KADAVAR: Interview mit Tiger

23.09.2015 | 11:48

"Es gibt ein Foto von mir in einem purpurfarbenen Damenkleid..."

KADAVAR ist gerade die Band der Stunde. Ich lese überall gute bis hervorragende Kritiken, die Stadt hängt voller Plakate mit dem sonnenbebrillten Mädchen, das das Cover von "Berlin", so der Titel des Erfolgs-Albums (zum Review), ziert. Die Rock-Welt schaut also in die Hauptstadt, selbstredend auch Powermetal.de!

Thomas: Ich habe von 2001-2006 selber in Berlin gewohnt und es war eine coole Zeit für mich. Von daher bin daran sehr interessiert, was ihr über Berlin anno 2015 zu sagen habt. Was bedeutet Berlin für euch? In welchen Ecken von Berlin haltet ihr euch am liebsten auf, wo geht am meisten ab? Wo sollte ein junger Künstler/Musiker hinziehen, damit er in Berlin Fuß fassen kann?

Tiger: Ich kann mir nicht vorstellen, woanders zu wohnen. Wir haben alle viel gelernt und viel erlebt in Berlin. Die bekannten Partyjahre haben wir überstanden und schlagen langsam Wurzeln. Ich wohne in Neukölln und unser Studio ist in Wedding, da bin ich am Häufigsten und da fühle ich mich wohl. Um Fuß zu fassen, würde ich jedem erstmal raten, einen Job zu finden, der es einem ermöglicht, mit viel Freizeit über die Runden zu kommen. Sonst isses nämlich dahin mit der Kreativität. Wo man wohnt, ist erstmal zweitrangig.

Ich wohne in München und rein vom Mietpreis-Spiegel nähert sich Berlin ja langsam an Bayerns Hauptstadt an. Inwieweit ist Berlin noch "arm, aber sexy”? Gibt es etwas, dass euch an Berlin stört/ankotzt oder ist eure Liebe zu Berlin grenzenlos?

Es hält sich so die Waage, aber das ist gut so. [Wowis Ausspruch gehört offenbar zum Berliner Standard-Sprachschatz - d. Red.] Ich will es um mich herum auch gar nicht perfekt haben. Die Stadt ist voller Gegensätze und steht nicht still. Es wird zwar auch hier langsam teurer, aber es ist hier immer noch einfacher als in den meisten anderen Großstädten, mit wenig Geld und viel Freizeit zu leben. Das war gerade am Anfang sehr wichtig, da wir so die Freiheit hatten, die Band aufzubauen. Anderswo wären wir nicht so flexibel gewesen. Ich habe das Gefühl, dass man sich irgendwie immer seinen Platz suchen kann und es in der Hand hat, mit was für Leuten man sich umgibt. Dadurch bleibt das Leben interessant. Mir fällt anderswo schneller die Decke auf den Kopf.

Ich wundere mich ein wenig, dass man in Berlin mit eurem alten Rock so sehr punkten kann. Ich kenne Berlin als Platz, der musikalisch eher die Extreme auslotet. Aber ich kenne mich in Berlin ja gar nicht mehr wirklich aus. Kannst du mir ein wenig über die Rock-Szene in Berlin erzählen? Was findet ihr - und was finden die Leute - so faszinierend am, ich sage es mal provokativ, Alt-Herren-Rock der Siebziger? Und stehen die Berliner Frauen auf einmal auf Männer mit langen Bärten?

Ich weiß es nicht. Jedenfalls finde ich es toll, dass auf unseren Konzerten sich der Frauen- dem Männeranteil langsam annähert. Ob das mit den Bärten zusammenhängt, ist doch egal. Ich denke, die meisten kommen wegen der Musik zur Show. Was ich an Berlin mag, ist, dass es für jeden etwas gibt und dass alles nett miteinander koexistiert. Zumindest ist das mein Eindruck. Ich kann mir heute eine Rock-Show ansehen und den Tag drauf zum Techno gehen, wenn ich will, vielleicht treffe ich da sogar ein paar Leute wieder. Man muss sich nicht zwangsläufig auf eine Sache versteifen und Stilrichtungen logisch voneinander trennen. Das finde ich sehr angenehm. Es geht nicht darum, sich abzuschotten und nostalgisch zu sein. Musik, die was Persönliches transportiert, hat für mich nichts Altes an sich. Das mögen die Leute und das ist wichtiger als jeder Vergleich. Kritiker behaupten gerne etwas anderes, aber das ist ja auch ihr Job.

Ich habe euch das erste Mal beim "Hammer Of Doom"-Festival 2014 gesehen und fand euren Gig sehr effektiv. Im Vorfeld gab es ein paar Diskussionen in meinem Freundeskreis, warum eine junge, hippe Band wie KADAVAR nach so altgedienten Recken wie TROUBLE spielen darf, die für einige der "wahre" Headliner des Festivals waren. Wie seid ihr mit der Situation umgegangen? Wart ihr geehrt, nach TROUBLE spielen zu dürfen? Oder fandet ihr das komisch? Oder habt ihr euch gesagt: "recht so, wir sind Headliner, die spielen wir an die Wand"?

Ich habe mich über den Slot natürlich gefreut und kann andererseits Leute verstehen, die es gern anders herum gehabt hätten. Aber am Ende sagt der Slot nichts über die Qualität der Show aus, deswegen sollte man sich einfach darauf konzentrieren, es möglichst gut zu machen. Ich denke, das haben beide Bands geschafft.

Für mich ist "Berlin" der erste intensive Kontakt mit KADAVAR (nach dem HoD-Livegig). Ich bereue es nicht. Ich höre hochenergetischen Rock, der mich zwar auch an die Siebziger erinnert, klar, aber ebenso fühle ich mich an Bands wie MONSTER MAGNET oder QUEENS OF THE STONE AGE erinnert. Mit was für einem Plan geht ihr an das Songwriting heran? Habt ihr da schon vorher etwas im Kopf, das ihr dann versucht, möglichst gut umzusetzen, oder entsteht die Musik eher spontan aus dem Bauch heraus? Ich kann mir hier ja beides vorstellen...

Das gibt es beides. Ich z.B. lege mir gerne schon eine Grundidee zusammen, bevor wir dann daran weiterarbeiten. Aber es entsteht auch immer was Spontanes zwischendurch. Wir stecken dann viel Arbeit in die Abstimmung untereinander, um aus der Trio-Konstellation alles rauszuholen. Ob es am Ende ein guter Song geworden ist, fühlt man meistens automatisch, wenn der Gesang fertig ist. Sich auf gutes Songwriting konzentrieren und Eigenständigkeit beweisen, das war uns wichtig. Dazu haben wir uns die nötige Zeit genommen und uns nicht einengen lassen. Diese Platte ist frei raus das, worauf wir Lust hatten.

Wer ist die Dame mit der Monster-Sonnenbrille auf dem Cover? Ist sie die mysteriöse Dame mit den bleichen blauen Augen, die euch nicht mehr aus dem Kopf geht? Erzählt mir von ihr. Erzählt mir von beiden!

Die Dame auf dem Cover ist eine typische Berliner Figur. Man hat oft das Gefühl, die große Welt vor sich zu haben. Was das für jeden Einzelnen bedeutet, könnte vielleicht unterschiedlicher gar nicht sein. Jeder hat seine eigene Brille auf, und man sieht nur, was sich in ihr spiegelt. Mit der mysteriösen Dame war das so: Es gibt ein Foto von mir in einem purpurfarbenen Damenkleid, das irgendwo in Kalifornien spät nachts entstanden ist. Niemand weiß mehr, warum, war aber auch nicht wichtig. In der Nacht nannten die Leute mich "Mysterious Lady in The Purple Dress". Da habe ich mir überlegt, dass das bei Gelegenheit für einen Songtext herhalten muss.

Meine Lieblings-Songs sind 'A Thousand Miles Away From Home', das charmante 'Spanish Wild Rose' und der Bonus 'Reich der Träume'. Alle drei Songs drücken ja auch so eine Art Sehnsucht aus, ein Klischee, wie sich der Büromensch (ich bin so einer) das Rockerleben vorstellt. Endlose Reisen auf Tour, Freiheit, Abenteuer aller Art, aber auch Hangover, Melancholie, Einsamkeit. Erzählt mal wie toll es ist, in einer Band wie KADAVAR zu spielen und was verpasse ich (und vermutlich der Großteil unserer Leser), wenn ich es nicht tue.

Es ist großartig, aufregend, es ist aber manchmal auch nervenaufreibend oder einfach trist. Von Musik zu leben war schon immer mein Traum und mit seinen Freunden um die Welt zu reisen dann genau die richtige Form dessen. Einsamkeit und Melancholie gibt es natürlich genauso. Man ist einen Großteil seiner Zeit unterwegs und da gibt es ständig Ups und Downs. Das muss man akzeptieren. Man braucht eine starke Gemeinschaft, um das auf Dauer durchzuhalten.

Was brachte euch dazu, NICOs 'Reich der Träume' zu covern (ein wirklich großartiger Abschluss des Albums!) und wird es in Zukunft mehr Deutschsprachiges bei KADAVAR geben?

Der Song hat uns einfach gepackt und mitgerissen, als wir ihn das erste Mal gehört haben. Eine deutschsprachige Coverversion war so eine Idee, die im Zusammenhang mit "Berlin" schon ein Gimmick sein sollte, aber so, wie sich der Song entwickelt hat, ist er doch ein wirklich wichtiger Teil der Platte geworden. Das heißt nicht unbedingt, dass es mehr deutsche Songs in Zukunft geben wird. Aber sowas plant man eben auch nicht.

Redakteur:
Thomas Becker

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