten. 

Note: 8,0/10
[Eike Schmitz]


Ich erinnere mich an den Tag, als KATATONIA vorab 'Old Heart Falls' veröffentlichte und ich bestürzt war, dass meine einstigen Heroen anscheinend erneut nicht die Kurve gekriegt haben. Ein starker Kehrvers, aber der Rest plätscherte für mich so dahin. Dachte ich zumindest, hakte die Schweden damit bereits im Vorfeld ab und feierte stattdessen das neue Langeisen von OCTOBER TIDE, bekanntlich mit den beiden Norrman-Brüdern an Gitarre und Bass. Als die Promo zu "The Fall Of Hearts" schließlich eintrudelte, war die Erwartungshaltung gleich null. Ich erwartete einen Abklatsch der Bandtiefpunkte "Dead End Kings" und des unsäglichen & belanglosen "Dethroned & Encrowned".

Wie falsch ich gelegen habe, offenbarte sich mir mit jedem Durchlauf des neuen Albums. Gott, wie sehr habe ich diese detailverliebten Gitarrenläufe wie im Opener 'Takeover' vermisst, wo Großmeister Blakkheim endlich mal wieder den großen TOOL und den nicht minder großen A PERFECT CIRCLE huldigt. Zwar ist das Songwriting auf dem elften Werk in der Diskographie der Band monotoner und rückt es dadurch auch näher an mein persönliches Bandhighlight "Discouraged Ones" (ein 10++++-Meilenstein). Doch ähnlich wie besagter Silberling, der die Abkehr vom melodischen Doom/Death der Anfangszeit markiert, schafft es KATATONIA dadurch, eine einzigartige Atmosphäre zu erschaffen, der sich der Hörer nicht entziehen kann. 

Anders als der von Thomas gelobte Vorgänger-Doppelpack besticht "The Fall Of Hearts" durch geile Riffs und - ganz entscheidend - geile Songs. Wo sich die Schweden in jüngster Vergangenheit an Orchestrierungen versuchten, um substanzlose und belanglos aneinandergereihte Riffs und Melodien zu kaschieren, sind die Streicher auf dem aktuellen Werk lediglich Beiwerk. Und das ist gut so!

Wo Hang in 'Passer' einen Akt der Verzweiflung, alte Fans bei der Stange zu halten, heraushört, gerate ich in Verzückung ob der Abwechslung, der Tempo- und Dynamikwechsel und dieser genialen Melodie in der Strophe. Ja, der Song streift Stationen der bisherigen Diskographie. Aber er bedient sich der besten Elemente daraus und macht ihn deshalb zum perfekten Rausschmeißer. So uneinig wir uns hier in der Redaktion über "The Fall Of Hearts" auch sein mögen, in der Kontroverse liegt nicht selten Klasse. 

Bleibt zu hoffen, dass Nyström und Renkse sich auch künftig auf das beschränken, was sie am besten können: fesselnde Rocksongs schreiben, die auf den Punkt kommen und Streicherarrangements talentierteren Leuten wie Danny Cavanagh und Co. zu überlassen.

Note: 9,0/10
[Haris Durakovic]

 

Zahlen, Zahlen, Zahlen

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Fotos: Ester Segarra

Redakteur:
Eike Schmitz

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