Gruppentherapie: VISIONS OF ATLANTIS - "Pirates II - Armada"

02.08.2024 | 20:53

Mehr als Nutella für Wacken-Besucher?

Mit der neuen ORDEN OGAN haben wir unsere Gruppentherapie-Serie zum Juli-Soundcheck gestartet (zum Artikel). Dritter ist das Album letztlich geworden. Wir bleiben nun im symphonisch-melodischen Bereich und widmen uns einem Album, für das das Ranking ganz anders endet: Wir sprechen über "Pirates II - Armada" von VISIONS OF ATLANTIS. Sängerin Clementine hat uns in einem Interview (geführt von Maik Englich) zwar schon viel über die zugrunde liegende Seeräuber-Sory erzählt; trotzdem reicht es nur für Platz 19, und auch Hauptrezensent Frank Wilkens ist nicht hellauf begeistert (zum Review). Also besteht definitiv Bedarf an einer Therapie. Ist das Album wirklich nur weiteres, austauschbares Futter zur Bespaßung der Wacken-Masse oder gibt es etwa auch Hörer, für die diese Musik doch mehr bedeutet?

Freunde des symphonischen Metals werden mit den Ohren schlackern, denn speziell für sie haben die Musiker von VISIONS OF ATLANTIS einen richtigen Genre-Leckerbissen am Start. Die Arrangements sind ausgeklügelt und spannend, "Armada" erzählt die 2022 gestartete "Pirates"-Geschichte sehr geschmackvoll und stilsicher weiter und die Mischung aus epischem, leichtfüßigem, aber auch drückendem und stürmischem Material sorgt für ordentlich Zunder auf hoher See.

Jetzt kann man ob der ausgelutschten Freibeuterthematik natürlich schon mit den Augen rollen, aber lasst euch hiervon nicht blenden, da Frontdame Clèmentine Delauney und ihre Seeräuber ihre Geschichte - getreu dem tollen Artwork - sehr authentisch erzählen. Vor allem das 'The Dead Of The Sea'-Epos, dieser Ohrwurm an Titeltrack, aber auch ihr Kampf gegen die 'Monsters' sowie 'Magic Of The Night' machen hier und heute den Reiz aus. Eine runde Sache, die VISIONS OF ATLANTIS hier aus allen Rohren abfeuert. Zwar wird dieses hohe Niveau nicht durch die Bank weg durchgezogen, vereinzelt gibt es einige "so lala"-Tracks und ehrlicherweise bin ich dem Symphonic Metal seit einigen Jahren echt überdrüssig, sodass ich nach dem ersten Durchgang etwas Nichtsymphonisches für meine Lauscher brauche, doch macht die Reise Spaß und sorgt für klitzekleine Aha-Effekte.

Note: 8,0/10
[Marcel Rapp]

 

Oh Marcel – I feel you. Auch mich hat beim symphonischen Metal der "Nutella-Effekt" erreicht. Wo mich früher diese cineastischen Breitwandsounds in komplette Ekstase versetzt haben, verfolge ich mittlerweile selbst die Veröffentlichung einer neuen NIGHTWISH-Scheibe eher mit einem müden Augenaufschlag. Und wenn es dem Branchenprimus so geht, dann hat es eine Band wie VISIONS OF ATLANTIS doppelt schwer. Dabei macht die Truppe eigentlich viel richtig und musiziert auch auf einem ansprechend hohem Niveau.

Aber ähnlich wie im Blockbuster-Kino verbirgt sich unter der Oberfläche wenig, was einem nachhaltig die Schuhe auszieht. Vieles kennt man als Vielhörer tatsächlich schon und wird mal wieder nur geringfügig variiert. Gutes Beispiel ist das keltische Intro, welches man so ähnlich, nur mit anderem Text schon häufiger gehört haben könnte. Dieses Geschmäckle der Austauschbarkeit taucht bis zum Albumende dann noch häufiger auf.

Das zweite Problem ist, dass die symphonischen Elemente teilweise nicht der zentrale Ankerpunkt der jeweiligen Songs sind, sondern VISIONS OF ATLANTIS sich eher auf Gesangsparts fokussiert. Das hat zur Folge, dass sich sämtliche Highlights des Albums eher in den jeweiligen Gesangslinien wiederfinden und man musikalisch eher in gemäßigten Wassern schippert. Besonders der Opener 'The Land Of the Free' versucht zumindest beides in Einklang zu bringen und hat da einen echt schönen Flow. Wer sich an diesen beiden Punkten nicht reibt, der sollte sowieso mal in den Beginn reinhören, da auch das erste Drittel das offensichtlich stärkste von "Pirates II – Armada" ist. Für mich bleibt diese kleine Rundfahrt aber eher etwas für einen verregneten Sonntag, wenn ich mal eine Alternative zum x-ten "Fluch der Karibik"-Teil suche und der Fernseher aus bleiben soll.

Note: 7,0/10
[Stefan Rosenthal]


Braucht es 2024 noch Symphonic Metal? Ich weiß, manche Leute stehen total drauf. 2004 hat mich NIGHTWISH auch fasziniert, aber spätestens 2007 hat diese Faszination nachgelassen. Und die zahllosen Epigonen hatten es bei mir immer schwer. Wenn dann noch Einflüsse von Folk Metal und "Piraten Metal" dazu kommen, dann kann es ja eigentlich nur schrecklich werden, oder?

Nun, ganz so schlimm ist "Pirates II - Armada" tatsächlich nicht geworden. Denn handwerklich ist das wirklich klasse gemacht, und allzu viele fürchterliche Schunkel- oder Opernmomente gibt es zum Glück nicht, weshalb ich finde, dass das Album ganz gut hörbar ist. Für mich ist es jedenfalls spannender als die letzten NIGHTWISH-Alben, die ja völlig überambitioniert waren. Keiner erwartet das bei Symphonic Metal! Das ist Wacken-Unterhaltung, und das ist auch völlig ok so. Und auf diesem Niveau liefert VISIONS OF ATLANTIS ab.

Wer hier also ein brillant ausgeklügeltes Konzeptwerk erwartet, der wird enttäuscht werden. Wer banale Comedy-Unterhaltung auf FEUERSCHWANZ-Niveau sucht, wird aber auch nicht fündig, denn es wird einfach solide Hausmannskost geboten, qualitativ ordentlicher Metal mit vielen Keyboards und einer Frontdame, die dankenswerterweise nicht wie eine Opernsängerin klingen will. Zusammengefasst ist das relativ solider Melodic Speed Metal mit etwas mehr Keyboards als bei SONATA ARCTICA. Ich kann's gut hören.

Note: 7,5/10
[Jonathan Walzer]

 

Vor etlichen Jahren haben meine Tochter und ich CD-Börsen heimgesucht, was jedesmal eine teure Angelegenheit war. Erstmal wurde aufgestockt, was noch fehlte, dann abgegrast. CDs von Bands, die wir nicht kannten, suchten wir nach dem Cover aus. Soweit ich mich erinnere, hatten wir immer Glück und die Musik entsprach unserem Geschmack. Warum ich das erzähle?

Nun, so sind wir auch an VISIONS OF ATLANTIS gekommen und haben diese Käufe nicht bereut. Schlagzeuger Thomas Caser gründete die Band 2000 und diese hat inzwischen eine wechselvolle Geschichte hinter sich, in der er als einziges Gründungsmitglied noch übrig ist. Was noch geblieben ist, ist der Symphonic Metal, der uns schon damals gefallen hat, auch wenn er sich über die Jahre natürlich etwas verändert hat. Das hängt allerdings hauptsächlich mit den diversen Sängerinnen- und Sängerwechseln zusammen, die alle ihren eigenen Stil einbrachten. Ich mochte sie alle, aber zur jetzigen Musik passt das Duo Clémentine Delauney und Michele Guaitoli perfekt.

Mit "Pirates II – Armada" liefert die Band feine Töne ab, die einfach gut ins Ohr gehen. Die Kompositionen sind eingängig, erzählen Geschichten und wer auf Piratenromantik steht, für den ist das Album sowieso geeignet. Auch Clémentine ist einfach in ihrer Rolle als Piratin ideal, anders kann man es nicht ausdrücken. Es macht Spaß, ihr zuzuhören oder ihr in den diversen Videos zuzusehen. Dass sie eine wunderschöne Stimme hat, die zumindest mich gefangen nimmt, macht das Album umso hörenswerter. Gut, der ganz große Knallerhit mag auf "Pirates II – Armada" nicht dabei sein, aber darauf kommt es vielleicht gar nicht an, wenn der Rest stimmt. Und der stimmt – zumindest für mich. Die Band nimmt mich mit auf eine Reise, beim Lauschen entstehen Bilder im Kopf, es könnte auch der Soundtrack zu einem Kinofilm sein.

Also, Piratinnen und Piraten, die Segel gehisst und ab auf die See! Kämpfen und feiern lautet die Devise! Wobei das Feiern des neuen Albums bei den Fans sicher eindeutig im Vordergrund stehen wird.

Note: 8,5/10
[Hanne Hämmer]

Zwei Soundchecker bemängeln mehr oder weniger direkt, dass die Musik zu kitschig sei. Das ist für Symphonic-Fans sicher ein gutes Zeichen, außer dass sie die bemängelte musikalische Eigenheit wohl anders bezeichnen würden. Euphorische, poppige Melodien und fröhliche Synthie-Klänge sind aber ein stildefinierendes Kriterium, ebenso wie Schlabbergitarren und tiefe Growls charakteristische Attribute des Death Metals sind. Persönlich mag ich Kitsch und Geklimper aber lieber, sofern die Musik nicht so simpel und plakativ daher kommt, dass ich mich als denkender Mensch angegriffen fühlen muss. Das hatten wir ja letztens auch ein paar Mal.

Aber keine Angst, VISIONS OF ATLANTIS ist in dieser Hinsicht ungefährlich, zumindest für meine Ohren. Vielmehr gefällt mir das Gehörte eigentlich sehr gut, und Kollege Rosenthal erwähnt auch den Grund dafür. Denn der zentrale Ankerpunkt der Musik ist - schlecht für Stefan, gut für mich - der Gesang; hier pflichte ich Hanne bei: Clémentine Delauney ist eine wirklich tolle Sängerin. Und die meisten Songs möchte ich nach den drei bislang absolvierten Durchgängen tatsächlich noch öfter hören. Vielleicht ist es das, was meine Vorredner mit "Songwriting auf hohem Niveau" meinen, ist es mir doch schleierhaft, wie man so etwas unsubjektiv beurteilen kann. Wie "solide Hausmannskost" würde ich es aber auch nicht hören, das ist vielleicht die von vielen so gefeierte neue ORDEN OGAN.

Ich finde, dass VISIONS OF ATLANTIS den Dreh echt gut raus hat, ohrwurmelnde Melodic-Metal-Songs zu schreiben, die mich wohlig an die besten Zeiten von DELAIN, BEYOND THE BLACK oder AMBERIAN DAWN erinnern (z.B. 'Monsters' oder 'Hellfire'), dazu gibt es genügend Abwechslung, sodass die Songs nicht redundant wirken. Ja, ich finde, man hat sich hier Mühe gegeben, eben keinen Einheitsbrei abzuliefern. Vielmehr höre ich ein Album, das den Anspruch hat, einen langlebigen Beitrag zu einem ansonsten an zu viel Mittelmäßigkeit leidenden Genre zu leisten. Ein Konzertbesuch könnte hier auch Aufschluss bieten, hat die Band doch einen exzellenten Ruf als Liveact.

Note: 8,5/10
[Thomas Becker]

Fotocredits: Robert Eikelpoth (Promofoto) und Michael Vogt (Konzertfoto, Powermetal.de)

Redakteur:
Thomas Becker

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