STATE RADIO: Interview mit Chad Stokes
25.03.2008 | 11:12STATE RADIO, die drei Mann-Kombo um Chad Stokes, haben mit ihrem Album "The Year Of The Crow" bewiesen, dass Rock, Punk und Gesellschaftskritik immer noch zusammengehören können und dürfen. Ich habe schon länger kein inhaltlich so bewegendes Album mehr gehört wie "The Year Of The Crow". Es ist eine Absage an die heutige Gesellschaft der Anti-Courage und der hochgezogenen Schultern. Umso gespannter war ich daher auf das Interview mit dem Querdenker von jenseits des Ozeans. Und wie sich herausgestellt hat, ist Chad Stokes weit mehr als nur ein flachgebügelter Rebell aus Imagezwecken.
Julian:
Zuallererst muss ich sagen, dass mir euer neuestes Album "Year Of The Crow" wirklich sehr gut gefallen hat. Die Scheibe hat eine ungeheure Energie, wie habt ihr das geschafft?
Chad:
Tchad Blake ist ein großartiger Produzent. Er will keine perfektionistischen Aufnahmen, für ihn soll es roh klingen, auch wenn das bedeutet, dass Fehler auf der Aufnahme sind. Die ursprüngliche Idee war einfach, etwas von unserer Live-Energie auf dieses Album zu bringen. Deswegen haben wir die Songs nicht bis zum "geht-nicht-mehr" überarbeitet.
Julian:
Wie entstehen die Songs bei euch? Habt ihr zuerst eine Geschichte oder schreibt ihr erst die Musik vor den Texten?
Chad:
Eigentlich gibt es beide Situationen. Meistens beginne ich mit etwas wie einem kurzen Riff oder einem kurzen Stück Text, um dann auf dieser Basis einen Song aufzubauen.
Julian:
Meinst du, dass eure Songs auch für Nicht-Amerikaner interessant sind? Die Inhalte sind ja auf jeden Fall sehr stark auf die USA ausgerichtet und möglicherweise schwierig zu verstehen.
Chad:
Möglicherweise sind die Songs für Nicht-Amerikaner weniger interessant, aber auch spezifische Songs können universale Themen behandeln.
Julian:
Wie sind die Reaktion in den USA? Ist es sehr schwierig oder sogar gefährlich, den aktuellen Präsidenten George W. Bush, seine Familie und die Politiker im Allgemeinen zu kritisieren?
Chad:
Die Reaktionen sind verschieden. Meisten werden wir in den Vereinigten Staaten mit offenen Armen empfangen. Manchmal allerdings waren die Leute weniger offen und haben versucht, uns zu bekämpfen. In Kentucky wurde z. B. ein Reifen unseres Wagens mit einem Messer zerstochen. Du weißt ja nie, wer dir gerade zuhört und ich bin mir sicher, dass auch die Regierung ein wachsames Auge auf Bands wie uns hat.
Julian:
In diesem Jahr stehen die Neuwahlen des amerikanischen Präsidenten an. Sind reale Veränderungen in der amerikanischen Politik überhaupt möglich?
Chad:
Mit Sicherheit nicht all die Veränderungen, die ich mir wünschen würde, aber ich denke, dass die demokratischen Kandidaten sehr schlau und kompetent sind.
Julian:
So wie ich das verstehe, habt ihr jetzt die Wahl zwischen dem ersten weiblichen oder dem ersten Afro-Amerikanischen Präsidenten. Welchen Kandidat ziehst du vor?
Chad:
Zu Zeit präferiere ich Barack Obama. Aber ich denke, dass es leider beide Kandidaten, also er und Hilary Clinton, sehr schwierig in Washington haben werden.
Julian:
Kannst du als Künstler mit einer großen Fan-Basis die Wahl irgendwie beeinflussen? Oder genauer: Was machst du?
Chad:
Wir können die Leute dazu ermutigen, sich über wesentliche Themen zu informieren und haben eine Wählerregistrierung bei den Konzerten. Außerdem können wir offiziell für einen Kandidaten Partei ergreifen und seine Glaubwürdigkeit bei den Menschen verbessern.
Julian:
Kannst du beschreiben, warum es so wichtig ist, dass es viele kritische Künstler in den USA gibt. Was läuft da falsch?
Chad:
Es ist unheimlich wichtig, dass es kritische Musiker gibt, weil Musik diese Kraft hat, Dinge anzupacken und zu verändern. Ich kann mir nicht erklären, warum es nicht mehr Bands gibt, die diesen Weg des Kampfes gehen. Wir können so natürlich nicht erwarten, dass wir im Radio gespielt werden, vor allem wegen unseren Texten. Es gibt sicher einige Bands, die nicht auf diese Chance verzichten wollen.
Julian:
Ich habe über deine einjährige Reise durch Zimbabwe gelesen. Welche Erfahrungen hast du dort gemacht? War es eine Art Zäsur in deinem Leben?
Chad:
Ich bin nach der Highschool nach Zimbabwe gegangen und unterrichtete dort Siebt-Klässler in einer Zuckerraffineriestadt. Ich habe Felder mit offenen Gräbern gesehen, die wegen der steigenden Aids-Rate gegraben wurden und unterernährte Flüchtlinge, die von der Grenze Mosambiks ins Land kamen. Die Leute, die ich dort traf, waren unglaublich. Voller Leben und Hoffnung. Ich war 18, folglich war es ein Wendepunkt in meinem Leben, als ich versuchte, meinen Weg in der Welt zu finden.
Julian:
Eure Musik ist voller verschiedener Einflüsse. Welche Musik gefällt dir am besten? Was hörst du privat?
Chad:
Ich bin aufgewachsen mit Bands wie JETHRO TULL, SABBATH, THE WHO und ZEPPELIN. Später, in der "Middle School", habe ich angefangen DESMOND DECKER, THE WAILERS und JIMMY CLIFF zu hören. In der Highschool packte mich dann die Musik von ALICE IN CHAINS, SOUNDGARDEN, PEARL JAM und NIRVANA, gefolgt von RAGE AGAINST THE MACHINE, SUBLIME, DROPKICK MURPHYS und MIGHTY MIGHTY BOSTONES. Ich höre immer noch einige dieser Bands.
Julian:
Welche Rolle spielt Bob Marley in deiner Musik und Kunst?
Chad:
Ein Freund von mir zeigte mir Bob Marley, als er mit seiner Familie aus Afrika zurück kam. Es war sehr abgefahren, dieses Reggae-Schlagzeug zu hören. Eine total ausgeflippte Bass-Drum und ein interessanter Einsatz der Percussion. Ich habe dann angefangen, den "The Harder They Come"-Soundtrack zu hören. Meine Eltern hatten Kisten voller Platten von Bands wie JEFFERSON AIRPLANE, DYLAN, HAIR, CREDENCE, BEATLES und ich fand im Reggae die gleichen revolutionären Aussagen.
Als ich dann später in Zimbabwe war, kam ich mit dem Symbol und der Allgegenwart von Bob Marley in Kontakt. Das verstehend, wurde mein Glaube an die Macht von Musik und ihre Rolle in sozialen Veränderungen untermauert.
Julian:
Der Song 'Wicker Plane' ist eine Absage an die heutige Gesellschaft, wenn ich alles richtig verstanden habe. Welche Werte der Gesellschaft sind verloren gegangen? Was kann die Welt wieder zu einem besseren Platz machen?
Chad:
Die Vereinigten Staaten werden mit einer Politik der Frucht und dem großen Geschäft mit der Angst gequält. In 'Wicker Plane' meiden die Stadtmenschen den Piloten, weil er nicht wie sie ist. Unsere Gesellschaft hat an Offenheit und Bindung durch gemeinsam geteilte menschliche Erfahrungen verloren. Alles driftet auseinander. Ich denke, dass wir mehr Sensibilität brauchen. Wir müssen stärker versuchen, uns in andere hineinzufühlen.
Julian:
Seid ihr mit dem Song 'The Fall Of The American Empire' erfolgreich?
Chad:
Schwer zu sagen. Unsere Fans nehmen den Song sehr gut auf und eine unabhängige Radiostation hat ihn hier in den Staaten sogar in ihre Playlist aufgenommen. Außerdem weiß ich, dass ein Jugendlicher den Song in seiner Highschool im Zuge einer Talenshow aufgeführt hat - und darauf hin von der Schule suspendiert wurde.
Julian:
'Rash Of Robberies' ist ein sehr verzweifelter Song. Was fasziniert dich an Demenz?
Chad:
Meine Freundin hat etliche Jahre in einer Demenz behandelnden Klinik gearbeitet und ich habe dort sehr viel Zeit verbracht. Mein Großvater starb sogar in dieser Klinik. Ich war fasziniert von dieser Krankheit – dass ein langes und erfülltes Leben bis hin zur Nichtigkeit reduziert werden kann. Der Körper lebt weiter, aber der Verstand hat sich zurückgezogen und verändert sich zu irgendetwas anderem. Es ist erschreckend zu sehen, wie ein Mann seine Ehefrau vergisst, mit der er 50 Jahre verheiratet war. Der Tribut, den diese Veränderung bei allen Beteiligten zollt, wenn sich ein Partner in diese vernebelte Welt verliert, bricht einem das Herz.
Julian:
Ihr seid im März und April in Europa. Was erwartet ihr von dieser Tour? Wart ihr schon mal in Europa und vor allem in Deutschland?
Chad:
Wir waren schon einige Male in Europa und es war der Wahnsinn. Vor allem Deutschland war total abgefahren. Wir waren das letzte Mal Opener für COHEED AND CAMBRIA und spielten auf dem "Southside" und dem "Hurricane". Das war wirklich toll und die Leute waren sehr offen und nett.
Julian:
Was bedeutet eigentlich touren und live spielen für euch? Ist es die Hauptsache?
Chad:
In allererster Linie sind wir eine Liveband. Live spielen bedeutet für uns abzugehen, als gäbe es keinen Morgen mehr. Wir versuchen den Aufwand, den die Leute auf sich nehmen, um zum Gig zu kommen, zu honorieren.
Julian:
Was war der intensivste Auftritt oder die beste Erfahrung mit STATE RADIO?
Chad:
In den Halbzeitpausen bei einem Hockey-Spiel der "Boston Bruins" haben wir vor 30.000 Menschen gespielt. Nach dem Spiel haben sie dann eine Bühne aufs Eis gefahren, auf der wir spielen durften.
Julian:
Meinst du, dass sich die Gesellschaft und Kultur in Amerika sehr von der in Europa unterscheidet? Ich denke mir, dass die Politiker in Deutschland ähnlich korrupt sind wie die in Amerika. Das beste Beispiel sind die Versprechen vor der Wahl und die Handlungen nach der Wahl. Das sind oft meilenweite Unterschiede. Würdest du dem Ganzen zustimmen?
Chad:
Ich denke, dass ein gewisser Teil der Politik immer so funktioniert. Da ich Amerikaner bin, sehe ich die größten Fehler wahrscheinlich in meinem Land. Ich habe nicht immer so gedacht, aber die Art, wie die Regierung Bush die Vereinigten Staaten beschmutzt hat, ist abstoßend.
Julian:
Was hältst du von aktuellen Künstlern, vor allem von denen im Mainstream Rock und Punk. Sind sie immer noch Rebellen, wie am Anfang der Bewegung? Oder sind sie zu Superstars mit dem reinen Drang nach Geld geworden?
Chad:
Wenn eine Band Mainstream "wird", kann es manchmal bedeuten, dass sie eine Menge Geld verdient – und Geld kann Dinge verändern. Bands vergessen schnell wie es war, gerade so über die Runden zu kommen. Ich denke mir, dass da immer noch eine Menge guter Bands unterwegs sind, die sich nichts aus viel Geld machen. Aber genauso muss ich feststellen, dass Bands, die das Rebellische tatsächlich verkörpern, normalerweise nicht im Mainstream zu finden sind (manchmal aus eigenem Antrieb, meistens jedoch nicht).
Julian:
Ich danke dir vielmals für das Interview und möchte dir das letzte Mal das Wort an eure deutschen Fans übergeben.
Chad:
Wir freuen uns total darauf, nach Deutschland zu kommen, gerade wegen den Leuten, die wir dort kennen lernen durften. Es ist gut an einen Ort zu kommen, an dem Live-Musik generell hoch geschätzt wird und die Leute keine Angst davor haben, einfach einmal loszulassen.
- Redakteur:
- Julian Rohrer