Perlen der Redaktion: Mathias Freieslebens Highlights 2020
16.01.2021 | 14:25Wie ich bitte 2020 finde? Mal sehen... wenn ich mir zurückgelehnt dann doch die Wiederentdeckungen und Neuankömmlinge ansehe, ist es doch ein sehr abwechslungsreiches Musikjahr gewesen. Und das darf gern als Gegenpol zu all den schlechten Nachrichten so gesehen werden. Oder ist das nicht sogar eine Notwendigkeit?
2020 sitzt mir noch im Genick und vielen Gliedern und 2021 lässt sich auch nicht lumpen. Das erste, was ich am 01.01.2021 nach toll durchschlafener Nacht vor meiner Wohnungstür vorfand, war ein Flecken Hundescheiße. Ich nehme das mal als Glückszeichen. Und gerade eine Woche alt, geht es weiter Schlag auf Schlag: Ein in der Metal-Szene angesehener Gitarrist trampelt durch das Trumphaus und wird - Stand jetzt - von der Polizei gesucht. Gerade wurde der Lockdown verschärftverlängert und wenn ich meine eigene Nachrichtensperre mal aufweiche und Öffentlich Rechtlichen Rundfunk anschnuppere... gute, positive Nachrichten lassen sich kaum vernehmen.
Das viele Zuhausebleiben, die ausgefallenen Konzerte der letzten zehn Monate, des Nachts durchgeschwitzt vor dem Club sitzend, sich vor der sengenden Festivalsonne in Sicherheit bringen, all das wurde mir wie vielen anderen Musikfreunden nicht ermöglicht. Es ist makaber, es zu sagen, aber das war richtig so. Ist richtig so. Ich habe das Jahr 2020 auch nutzen müssen, um über Prioritäten nachzudenken, neue berufliche Projekte begonnen, Dinge mit mehr Abstand betrachtet, auch mehr angegriffen. Ich bin gespannt, wie meine lieben Mitstreiterinnen und Mitstreiter auf Powermetal.de das dunkle Jahr des großen C so reflektieren. Und so besinne ich mich in dieser ruhigen Stunde und schaue mir "mein" Musikjahr 2020 an. Ich konnte wenig darüber schreiben, vieles anbehört und müde zur Seite legen, aber hatte auch sehr euphorische Momente beim Lauthören.
Die Aussicht und meine Lust auf spannende, abseitige, überraschende Musik ist geblieben, wenn nicht gar gewachsen. Ich habe viele, viele Covers gehört und gesehen, alte Alben entdeckt und wiedergehört (U2, BENEDICTION, NO FUN AT ALL, SOUNDGARDEN, PORTISHEAD - was für eine Mischung!). Zart habe ich versucht, Trends oder Revivals in der Rock- und Metal-Musik herauszufinden (jaja, die Neunziger!) und auch viel, viel lineares Radio plus einige Podcasts gehört und Musikdokus besehen. Netflix bietet da gerade die Geschichte der südamerikanischen Rockmusik in einer typisch etwas überdrehten Form an: "Reißt alles nieder: Die Geschichte des Rock in Lateinamerika" ist informativ und es ergaben sich drei handschriftliche Zettel, die mit benannten Bands und Künstlern vollgeschrieben hier vor mir liegen. Wegen der Nachrecherche und Vertiefung. Ich habe mich auch mit dem Film "Sound Of Metal" angefreundet, der auf Amazon Prime zu sehen ist. Schon weil es da um eine meiner Lieblingsformationen, das Duo geht. Bass oder Gitarre, Schlagzeug, mehr braucht man nicht, gern auch ohne Gesang. Predige ich seit Jahren schon. "Sound Of Metal" werden gar Chancen auf eine Oscar-Nominierung eingeräumt. Davon ist "Heavy Trip" aus Finnland weit entfernt, eine typisch bekloppte Groteske mit vielen schicken Seitenhieben auf die Phänomene der Szene. Ich habe mehrmals laut gelacht. IMPALED REKTUM kann man sich ebenfalls auf Amazon geben. Desweiteren gefällt mir der Ton und auch die erzählerische Perspektive von und in "Bunch Of Kunst", einer Dokumentation der deutschen Regisseurin Christine Franz rund um das Duo SLEAFORD MODS aus Nottingham. Ich bin den beiden Elektro-MODWC's schon ein paar Alben lang auf der Spur, wer auch in die Arbeit unabhängig bleiben wollender DIY-Labels hineinsehen möchte - hier bietet sich das sehr an. Die Attitüde von SLEAFORD MODS ist der des Punkrock und des frühen Metals recht ähnlich, erfährt man hier, zur Zeit findet sich der Dreiviertelstünder in der Mediathek des BR und noch bis zum 09.02.2021. Das soll als Umriss meines "Musik"-Filmjahres 2020 erst mal reichen.
Zu Schwarzweißfilmchen des Musikjahres kröne ich zudem 'Rats And Ruins' von ALL THEM WITCHES, 'Franckensteina Strataemontanus' von CARACH ANGREN und 'Ancient Wars' von NO RAZA.
Schauthört man mal genauer hin, so finden sich auch im Radio ein paar hervorragend aktuelle und empfehlenswerte Formate: "Laut und kantig" immer montags auf Radio Eins ist schwer in Ordnung mit der immer bestens informierten Christiane Falk. Genauso können Jan Schwarzkamp und Toby Schaper mit ihren Stahlwerk-Sendungen auf Radio Fritz glänzen, und auch Tim Schauen vom Deutschlandfunk erweist sich in seinen Formaten als ausgewiesener Experte, dem man gern zuhört.
Noch weniger aber kam das Konzertwesen zum Zuge. Meine letzte große Sause war die Musical Destruction-Tour mit EYEHATEGOD, BAT, DYING FETUS und hervorragend aufgelegten NAPALM DEATH, nicht die schlechteste Erinnerung, wenn es Konzerte nie mehr geben sollte. Gott bewahre! Das letzte Festival gab es schon 2019 im Dezember in der Dresdner Chemiefabrik, auch da bin ich wieder gesetzt, wenn das tolldreiste Kollektiv von Elbsludge Booking das wieder auf die tätowierten Beine stellt.
Irgendwann, Anfang Oktober 2020 war es, schon rückenkalt und früh dunkel, da konnte ich meinen Großen zu einem Rockkonzert mitnehmen, welches eigentlich keines war. Die fabulösen ROTOR standen auf einer kleinen Bühne, viel zu weit weg und viel zu leise, aber das war schon wegen der Kulanz der Stadt Leipzig, überhaupt Livemusik zuzulassen, vollkommen ok. Eine Schar von Kulturtreibenden hatten sich ein Gelände in der Innenstadt geschnappt und unter strengsten Auflagen DESTRUCTION, ROTOR und weitere ganz unterschiedliche Geschmacksrichtungen angeboten. Man stand in abgetrennten Boxen, konnte mit Gleichgesinnten schnacken, die lange Bierreihe zum Luftschnappen nutzen und anwesenden Bands den Merch wegsolidarisieren. Sprich, Shirts kaufen. Wie es den ganzen ambitionierten Musikern so ganz ohne Auftritte und Konzertreisen ergeht, darüber kann ich gar nicht nachdenken, vielleicht ist das mal ein zukünftiges Thema hier... Angesichts solcher Umstände ist es vor allem schwer, dem Nachwuchs diese wunderbare Faszination von lauten, raumgreifenden oder engen Livekonzerten vor Aug' und Ohr' zu führen. Aber ein Anfang war getan, die Festwiese vor ROTOR war gut und mit vielen jungen Gesichtern angefüllt. Ich sehe es überhaupt als eine der Hauptaufgaben der Szenekundigen und Gestandenen an, die nächste Generation an diese (Sub-)Kulturen auch ganz aktiv mit heranzuführen. Wo wir beim nächsten neuen rasant angewachsenen Genre der Streaming-Konzerte wären. Gute Idee, für Labels, Veranstalter, Techniker, Bands und alle weiteren Beteiligten, sich zu zeigen oder auch ein wenig Geld zu verdienen. Aber sie werden niemals die Körperlichkeit und Erhabenheit des Direktkonzertes ersetzen können. Gut trotzdem die Stream-Konzerte von ENSLAVED Ende Juli, LONG DISTANCE CALLING oder ROTTING CHRIST als etablierte Beispiele oder auch Neuentdeckungen wie die Psychofuzzerfranzosen SLIFT, Brit-Noiser IDLES oder auch das in einer Zechenruine gedrehte Rockpalast-Konzert von NÉANDER. Mein persönlicher Stream-Favorit 2020 jedoch: HUNTSMEN.
Deren Album "Mandala Of Fear" rangiert in meiner Liste sowieso sehr weit vorn. Weiterhin begeistert bin ich nach wie vor von den Berlinern HEADS, den Irgendwieauchberlinern NÉANDER mit "Eremit", der faszinierenden Ideenfülle von ...AND YOU WILL KNOW US BY THE TRAIL OF DEAD, den wiederauferstandenen Dornröschenschweden LOWRIDER und ebenfalls von den Psychedelikern ALL THEM WITCHES, die ebenfalls mit "Nothing As The Ideal" ein grandioses Album vorgelegt haben. Des Weiteren begleitet mich das Instrumentalalbum "Odyssey" der Lombarden VESTA schon seit Monaten, habe ich kurz vor dem Winter "Ages" von DAWNWALKER entdeckt, hat mich PEARL JAM mit "Gigaton" nicht umgehauen, dafür aber das neue Album von SEPULTURA gut überrascht.
"Doom Nacional" der argentinischen Lederhäute SOLDATI lief Dauerschleife im Frühjahr, das Jahr begann mit "Metronopolis" der Lieblings-Meckpommer COOGANS BLUFF vielversprechend. Bei den Streifzügen durch den lauten Kosmos der Musik sprangen und springen mich "Ender" der Dänen REDWOOD HILL, "When I Die, Will I Get Better?" der Briten SVALBARD an, zwei Bands, die es ohne große Medienunterstützung kaum in höhere Weihen schaffen dürften.
Aus der geliebten Sparte instrumental kann ich wie gesagt wärmstens VESTA empfehlen, und hier vor allem 'Faemin', hunderte Male gehört auf langen dunklen Autofahrten, CASPIAN mit "On Circle" direkt zum Jahresbeginn erschienen, das gleichbetitelte Album von BURIAL AT SEA auf Moment Of Collapse Records aus dem Lockdown Light Oktober, die Franzosen aus IGORRR machten auf "Spirituality And Distortion" das, was sie richtig gut können: Unstrukturstrukturlärm.
Auch französisch ist das Trio SLIFT, das mit "Ummon" die Fuzzgarage des Jahres 2020 gebaut hat. Ganz anders ist da BRANT BJÖRK geweichbettet, der sein Album locker fluffig nach sich selbst benannte und schaumigleicht die Balkonabende mit seinem Entspannungsweed bespielte. Auch im Mai, auch aus dem Sessel des retroigen bluesy Rock, auch auf dem Balkon oder beim Blumensprengen auf dem Kopf: die Dänen THE SONIC DAWN mit "Enter The Mirage". Auch der Mai brachte mir PARADISE LOST wieder zurück, denn "Obsidian" kann alles, was ich an der Band je geschätzt habe. Und nun wieder kann. Die Lieblingssludger THOU machten wie immer produktiv tolldreiste Alben, dieses Mal auch mit EMMA RUTH RUNDLE, famose Mixtur das.
Da haben wir solch ein Duo Infernale, die Kanadier VILE CREATURE mit "Glory, Glory! Apathy Took Helm!", ganz nebenbei wahrscheinlich auch das Albumcover des Jahres. Labelname des Jahres ist Pizza Pizza Records, die eine klanglich wunderbare Live Session der von mir hochverehrten JUST MUSTARD im August 2020 veröffentlichten. Achja, Live-Konzerte! Auf Dänemarks Szene verlasse ich mich auch 2020, wenn ich den Core will: TVIVLER, EYES, BERSAERK, REDWOOD HILL oder (0) bergen Tinnitusgefahr, wie auch WE ARE AMONG STARS schon gleich 2021 weitermachen.
Bleiben wir bei laut und kantig: Der Musikverlag Relapse Records wurde 30 - Herzlichen Glückwunsch - und war auch wieder rührig: ILSA mit "Preyer", PIG DESTROYER mit Überraschungs-EP und natürlich INCANTATION mit der Vollwand "Sect Of Vile Divinities". Aber vor allem NOTHING mit wieder einer Schönheit des dunklen, dunklen Shoegaze: "The Great Dismal". Albumcover des Jahres, Silbertreppchen, nur nebenbei. Der Jubiläumssampler übrigens hat einen ganzen Tag Spielzeit.
Und was war da noch?
In langjährige britische Grandezzas wie BENEDICTION und RAGING SPEEDHORN hineingehört und beifällig mitgenickt. CELESTIAL SEASON ist zum Death-Doom der frühen Neunziger und damit in die eigene Frühgeschichte zurückgekehrt und ich habe daran zu knabbern, aber es wird von Mal zu Mal besser, wird es das. THURSTON MOORE hat mit "By The Fire" wie gewohnt geliefert, bestens geeignet, um mit ihm im Ohr größere Spaziergänge oder Einkäufe zu überstehen.
Mein heimlichster Schönling 2020 jedoch ist und bleibt "Through A Dark Wood" des Kaliforniers Alex Brown Church alias SEA WOLF, der einfach die harmonisch-melancholischsten Harmonien der Welt entwirft. Und so gar nicht laut dabei ist, sein Albumcover erhält zudem Bronze. Neben ihm sitzt immer noch der Däne KRISTIAN HARTING, der mich zum Jahreswechsel 2019 zu 2020 so eindrucksvoll mit "The Fumes" begleitet hat.
Und deshalb gibt es nun 'Falling' und danach mein Stück des Jahres: '41' von ALL THEM WITCHES.
Genau das wünsche ich mir auch für ab jetzt und alle elf Monate darauf: verspielte Entspanntheit, entspannte Klarheit, freudige Melancholie und vergnügliche Verspieltheit. Und ab und zu ein Death-Metal-Album wie aus den Neunzigern. Ist doch gar nicht so schwer. Auch wenn es schon mal schwer in Tritt kommt, dieses 2021!
- Redakteur:
- Mathias Freiesleben