Im Rückspiegel und Pommesgabel-Folge 144: ANNISOKAY
17.09.2023 | 09:50Die kommende EP-Veröffentlichung "Abyss pt. 1" ist für uns der Anlass, auf die ANNISOKAY-Diskografie zurückzuschauen. Von der Debüt-EP "You, Always" bis hin zum kommenden Release widmen wir uns den Alben der Metalcore-Band aus Halle (Saale).
Wer lieber hören, statt lesen möchte oder es etwas ausführlicher mag: Zu diesem Rückblick gibt es eine Podcast-Folge von Pommesgabel gemeinsam mit Daniel vom Silence Magazin.
Manchmal frage ich mich, wie ANNISOKAY von mir so lange unentdeckt bleiben konnte, zumal wir eine Weile praktisch Tür an Tür gelebt haben. Dann überlege ich, welche Musik ich 2012 vorrangig gehört habe und sofort spielt GOJIRAs 'Clone' in meinem Kopf: Schnörkelloser, rhythmusbetonter Death Metal mit wenigen melodiegebenden Elementen, keinem Klargesang, vielen Gitarrensoli. Über die Jahre hat sich mein Musikgeschmack offenbar stark verändert - da erschien ANNISOKAY Ende 2020 genau zum richtigen Zeitpunkt auf meinem musikalischen Radar und hat sich innerhalb kürzester Zeit zu meiner Lieblingsband entwickelt, bei der mir auch der komplette Back-Katalog gefällt. Die Band entwickelt sich von Release zu Release weiter und wird nicht müde, Neues auszuprobieren. Sie steigert sich mit jeder neuen Veröffentlichung und trotzdem sind die Trademarks der ersten musikalischen Lebenszeichen noch auszumachen - natürlich in gesteigerter Qualität. Da macht jeder neue Song Spaß.
Die kommende EP "Abyss pt. 1" ist der perfekte Anlass, die Diskografie einmal rückblickend zu betrachten. Schnell fällt auf: Der Band ist gelungen, was nicht viele schaffen, sie steigert sich von Album zu Album. Ein Aussetzer ist nicht zu finden und es scheint, als würde ANNISOKAY organisch immer weiter wachsen in ihrer Qualität. Das macht umso mehr Spaß und die Ankündigung jedes neuen Songs löst enorme Vorfreude aus. Doch fangen wir vorne an:
You, Always (2010)
Wer komplett in den ANNISOKAY-Urschleim abdriften möchte, dem sei 'Hold My Hand' ans Herz gelegt. Das älteste musikalische Zeugnis der Band zeigt bereits viele Ansätze, die im Laufe der Jahre zu ihren Stärken ausgefeilt werden: ein starker Refrain, eingängige Melodien, eine gute Portion Härte, Pop-Appeal und dazu ein durchdachtes Video, das man so als quasi Debüt-Video nicht erwartet hätte. Doch der 2007 - also im Gründungsjahr - veröffentlichte Song schaffte es nicht auf die Debüt-EP "You, Always", ebenso wenig wie ein paar weitere Demo-Tracks. Bis zum 13. Februar 2010 hat sich in der Band einiges getan, vor allem personell. Der Klargesang von Gitarrist und Mastermind Christoph Wieczorek wird um Screams von Felix Fröhlich ergänzt, zu den eher rockigen Basic-Riffs gesellen sich klirrend kalte Gitarren-Passagen und verschiedene Stilrichtungen, von Alternative Rock über Nu Metal bis Metalcore, sind unüberhörbar. Klar, "You, Always" wirkt unaufgeräumt und der Sound ist roh, doch für eine Debüt-EP liefert ANNISOKAY hier schon gut ab. Gerade rückblickend ist es spannend, sich dieses Werk zu Gemüte zu führen, weil es sehr deutlich die Weiterentwicklungen offenbart: Die Clean Vocals sind mehr oder weniger gleichförmig, bei 'At The Heart Of The Matter' sogar teilweise schief - heute undenkbar! Christoph Wieczorek beherrscht zusätzlich zu seiner Komfort-Tonlage nun auch die Kopfstimme perfekt und bringt beides tadellos auf die Bühne. Darüber hinaus wird er nicht müde, neue Stile mit seiner Stimme auszuprobieren, so auch auf dem neuesten Output anno 2023. Aber nehmen wir das Ende nicht vorweg. Die größte Schwäche auf "You, Always" ist das Schlagzeug, das hier uninspiriert und austauschbar wirkt. Die Becken werden ordentlich verdroschen, ja, aber ein klangliches Spektakel ist das nicht. So zeigt das Debüt auch: Der baldige Wechsel zu Dave Grunewald an den Screams tat ANNISOKAY gut (auch wenn Felix Fröhlich hier passabel abliefert - sein Nachfolger spielt in einer anderen Liga) und vom Schlagzeugspiel des späteren Drummers Nico Vaeen profitieren die Songs enorm. "You, Always" ist ein klassisches Debüt, das Potenziale aufzeigt, am Ende aber kein Ausrufezeichen zu setzen vermag.
The Lucid Dream(er) (2012)
Das ändert sich jedoch mit dem Debüt-Album "The Lucid Dream(er)". ANNISOKAY baut hier vermehrt elektronische Elemente ein und schafft so, in einigen Songs, eine Gruselatmosphäre mit entsprechenden, kleinen Geschichten. Der Opener 'The Final Round' baut diese Atmosphäre gekonnt auf, leider ist das folgende 'Sky' an dieser Stelle der Trackliste völlig deplatziert, da der Song komplett ohne die genannten Elemente auskommt und so den Bogen zu den folgenden Songs unterbricht. Im Live-Set der Band hat 'Sky' heute noch einen festen Platz und die Nummer macht wirklich Spaß; nach hinten raus hätte sie noch einmal für Aufsehen sorgen können. Doch "The Lucid Dream(er)" hält noch weitere starke Tracks bereit. 'Anniversary' hat einen ganz eigenen Charme und treibt es mit Samples auf die Spitze. 'Day To Day Tragedy' wurde mit einem weiteren starken Musikvideo versehen und überzeugt durch treibendes Drumming und mitgehende Riffs. Mit 'Who Am I' beweist ANNISOKAY erstmals ein Händchen für Balladen und 'The Ghost Of Me' ist mein heimlicher Star des Debüts - hier kommen kleine Dubstep-Elemente zum Vorschein, die anno 2012 gefühlt überall Einzug erhalten haben. Nachdem ANNISOKAY einen Plattenvertrag bei SPV unterschrieben hat, wird das Album 2014 re-released. Noch zuvor - 2013 - bringt die Band eine starke Interpretation von 'Wrecking Ball' inklusive Video raus.
Enigmatic Smile (2015)
Das wohl vertrackteste Album der ANNISOKAY-Bandgeschichte ist "Enigmatic Smile". Das Artwork und der Albumtitel wurden inspiriert von einer 1880 gefundenen Wasserleiche, die ein seltsam ruhiges Lächeln besaß. Um intensiv an diesem Album zu arbeiten, flog die Band in die USA und schrieb dort das starke 'Fame'. Der Opener 'Carry Me Away' schleust perfekt ins Album ein und ist noch eine der eingängigeren Nummern. Bemerkenswert ist 'Panic Attack' der eine solche eindrucksvoll beschreibt und mit Einsatz der Clean Vocals einen tröstenden Ausweg daraus bietet. Stark ist auch die Ballade 'Life Cycles', die sich aufgrund der vagen Lyrics auf unzählige Situationen (oder auch Personen) anwenden lässt und dadurch mal zu Tränen rührt, mal lächelnd in die Zukunft blicken lässt. Qualitativ gelingt ANNISOKAY hier erneut ein Sprung, vor allem auch in Hinblick auf die Produktion des Albums, aber auch was die Komposition der Songs betrifft. Das Debüt war noch roher mit vielen Ecken und Kanten, "Enigmatic Smile" wirkt, trotz der mal eingängigen, mal verschachtelten Songs, mehr wie aus einem Guss. Zwar wird die Idee der Gruselgeschichten nicht fortgesetzt, an den musikalischen Qualitäten wurde seit dem Debüt jedoch an allen Ecken und Enden geschliffen und schlussendlich die musikalische Route gefunden und eingeschlagen, die ANNISOKAY fortan beschreiten wird. Extrem sehenswert ist übrigens das Unboxing-Video zur Special Fan Box des Albums.
Devil May Care (2016; Review)
Das Drittlingswerk "Devil May Care" enthält mit 'What's Wrong' den möglicherweise wichtigsten Song der Bandgeschichte. Aus dem Live-Set ist die Nummer nicht wegzudenken und sie hat alles, was ANNISOKAY ausmacht: Harsche Screams in den Strophen, einen verdammt starken, cleanen Refrain, Synthies, ordentliche Riffs, einen Drive, der einen nicht mehr loslässt, und, last but not least, ausdrucksstarke Lyrics: Besungen wird, was anno 2015 während der sogenannten Flüchtlingskrise mit den Menschen los ist, die der Situation mit Hass begegnen, obwohl alle Menschen letztlich das Gleiche wollen, nämlich Sicherheit, Hoffnung und Liebe. Untermalt wird 'What's Wrong' mit einem Video, das unterschiedlichste Menschen zeigt, plus Bandperformance, bei der Screamer Dave passenderweise ein "Choose Life"-Oberteil trägt. Wenngleich 'What's Wrong' auch die Krönung des Albums ist, stechen weitere Songs hervor: 'Blind Lane' ist ein wunderschöner Break-Up-Song, der wohlwollend auf die geendete Beziehung zurückblickt mit den Worten "It's nothing wrong with being wrong for each other", mit Melancholie, aber ohne negativen Touch. Mit 'Loud' wurde ein treibender Opener mit Mitgrölfaktor gewählt und das etwas sperrige, vertrackte 'Smile' sorgt für die notwendige Prise Abwechslung. Daneben stehen allerdings ein paar Titel, die sich nicht sofort im Kopf festsetzen und hier eher als Füllmaterial dienen. Der Finger zuckt hier zwar nicht zur Skip-, aber auch nicht notwendigerweise zur Skipback-Taste. Dennoch markiert "Devil May Care" den nächsten großen Schritt und zeigt vor allem auf Seiten des Songwritings und der Eingängigkeit ausgebaute Stärken. Für "Devil May Care" hat nun Nico Vaeen hinter dem Schlagzeug Platz genommen. Wenige Monate vor Albumrelease veröffentlicht ANNISOKAY noch eine Cover-EP zu Michael Jacksons Ehren mit dem Titel "Annie Are You Okay" und vier Eigeninterpretationen, von denen vor allem 'Beat It' heraussticht.
Arms (2018, Review)
Bevor wir uns der Musik des vierten Albums "Arms" widmen, werfen wir kurz einen Blick auf das Cover: Zu sehen ist eine Frau mit einer Pistole, die auf 1.000 Polaroid-Fotos von ihr selbst liegt. Hierbei handelt es sich um echte Polaroid-Fotos, die als Teil der Special Edition des Albums an die Fans weitergegeben wurden. Wer eines besitzt, hält also ein Original-Teil des Albumcovers in den Händen - coole Idee! Musikalisch ist "Arms" das erste komplett eigenständige Album von ANNISOKAY, bei dem nicht versucht wurde, Teile des Sounds anderer Bands zu übernehmen bzw. in den eigenen Sound zu integrieren. Hier wurde nicht nach links und rechts geschaut und das tut der Musik enorm gut. Ein Hit jagt den anderen, wenngleich zumindest für meine Ohren noch etwas Füllmaterial vorhanden ist - was sich mit dem Nachfolger ändern wird. Das Album ist gespickt mit Synthie-Pop-Elementen, die bei Songs wie 'Humanophobia' und 'Escalators' besonders hervorstechen. Doch die Stärke von "Arms" zeigt sich besonders im vorderen Teil: Mit 'Coma Blue' beweist ANNISOKAY mal wieder ein gutes Händchen für den Opener, es geht direkt zackig weiter mit 'Unaware' und meinem persönlichen Highlight 'Good Stories' sowie dem nachdenklich-sarkastischen 'Fully Automatic'. Letzteres kritisiert die Einstellung vieler Amerikaner zu Waffen - passenderweise wurde die USA-Tour zu "Arms" gerade nach diesem Song benannt: Fully Automatic Tour. Hingegen ist 'End Of The World' eine Spur zu cheesy geworden. Insgesamt ist "Arms" das vermutlich melancholischste ANNISOKAY-Album und der Rausschmeißer 'Locked Out, Locked In' lässt einen auch mit einem mulmigen Gefühl zurück. "Arms" ist das letzte Album mit Screamer Dave Grunewald.
Aurora (2021; Review)
Wenn ein Ereignis vor keiner Band dieses Planeten Halt gemacht hat, ist es die Covid-19-Pandemie. Für manche bedeutete sie Stillstand, andere lebten wieder auf und wer - wie ANNISOKAY - gerade ein Album veröffentlichen wollte, war mit vielen Fragezeichen konfrontiert: Kann eine Tour zum Album stattfinden? Sind Studiobesuche möglich? Gibt es Ressourcen-Knappheiten, die den Release verschieben könnten? Letzteres trifft auf "Aurora" zu, das eigentlich bereits 2020 veröffentlicht werden sollte. Am 29.01.2021 war es dann soweit und ANNISOKAY erreicht mit Platz 18 ihren höchsten Charteinstieg in Deutschland. Mit so einem Album mehr als verdient, denn es ist gespickt mit starken Gitarrenriffs, intelligenten Texten, abwechslungsreichen Songs und einer Produktion auf der Höhe der Zeit. Nicht zu vergessen: Neu-Screamer Rudi Schwarzer bringt mit seinen trockenen, heiseren Screams nicht den kompletten Sound von ANNISOKAY zum Wanken, aber eine frische, neue Note ein. Mit 'Standing Still' setzt dieses Mal eine Power-Ballade einen Kontrastpunkt, ebenso das rhythmische 'The Cocaine Has Got Your Tongue' und das beschwingte 'Overload'. Die weiteren Songs stehen diesen in nichts nach und bieten eine Prise Djent, starkes Drumming natürlich den einen oder anderen Breakdown. Mit 'Like A Parasite' wurde der perfekte Opener gefunden, der in diesem Fall als Ohrwurm nur schwierig wieder aus den Gehörgängen zu bekommen ist.
Abyss pt. 1 (2023; Review)
Vor der Ankündigung des jüngsten Releases "Abyss Pt. 1" für den 22.09.2023 wurde die Trennung von Bassist und Gründungsmitglied Norbert Rose (damals als Gitarrist) bekanntgegeben. Dies dürfte jedoch nicht der Grund dafür gewesen sein, dass die EP wesentlich schwerer und düsterer ausfällt als die bisherigen Veröffentlichungen von ANNISOKAY. Die Leichtigkeit, die ihre Musik bisher ausgemacht hat, ist hier nur noch in Teilen zu spüren - etwa bei 'Ultraviolet' oder beim Quasi-Cover 'Calamity', das durch die umgedrehten Lyrics des Originals 'Remedy' von LEONY und den typischen ANNISOKAY-Sound dennoch eine melancholische Schlagseite bekommt. 'Human' und 'Throne Of The Sunset' hingegen sind gnadenlos brachial und in ihrer Grundstimmung bleischwer. Erstaunlich, dass dennoch alle Songs auf "Abyss Pt. 1" nicht sperrig wirken, sondern die von ANNISOKAY gewohnte Eingängigkeit behalten. Das abschließende 'Time' kommt zwar etwas flotter daher, doch von Leichtigkeit ist auch hier keine Spur. Auch wenn es ungewohnt ist, steht ANNISOKAY diese Ausrichtung ebenso gut und es ist erfrischend, dass die Band auf der EP nicht das Vorgänger-Album "Aurora" fortführt, sondern etwas Neues ausprobiert. Das macht extrem neugierig auf den zweiten Teil - kommt ein Gegenstück oder wird die Linie fortgeführt? Hoffentlich lässt der Nachfolger nicht allzu lange auf sich warten.
- Redakteur:
- Pia-Kim Schaper