Perlen der Redaktion: Holger Andraes Highlights 2022

01.02.2023 | 14:50

Die musikalische Reise der letzten Jahre setzt sich fort.

Es gäbe viel über das Jahr 2022 zu schreiben, was nichts mit Musik zu tun hat, aber das habt ihr wahrscheinlich alle schon an anderen Stellen, aus berufeneren Fingern geschrieben, gelesen. Ich bin froh, dass ich einen Haken an dieses Jahr machen kann, denn gerade im privaten Bereich endete dieses Jahr höchst bescheiden. Aber darum soll es hier nicht gehen. Es geht um die musikalische Komponente des abgelaufenen Jahres. Da zeichnet sich eine Fortsetzung der letzten Jahre ab, in denen sich meine Begeisterung für Neuveröffentlichungen im überschaubaren Rahmen gehalten hat. So auch 2022, ein Jahr, in welchem neben alten Bekannten auch ein paar Überraschungen auftauchen und Bands und Interpreten, die früher quasi ungehört von mir nominiert worden wären, sucht man vergeblich.

Wenig überraschend führt eine Truppe meine Liste an, die ich auf unseren Seiten immer mal wieder ein klitzekleines bisschen abgefeiert habe. Es sind alte Helden mit frischem Blut, die ein Album rausgehauen haben, welches bei mir bei jedem Anhören erneute Euphorie auslöst. Die Rede ist natürlich von den Bay-Area-Thrashern BLIND ILLUSION mit ihrem spritzigen Wunderwerk namens "Wrath Of The Gods". Natürlich kommt mein soft spot für diese Nischenmusik dem Album zugute und natürlich spielen die faszinierenden Liveauftritte der Band in meinem Kopfkino eine nicht unerhebliche Rolle für meine Begeisterung, aber ich kann mich an der Scheibe nicht satt hören. Hinzu kommt der Umstand, dass der Sound der Scheibe so wunderbar altmodisch und gleichzeitig zeitgemäß daher kommt. Toll!

Wie gut ich "Wrath Of The Gods" finde, belegt die Tatsache, dass "Earth Infernal" von SATAN tatsächlich nur auf dem zweiten Platz durchs Ziel rast. Die Band um mein Lieblings-Gitarristen-Doppel Steve Ramsey/Russ Tippins hat auch auf dem vierten Album seit der Reunion nicht einen Funken an Energie verloren und feuert erneut auf allen Zylindern. Auch hier spielen die sensationellen Liveerlebnisse in meiner grundsätzlichen Begeisterung für die extrem sympathische Truppe mit eine Rolle und auch hier ist es das organische Klangbild, welches meine Ohren umschmeichelt.

Und bei warmen Klängen bleiben wir auch für Platz Nummer Drei. Allerdings treten wir dieses Mal ganz kräftig auf die Bremse und genießen einfach jede einzelne Note so lange bis die Fünf-Minuten-Eier medium sind. Denn im Auskosten von grandiosen Riffs und Noten sind die vier Hamburger Sympathikos von B.S.T. ganz große Meister. Ohne besonders viel zu ihren ebenfalls grandiosen Vorgänger-Scheiben zu ändern, werden sie plötzlich von einer breiteren Masse als das wahrgenommen, was gut beohrte Nord-Doomer schon lange in ihnen hören: hoch originelle Musikanten! "Herbst" ist ein Album, welches mir am Ende des Jahres einige Kerzen in meinem persönlichen Tunnel anzünden konnte, obwohl es schwere Kost bietet. Ein Album, welches mir Trost und Geborgenheit vermitteln konnte, da hier Notengeflechte zum Auffangen gewoben wurden und Tonfolgen, die den Hörer in den Arm nehmen. Ganz, ganz wundervoll!

Thematisch passend folgt eine weitere Doom-Großtat auf Platz Vier. Nach langem Warten gibt es nämlich endlich ein neues Album von DOOMOCRACY, welches sehr treffend "Unorthodox" betitelt ist. Noch immer gibt es epischen Power-Doom, aber irgendwie ist man noch ein bisschen mehr im Fahrwasser alter FATES WARNING-Nummern unterwegs und so entsteht eine herrlich progressiv-schleppende Melange, die in der dunklen Jahreshälfte für Notenexplosionen unterm Kopfhörer sorgen konnte. Vielen Dank dafür!

Nach so viel eher melancholischer Musik folgt auf Platz Fünf mal wieder eine nie rostende Lieblingsband: VOIVOD mit "Psycho Anarchy". Auch hier hatte ich die Ehre, das Album auf diesen Seiten zu besprechen, sodass ich hier gar nicht mehr viel ergänzen kann. Ich kann lediglich schreiben, dass auch diese Scheibe ohne Abnutzungserscheinungen in den letzten Monaten bei mir immer wieder im Player gelandet ist. Hinzufügen kann ich ebenfalls, dass die Band netterweise am Vorabend meines Geburtstages in Hamburg weilte und mir so ein nettes Reinrrröööaaarren ermöglichte. Fett!

Weiter im Text geht es tatsächlich mit einer relativ neuen Band. Da es in diesem Metier nicht so furchtbar viele gibt, die mich so richtig begeistern, ist diese Platzierung mehr als eine Auszeichnung von mir. Aber die Band war ja auch schon mit früheren Scheiben in meiner Jahresendabrechnung. Die Rede ist von SANHEDRIN. "Lights On" ist keinen Deut schlechter als die beiden Vorgänger und so ist meine Begeisterung auch hier ungebrochen. Das Trio versteht es einfach mit wenig Schnick und noch weniger Schnack rattenscharfe Songs zu basteln, die facettenreich, eingängig und heavy sind. Kommt zwischen all den komischen Hektik-Scheiben, dem Doom und den altmodischen Generik-Platten ganz ausgezeichnet. Wer die Band noch immer nicht kennt: Geboten wird kraftvoller Heavy Rock mit einer ausdrucksstarken Frauenstimme. Tipp: Live anschauen! So geht unsere Musik!

Auf Platz Sieben bleiben wir bei Neu-Kommern. Dieses Mal gibt es traditionellen Heavy Metal mit einem tollen Schrilling am Mikro. Die Jungs von RIOT CITY, die bereits 2019 mit ihrem Debütalbum in meiner Jahresbestenliste waren, überzeugen auch mit fest installiertem Sänger erneut auf ganzer Linie! Das ist dieser US Metal, der sogar mich zum Fäustchenrecken animiert und der – entgegen anderswo gelesener Meinungen – unfassbar eingängig ist. Im Gegensatz zum Erstling geht man dieses Mal etwas differenzierter vor, aber bei der gebotenen Qualität ist das völlig egal. Erfrischend mitreißende Scheibe!

Thematisch anschließend folgt nun der Zweitling von SUMERLANDS, welchen ich in meinem Review als beste US-Metal-Scheibe des Jahres bezeichnet habe. Da kannte ich die RIOT CITY aber noch nicht. Wo die Aufständischen mit der eisernen Faust die Gehörgänge verwöhnen, agieren bei SUMERLANDS manchmal auch sanftere Klänge. Ich hatte TITAN FORCE als Vergleich heran gezogen. Wer diese Band kennt, ahnt wie gut ich "Dreamkiller" finde. Auch hier hören wir einen tollen Sänger und auch hier fräsen sich die Hooks ins Bewusstsein. Der Song 'Force Of A Storm' allein reicht aus, um diese Scheibe hier zu platzieren.

180-Grad-Schwenk in den AOR-Bereich. Die Plüsch-Götter von JOURNEY haben uns 2022 mit einem neuen Album beehrt! "Freedom" heißt es und ich muss sagen, ich hatte meine Höhen und Tiefen mit der Scheibe. Nach der anfänglichen Euphorie, überhaupt neues Material von den Altvorderen des Kitsch zu bekommen, folgte nach einigen Wochen leichte Ernüchterung, denn so richtig explodieren wollte die Scheibe nicht bei mir. Also blieb sie erstmal eine Runde neben dem Player liegen. Ein passiver Reifeprozess quasi. Als ich sie dann nach einer längeren Pause im Herbst wieder in den Schacht steckte, passierte genau das, was ich mir selbst schon früher gewünscht hatte: Es explodierten die Melodien im Ohr! Obwohl die Band etwas ernster klingt als man es gewohnt ist, ist "Freedom" der erhoffte AOR-Kracher. Wunderhübsch!

Weg vom Plüsch, hin zum Prog. Jetzt erst, ja! Eigentlich ist diese Spielart ja eine meiner bevorzugten Spielwiesen, aber irgendwie wollte das 2022 nicht so recht zünden. Immerhin haben es meine Nachbarn von BLEEDING geschafft, in Eigenregie ihr drittes Album namens "Universe 25" fertig zu stellen. Ein Album, welches das bisherige Schaffen der Band krönt und hier regelmäßige Runden im Player dreht. Dabei ist man etwas weniger vertrackt unterwegs als noch auf dem Vorgänger. Ist das schlimm? Natürlich nicht, denn – auch wenn es DEPRESSIVE AGE wieder gibt (!) – es kann nie ausreichend Ersatzbefriedigung geben. Obendrein tut man BLEEDING auch sehr Unrecht, die Band auf diese Parallele zu reduzieren. Dazu ist sie viel zu originell unterwegs. Aber irgendeinen Anker braucht der arme Rezensent doch, um die Band anderen schmackhaft zu machen. Also, kaufen!

Auf dem elften Rang gibt es den neuesten Kracher aus Slowenien: ERUPTION mit dem Nachfolger zum überfliegenden Hammer "Cloaks Of Oblivion" namens "Tellurian Rupture". Insgesamt gibt man sich etwas moderner, ohne sich noch dichter an NEVERMORE zu orientieren. Vielmehr hat die Band eine sehr eigene Nische innerhalb der Thrash-Szenerie gefunden, die sowohl verscheuklappten Altschülern wie auch jüngeren Thrashern gefallen sollte.

Auf dem zwölften Rang regiert der Retro-Hammer. Das US-Gespann MIDAS verwöhnt unsere Ohren mit herrlich frischem NWoBHM der Neuzeit und korrigiert damit die geographische Bandbreite dieser Bewegung. Wer schon den Vorgänger knorke fand, wird auch auf dem ersten Longplayer voll auf seine Kosten kommen. Eingängig, mitreißend, organisch, spritzig und abwechslungsreich agiert das Trüppchen und sorgt bei jedem Abspielen für euphorisch whippende Glieder.

Thematisch bleiben wir für Nummer Dreizehn in der eben genannten Bewegung. Dieses Mal hören wir aber tatsächlich Briten und sogar solche, die auch schon während der eigentlichen Bewegung aktiv waren. Die Rede ist von DESOLATION ANGELS, einer Band, die in den letzten Jahren ganz massiv in meiner Gunst gestiegen ist. Der Auftritt beim HOA war wohl die initiale Spätzündung für mich, denn ich habe selten so eine erfrischend energische Altherren-Band gesehen. Etwas später dann nochmal vor einer Handvoll Menschen im Bambi zu Hamburg. Auch die geringe Zuschauerzahl hat das Quintett nicht davon abgehalten alles zu geben. Da spürt man den wahren Spirit! Das aktuelle Album "Burning Black" bietet lupenreinen Heavy Rock der 80er. Ohne altmodisch zu wirken. Fein produziert und vom sensationellen Gesang eines Paul Taylor eindrucksvoll in Szene gesetzt, gibt es hier zehn Songs, die sich sehr schnell und sehr lange in meinen Lauschern festgesetzt haben. Musik ohne nischenhafte Eingrenzung und ohne Mummenschanz und andere Ablenkungen. Einfach toll!

Weiter im Takt geht es mit einem Album, welches eigentlich komplett taktlos aus der Anlage rattert. Das neue Werk meiner Helden von HAMMERS OF MISFORTUNE namens "Overtaker" ist ein schwer verdaulicher Brocken. Mike Scalzi ist auf einigen Nummern wieder mit dabei und auch sonst geht es irgendwie back to the roots. Ruppig, fast schon furios geht es im Schweinsgalopp durch die Songs. Raserei, chaotische Aufbauten und typische Hammerei werden auf "Overtaker" gekonnt vereint und ergeben in Summe ein paar Notenfolgen mit Langzeitfaktor. Nichts für ungeübte Ohren.

Weitaus flauschiger ist dann die nächste Platzierung, auf die ich ziemlich lange mit freudiger Erwartungshaltung hin gefiebert habe. Das THAEN RASMUSSEN PROJECT liefert so ziemlich genau das, was ich erhofft hatte. Musikalisch hochwertigen Heavy Rock mit 70ies und 80ies Vibes. Der Flitzefinger von Thaen bleibt dabei erstaunlich ruhig und man konzentriert sich eher auf Hooks und Melodien, was mir sehr entgegen kommt. Der simple Grund: Es singt Torre Carstensen, den ich von MY VICTIM, WARNING SF und BAD PRESS her schon so sehr liebe. Das ist eine dieser Stimmen, die auch beim Vorlesen von Telefonbüchern Euphorie erzeugen können.

Nun kommt Mainstream. Erneut gelingt es Tobias Forge mich mit seinen Geistern zu erfreuen. "Impera" ist natürlich aalglatter Düster-Rock, der aber schon wieder mit so viel schwarzem Zucker übergossen ist, dass ich es toll finde. Obwohl sich hier mein Innerstes gegen das Gesamt-Konzept GHOST wehren möchte, sind die Melodien einfach umgarnend und hypnotisch. Den überflüssigen Merch-Kult muss ich ja nicht mitmachen.

Komplett anders gepolt ist die nächste Truppe. Da ist nichts mainstreamig, sondern viel eher so sehr auf Nische getrimmt, dass es an manchen Stellen beinahe schmerzhaft ist. "Dis Morta" von TOXIK ballert dermaßen hektisch und überwältigend aus der Anlage, dass selbst ich etwas Anlaufschwierigkeiten hatte. Nach wenigen Spins hatte mich die Truppe um Josh Christian aber mit hektischem Gefriesel an der Angel und das Drumsound-Manko trat in den Hintergrund. Es trat eine kurze Sucht-Phase ein, in der das Album quasi täglich lief, ohne sich abzunutzen. Noch heute entdecke ich Details und Feinheiten in beinahe jedem Song und von Abnutzung kann keine Rede sein. Ich hoffe auf weitere Alben in dieser Qualität!

Bereits zu Beginn des Jahres gab es mit dem neuen Album von DARK MILLENNIUM "Acid River" ein faszinierendes Werk, welches – wie auch alle anderen Scheiben der Band – keine leichte Kost ist. Dass es auch am Jahresende noch in dieser Liste auftaucht, beweist, dass meine Begeisterung kein kurzes Euphorie-Gesabbel war. Wer es schwer, psychedelisch und anders mag, ist bei dieser Band richtig. Tolles Teil!

Kurz vor Toreschluss sind dann die beiden letzten Plätze in diese Liste gewandert, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Auf Platz 19 rangiert die erste Langspielplatte der deutschen Allstar-Underground-Truppe mit dem kreativen Namen LUZIFER. Hatte ich mich zuerst gar nicht um die Band geschert, da ich die namensgleiche Band um die ehemalige THE OATH-Sängerin im Kopf hatte, ist mir im Winter die Hitsingle 'Iron Shackles' im Netz vorgeschlagen worden. Ich war sofort Feuer und Flamme und habe da erst gerafft, dass hier unter anderem die Buben von VULTURE agieren. Geboten wird 70er Heavy Rock, in dem auch fröhlich georgelt werden darf. Alles schön schwer und heavy, mit coolen Überraschungen und viel Facettenreichtum. Kraut'n'Metal, sogar mit Sprachenvielfalt und originell umgesetztem Koffer. Joachim Witt hätte seine Freude. Hätte ich das Scheibchen eher für mich entdeckt, wäre es wahrscheinlich etwas höher im Ranking gelandet, aber so bin ich noch auf Entdeckungsreise mit dieser wundervollen Musik.

Den Abschluss meiner Liste bildet das aktuelle Werk der australischen Punkband PRESS CLUB. "Endless Motion" heißt es und ist ein energisches Kraftpaket, welches mich an dunklen Tagen beim ersten und fünften Kaffee mächtig in den Allerwertesten tritt und mich motiviert. Man hört die Angepisstheit im Gesang und möchte an manchen Tagen beim Anhören irgendetwas zerlegen. Das kann mal der diagonal parkende Affe von Nebenan, mal der mir ins Gesicht hustende Mitfahrer in der S-Bahn sein. Völlig gleichgültig, dieses Album hebt meine Laune jedes Mal. Und genau so etwas zeichnet wohl tolle Scheiben aus, oder?

Weitere Alben, die mich im Laufe des Jahres wunderbar unterhalten haben, stammen aus den Häusern POWERTRYP, SEAX, EVERSHIP, CASSIUS KING und SONJA. Nicht ungenannt bleiben darf die rattenscharfe EP von VIO-LENCE, die jedes Mal für komplette Schlüpfer-Entfachung sorgt, wenn sie läuft. Da darf gern das lange Scheibchen folgen.

Rang

Band Titel
01. BLIND ILLUSION Wrath Of The Gods
01. SATAN Earth Infernal
03. B.S.T. Herbst
04. DOOMOCRACY Unorthodox
05. VOIVOD Synchro Anarchy
06. SANHEDRIN Lights On
07. RIOT CITY
Electric Elite
08. SUMERLANDS Dreamkiller
09. JOURNEY Freedom
10. BLEEDING Universe 25
11. ERUPTION Tellurian Rupture
12. MIDAS Midas
13. DESOLATION ANGELS
Burning Black
14. HAMMERS OF MISFORTUNE
Overtaker
15. THAEN RASMUSSEN PROJECT
TRP
16. GHOST Impera
17. TOXIK Dis Morta
18. DARK MILLENNIUM
Acid River
19. LUZIFER Iron Shackles
20. PRESS CLUB
Endless Motion

Redakteur:
Holger Andrae
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