Gruppentherapie: WHITE STONES - "Memoria Viva"
19.08.2024 | 22:37Wenn Du so heißt, gefällt Dir diese Musik!
Wie gewohnt gibt es die harte Nuss am Ende. Zum Abschluss der Juli-Soundcheck-Aufarbeitung widmen wir uns jazzig-proggigem Death Metal mit katalanischem Gesang. Klingt herausfordernd? Ist es scheinbar auch, denn unser Vielhörer Björn hat ganz schön an "Memoria Viva" von WHITE STONES zu knabbern (zu seinem Hauptreview). Auch die Soundchecker kommen meist nicht mit dem Gehörten zurecht, als anstrengend und ziellos wird die Musik empfunden. Grund für die Musikheiler, hier nochmal genauer hinzuhören. Es stellt sich heraus, dass solch eine Musik (fast?) nur für Stef(ph)ans geeignet ist. Klingt seltsam?
Überforderung par excellence. Und wenn ich einerseits vor Wirrwarr überfrachtet werde, mich andererseits manche Wiederholungen etwas gähnen lassen, dann will, wie schon beim Vorgänger, der Funke partout nicht überspringen. Das Death-Metal-Nebenprojekt von OPETH-Musiker Martin Méndez ist mit Album Nummer drei am Start und hat wieder einen richtig dicken Brocken im Gepäck. Dass das nicht unbedingt positiv gemeint ist, ist dem Verlust des roten Fadens zuzuschreiben.
Wie schon auf "Dancing Into Oblivion" zeigen sich die Katalanen von ihrer spielfreudigen, progressiven und technisch herausragenden Seite. Doch ich kann der Platte schlichtweg nicht folgen, weil ich a) der spanischen Sprache nicht mächtig bin, mich b) die ausufernden, leicht ins Jazzige abdriftenden Instrumentalparts ermüden und mich c) zu wenige Parts richtig packen können, um mir wieder den richtigen Pfad zu weisen.
Mal etwas rockiger ('Grito Al Silencio'), mal aussageschwach ('Yemayá'), mal viel zu selten auf den Punkt kommend ('Humanoides') - hier sind fraglos grandiose Musiker am Start, doch ist "Memoria Viva" doch etwas für richtige OPETH-Fanatiker (hier gibt es viele Parallelen) und Freunde des weit über den Tellerrand denkenden Tech-Deaths, zu denen ich mich schlichtweg nicht zähle und mir genau deshalb der Zugang zum dritten WHITE STONES-Streich fehlt.
Note: 5,5/10
[Marcel Rapp]
Progressive Technical Death Metal aus Spanien also? Soso. Ich muss Marcel und unserem Hauptrezensenten Björn in allem, was sie bisher geschrieben haben, Recht geben. Diese Platte überfordert den Hörer durch ihre Machart maßlos! Der Herr Mendez und seine munteren Proggie-Deather hätten auch Cutter oder Regisseure bei so mancher modernen Fernsehserie werden können: Auf "Memoria Viva" werden dem Hörer in okayen bis manchmal guten, oft aber viel zu kurzen Parts der Mund beziehungsweise die Ohren wässrig gemacht, nur um einen ebensolchen Songpart dann blitzschnell zu beenden und den nächsten zu beginnen, so dass man empört mit offener Futterluke unter dem Kopfhörer sitzt und sich verdattert fragt: "Das kann doch nicht alles sein, das war doch noch nicht zu Ende, das kommt bestimmt nochmal!?"
Denkste! Die Scheibe cliffhangert sich auf diese Weise von musikalischer Felsspalte zu musikalischer Felsspalte. Keine Idee wird beendet oder songdienlich ausgearbeitet, außer vielleicht bei den letzten beiden Songs. Ansonsten lassen die fiesen Spanier einen ständig ins kompositorische Nichts stürzen. Der EM-Titel war noch nicht genug, jetzt sägt ihr auch noch so an unseren Nerven, was?
Nun, hier ist natürlich niemand fies oder sägt an irgendetwas, im Gegenteil. Trotz der Kritik an der Scheibe haben wir es hier mit sehr versierten Musikern zu tun. Das hört man in diesem seltsamen Songpart-Gepuzzel zu jeder Zeit deutlich heraus. Beispiele gefällig? Hördurchläufe von 'Humanoides', 'La Ira' und 'Grito Al Silencio' zeigen die Instrumental-Kunst der Katalanen, zeigen aber die beschriebenen Probleme mit der Musik ganz gut auf. Fatalerweise für mich werden ausgerechnet die langwierigeren, langweiligeren Ideen länger ausgeführt, so zum Beispiel 'Zamba de Orun' oder 'Somos'. Noch dazu finde ich viele der von Björn angesprochenen "Fragmente" - eine völlig richtige Bezeichnung - fast atonal oder zwölftonartig, um mal Fachbegriff-Dropping aus dem Oberstufen-Musikunterricht zu Ehren kommen zu lassen.
Jazzig angelegt ja, packend inszeniert? Nein! Dabei klingt die Scheibe ja vom Aufnahmesound her insgesamt großartig. Das allein reicht aber nicht zu einer guten Platte, dazu müssten schon gute Songideen her, und genau daran mangelt es den weißen Steinen ganz massiv! Das hört sich alles sehr nach im Proberaum zusammengeklaubten Musikfetzen an, die man zu ach so progressiven Liedern zusammengeklebt hat. Um mein Gejammer zu komplettieren, muss ich mich jetzt abschließend noch über die bärbeißig uninspiriert vor sich hinknötelnde Growlstimme beschweren, die meist nur monoton auf einem Ton verweilt. Da können dann leider auch das griffig-melodiöse 'Vencedores Vencidos' und das instrumentale, ruhige letzte Lied 'Yemayá' nicht mehr viel an meinem Gesamteindruck des Albums herumreißen, nette Flöten- und Klarinetteneinsätze hin oder her.
Note: 3,5/10
[Timo Reiser]
So ganz kann ich wirklich nicht nachvollziehen, warum die Kollegen Rapp und Reiser sich mit der Platte hier so schwer tun. Überforderung? Ganz und gar nicht. Fehlender roter Faden? Ebenfalls Fehlanzeige. Diesen konnte ich bereits im zweiten Spin blindlings aufnehmen und wollte ihn gar nicht mehr aus der Hand legen, so gut und angenehm sind mir die vermeintlich progressiven, aber für mich jederzeit eingängigen Songs während der sehr kurzweiligen siebenunddreißig Minuten allesamt durch die Hörrinde gerauscht.
Durchweg alle Breaks und Wendungen in den Stücken ergeben für mich eindeutig Sinn, sind stets absolut nachvollziehbar und fügen sich am Ende des Albums ganz wunderbar zu einem großen organischen Hörgebilde zusammen. Gewiss, die Parallelen zu OPETH sind natürlich nicht immer von der Hand zu weisen, aber eigenständig genug agiert man ungeachtet dessen hier eigentlich trotzdem auf kompletter Albumstecke. Die Balance zwischen cleanen und verzerrten Gitarren könnte ausgewogener nicht sein, zuweilen wird hier locker-lässig-jazzig vor sich hin improvisiert ('Somos'), so dass sich die Hörsitzung unter den heimischen Kopfhörern schon sehr rasch in kommodem Wohlbehagen auflöst. Und wenn man sich kleine Songdiamanten wie 'Zamba de Orun' (zauberhafte Querflötenbegleitung und tolle Schlagzeugarbeit) und 'La Ira' (allerfeinste Hammond-Gedächtnisorgel) aufmerksam zu Hörgemüte führt, kann man wohl davon ausgehen, dass nicht nur Mastermind und Bassist Martín Méndez die ein oder andere 70er-Prog-Rock-Referenzplatte im heimischen Regal stehen haben dürfte.
Mir macht das ganze Album durchweg richtig Laune und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich hier auch bei einem der nächsten Durchläufe noch immer dieses oder jenes Schmankerl neu für mich entdecken werde. Wer also neben OPETH auch mit Bands wie MORBUS CHRON und SWEVEN etwas anzufangen und mit mediterranen und lateinamerikanischen Songeinflüssen umzugehen weiß und sich auf der anderen Seite nicht daran stört, dass auf gesanglicher Ebene in spanischer Sprache konsequent durchgegrowlt wird, darf beziehungsweise muss hier auf jeden Fall mal minimum ein Ohr riskieren.
Note: 8,5/10
[Stephan Lenze]
Danke Stephan! Ich neige ja dazu mich auch in allzu abstruse Songwriting-Experimente hineinzufuchsen und hatte schon die Befürchtung, dass ich den Zugang zu dieser Musik subjektiv zu leicht bewerte. Aber anscheinend ist ein roter Faden auch für andere Hörer erkennbar. Aber leider wohl nicht für die Mehrheit von Hörern. Das ist insbesondere schade, weil potenzielle Interessenten hier abgeschreckt werden, obwohl es im progressiven Bereich unzählige komplexere Vertreter gibt, das Ding durchgehend fantastisch groovt ('D-Generation') und es immer wieder kleine melodische Funken gibt, welche das Interesse am Leben halten.
Klar, das ist schon teilweise sehr jazzig (aber nie kompliziert) und auch fragmentarisch angelegt, das dürfte im anspruchsvollen Prog aber kein Ausschlusskriterium sein. Bei guten (Horror-)Filmen gilt doch auch die Devise, dass nicht alles gezeigt werden muss, sondern manchmal die Kunst der Nachhaltigkeit auch im Wegblenden liegt. Ich bin nicht der Meinung, dass man alles ausformulieren sollte, nur weil es sich um Musik handelt. Manchmal reicht es auch Akzente zu setzen, welche mich geistig über den Song hinaus begleiten. Das gelingt auf "Memoria Viva" ziemlich gut und macht Album Nummer drei auch zum besten Output von WHITE STONES. Besonders die ungewöhnliche Rhythmik und Klangästhetik der Heimat Uruguay wurde so homogen bisher noch nicht integriert. Somit ist es auch nur logisch, dass nun erstmalig komplett in Spanisch gegrowlt wird.
Das kleine Problem, das ich sehe, ist eher, dass die Band weiterhin zwischen den Stühlen sitzt. Für einen echten Death-Metal-Maniac ist das weiterhin wirrer Mumpitz und für einen echten Prog-Gourmet ist das Ding keine Herausforderung. Deshalb ist auch für Album Nummer vier noch Luft nach oben. Für mich darf es dann dort noch etwas extremer und noch experimentierfreudiger ausfallen, als bisher. Vielleicht ist die kleine 'Greensleeves'-Verbeugung im finalen 'Yemayá' ein Indikator, wo die Reise noch hingeht.
Note: 8,0/10
[Stefan Rosenthal]
Es muss am Namen liegen, denn Stephan und Stefan haben das vorliegende Werk schon sehr gut beurteilt und auch ich schlage in diese Kerbe. Somit ist Timo deutlich zu widersprechen, wenn er schreibt, die Scheibe überfordere "den Hörer" maßlos, denn hier haben wir schon mal drei Exemplare, bei denen dies nicht der Fall ist. Wenn mir beim Hören zahlreiche, unterschiedlichste Assoziationen im Kopf aufploppen - nicht nur OPETH als naheliegendste Referenz, sondern auch TOOL, der Wahnsinn einer Kapelle wie DEAD CROSS, in einigen ruhigen Passagen wiederum KING CRIMSON und gesanglich auch immer wieder Fernando Ribeiro von MOONSPELL, obwohl der ja ein zumeist englisch singender Portugiese ist, dann sagt dies erstmal noch nichts über die Eigenständigkeit der Kapelle aus, denn so funktioniert Musikrezeption eben. Man sucht einen geläufigen Anker, oder eben den genannten roten Faden, den Marcel und Timo nicht finden mögen, der sich mir aber wie von selbst offenbart, da ich mit allen aufgeführten Künstlern sehr viel anfangen kann und auch nicht prinzipiell gradlinige Songstrukturen brauche.
Die großartige Leistung von WHITE STONES besteht für mich darin, diese ganzen unterschiedlichen Facetten wirklich stimmig zu einem spannenden und durchgängig originellen Konglomerat zusammenzuführen, das trotz vieler Wechsel und vielleicht nicht jedes Mal bis ins letzte Detail ausgearbeiteter Ideen für mich ganz wunderbar funktioniert. Mich hatte "Memoria Viva" ebenso wie Meister Lenze ab dem zweiten Durchlauf am Haken und lässt auch bis jetzt nicht wieder los. Es gibt genug 08/15-Musik, bei der aus einer Songidee ein ganzes Album zusammengeschustert wird, da ist WHITE STONES einfach erfrischend anders.
Note: 9,0/10
[Stephan Voigtländer]
Nun, nach ein paar Durchläufen in wechselndem Ambiente (Arbeitsplatz, Autobahn, Berghütte) komme ich zu dem Schluss, dass ich - zumindest für diese Gruppentherapie - einen Namenswechsel beantragen sollte. Stefan Becker? Oder Stephan Becker? Nun, das ist im Fall von WHITE STONES egal, denn sowohl bei "f" als auch bei beiden "ph"s fühle ich mich gut aufgehoben.
Gut, der Gefallensbonus, den die Verwendung einer fremden Sprache von mir beim Hören oft bekommt, fällt bei Growlgesang erstmal weg, ansonsten ist "Memoria Viva" aber doch ein wunderbarer musikalischer Exot. Anders als Timo finde ich es toll, wie die Musik mit den Erwartungen spielt, auch ich fühle mich in dem Sound wohl, der Gott sei Dank weit weg vom tiefschlürfenden Death-Gebretter ist, und ich genieße diese angejazzten Clean-Passagen sehr, die für mein Ohr auch ein wenig skandinavische Melancholie innehaben.
Und obwohl ich die Kritiker durchaus verstehen kann, denen es hier an musikalischer Führung fehlt, so fließt das Gehörte für mich gar herrlich. Ja, Stephan V. und ihr anderen Stephans: Wir müssen hier nichts suchen, diese Musik findet uns. Ohne tiefes Gebrummel gäbe es hier noch 'nen Notenpunkt mehr!
Note: 8,0/10
[Stefan Becker]
Fotocredits: Sandra Artigas
- Redakteur:
- Thomas Becker