Gruppentherapie: TESSERACT - "Altered State"

31.05.2013 | 22:49

Und hier die Gruppentherapie zum Soundcheck-Dritten im Mai. Diesmal eine erfrischend moderne Progband: TESSERACT.

TESSERACT: Bist Du noch Djent oder wirst Du schon Prog? Und was ist Djent eigentlich? Prog vielleicht? Eine Frage, die intern heiß diskutiert und auch in Zukunft von uns thematisiert werden wird. Nun soll es aber um TESSERACT gehen, eine britische Band, die schon seit 2003 existiert, aber erst 2011 ihr erstes Album ("One") veröffentlicht hat. Danach kam die EP "Perspective" (2012), "Altered State" ist also das zweite Album der Engländer. Make it or break it? Die Therapeuten sind sich alle einig: Make it!






Die Einordnung auf unserer eigenen geliebten Seite sagt Folgendes: "Progressive Metal/Djent". Djent. Djent? Mal davon abgesehen, dass das kein Stil ist, sondern Quatsch, haben die Jungs hier mit dem Geschrammel mal nix am Hut. Mit Progressive dagegen durchaus. Aber schon beim Metal dürfen wir wieder vortrefflich streiten. Denn was TESSERACT hier machen ist großartige, von kraftvoll vorgetragenen Melodien dominierte, härtere Rockmusik. Zu Metal gehört auch irgendwie eine Metal-Attitüde. Und die gibt es hier gar nicht. Ich würde es mal mit Progressive Rock mit Core-Roots umschreiben. Oder Hard Art Rock. (Nein, ich habe nicht getrunken). Die Tracks gehen ineinander über und erzeugen eine Atmosphäre, die sich erst wirklich bei Genuss des ganzen Albums in ihrer Fülle entfaltet. Dabei muss ich Jakob, der das Hauptreview geschrieben hat, mal vehement widersprechen, denn ich erfahre die Musik völlig anders. Wo er von Djent redet und den Groove betont, scheint seine musikalische Früherziehung durch. Selbst bei gelegentlich härteren Tracks wie 'Of Mind - Nocturne' entrückt das zur Nebensächlichkeit. Nein, "Altered State" macht vor diesem musikalischen Hintergrund wirklich keinen Sinn. TESSERACT sollte man vom Prog-Standpunkt zu erkunden suchen, und dann die eingesetzten unüblich-innovativen Stilmittel als solche erfahren. Denn der RIVERSIDE-Chor in besagtem 'Of Mind - Nocturne' ist das Fleisch, und die harten Gitarren nur das Gewürz. Vergesst alles, was ihr über die Band zu wissen glaubt. Lasst ab von Schubladen. Taucht ein in dieses Album, mit dem die Briten ein ganz feines Stück Musik ohne Scheuklappen vorlegen. Dass mir dabei mehrfach AMPLIFIER einfallen, liegt sicher nur daran, dass ich mich in letzter Zeit vermehrt mit denen beschäftigt habe. Glaube ich jedenfalls. Andererseits: Das hier ist noch besser als "Echo Street". Und wenn ich nun noch die bereits erwähnten Polen mit drei Ausrufungszeichen in den Raum werfe, ist die Zielgruppe umrissen und die muss hier geschlossen zuschlagen.

Note: 9,0/10
[Frank Jaeger]





Wenn ich Franks Beitrag so lese, dann muss ich mir schon ein oder andere Mal am Kopf kratzen, denn ich sehe die Platte weitestgehend in einem anderen Licht als mein zwei Dekaden älterer Kollege. Da lasse ich mich auch gar nicht auf Diskussionen ein, ob Djent nun ein Genre ist oder nicht, ob man für Metal Attitüde braucht oder sonst etwas, sondern versuche nur mal die Musik als solche zu betrachten. Und was dringt beim Hören von "Altered State" zu meinen Ohren vor? Genau, Djent (oder von mir aus auch Progressive Metal) der schwebenden Art und Weise. Das hat mit dem Rhythmus-Getacker anderer Bands natürlich wenig am Hut. TESSERACT bewegen sich daher am (ruhigen) Ende eines Genres, welches sie nichtsdestotrotz (oder gerade deswegen?) mit anführen. Einzelne Töne, die immer wieder in den (Welt-) Raum gestellt werden, traumhaft schöner Gesang, bei dem die Gesangslinien oft ewig gezogen werden und dazu ein rhythmisch versiertes, aber immer nachvollziehbares Fundament, welches Platz zum Abgehen und gleichzeitig Versinken lässt: Das hat man in dieser Form noch nicht oft gehört und alleine dafür gebührt den Briten Respekt. Auf die gesamte Länge überzeugt das Album voll und ganz und mit 'Of Mind - Nocturne' ist sogar ein Kandidat für den Titel "Song des Jahres" am Start. Insgesamt agieren TESSERACT etwas kompakter als auf ihrem Debüt, ohne dabei irgendetwas einzubüßen: Respekt! Selbst das Einbauen eines Saxofons (in 'Of Reality - Calabi-Yau' und 'Of Energy - Embers') in so moderne Musik wirkt vollkommen natürlich und faszinierend schön. An dieser Stelle schließt sich möglicherweise doch wieder der Kreis zu Frank: Vielleicht ist die große Stärke TESSERACTs, durch diverse Elemente sowohl Prog-Rock- als auch Djent-Assoziationen zu wecken. Und wenn man problemlos auf beiden Gebieten überzeugt, dann hat man als Band einfach eine ganze Menge richtig gemacht.

Note: 9,0/10
[Oliver Paßgang]

Ich schätze TESSERACT so sehr, weil es dieser Band wie kaum einer anderen gelingt, die unterschiedlichsten Einflüsse und Klangelemente so miteinander zu verschmelzen, dass kein wirres, entrücktes Zeug dabei herauskommt sondern schlüssige, mitreißende und äußerst originelle musikalische Kleinode. Wie schon beim famosen Debüt "One" begegnet einem auf "Altered State" so ziemlich alles von aufgewühltem Progressive Rock, über Alternative- und Indie-Melodien, bis hin zu komplexem, modernem Metal und sphärischen Klangexperimenten, die dem Gesamtbild ein Quäntchen berührender Zartheit verleihen. Damit setzt sich TESSERACT ziemlich genau in die Schnittmenge von so ziemlich allem, was zur Zeit unter alternativ-progressiven Hipster-Nerds salonfähig ist. Diese Band könnte im Vorprogramm der bereits genannten RIVERSIDE genauso bestehen wie an der Seite von COHEED & CAMBRIA oder PROTEST THE HERO. Vermutlich würde am Ende sogar das RADIOHEAD-Publikum die Truppe mögen, trotz ihrer energisch-sperrigen Momente. Eine gewisse Seelenverwandtschaft glaube ich zwischen TESSERACT und ihren Landsleuten von ENOCHIAN THEORY zu erkennen, auch wenn bei denen das konkrete Ergebnis in eine etwas andere stilistische Richtung geht. "Altered State" verwöhnt den Hörer jedenfalls mit exquisitem, anregendem Stoff für Kopf, Bauch und Seele. Man kann in dieser Musik komplett versinken und Zeit und Raum vergessen. Man kann aber auch konzentriert zuhören und sich an den vielen kleinen Raffinessen in Songwriting und Arrangements erfreuen. Es ist gut möglich, dass der ästhetische Zugang zu diesem Album am besten mit dem ebenso eindringlichen wie eingängigen 'Of Mind - Nocturne' gelingt, wie Oliver es offenbar empfunden hat. Erfahreneren Feinschmeckern empfehle ich als Kostproben aber eher 'Of Matter - Retrospect' oder 'Of Energy - Singularity', wo die bereits aufgeführten Bestandteile der Musik die innigsten Hochzeiten feiern und die heißesten Tänze auf akustische Parkett legen. Der Name TESSERACT steht somit für eine außergewöhnliche musikalische Erfahrung, die ich jedem anspruchsvollen Hörer nur von Herzen wünschen kann.

Note: 8,5/10
[Martin van der Laan]





Die Kollegen haben mit ihren Einordnungen, Einschätzungen und Bewertungen vollkommen recht. TESSERACT spielen dieses Genre, das nach komischen Geräuschen benannt wurde, mit einer Leichtigkeit und Atmosphäre, wie ich sie bislang nicht gehört habe. Dazu muss ich sagen, dass mir aus dem Djent-Sektor sonst nicht wirklich alles astrein mundet, der Grat ist ziemlich schmal. Auf der Sonnenseite des Grates spielt diese Band, und sie kann es einfach. Auch andere Bands mögen es drauf haben, doch wo ist für mich der Unterschied? Auf "Altered State" wird nicht mit der Brechstange versucht, heavy und brutal zu klingen. Die Songs sind es halt. Und das liegt absolut nicht nur an der Produktion, die deutlich mehr nach HiFi klingt als Vergleichbares. Mit all dem, was TESSERACT so im Rucksack haben, schaffen sie stets die richtige Balance zwischen erholsamen Momenten und Gefühlsausbrüchen. Immerhin gelingt das so gut, dass ich auch nach dem zweiten Hören weiter Lust habe, die Scheibe zu entdecken und nicht wie so oft ermüdet zurückschrecke. Ist das jetzt ein Review oder eine objektive Diskussion dieses Albums? Weniger. Eher meine Versöhnung mit einem Stil, der mir oft zu sehr am Musik machen vorbeigeht und einfach nur möglichst abgefahren sein will. "Altered State" ist ein klasse Beispiel, wie man genau das vermeidet und im oftmals traditionslastigen Soundcheck auf dem Treppchen landet.

Note: 8,0/10
[Nils Macher]


Mehr zu diesem Album:
Soundcheck 05/2013
Review von Jakob Ehmke

Redakteur:
Thomas Becker

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