STEVEN WILSON: Der Meister im Gespräch
20.06.2013 | 05:59Mit "The Raven That Refused To Sing" hat STEVEN WILSON der Prog-Szene Anfang des Jahres ein wunderbares Geschenk gemacht. Wir trafen den Tausendsassa auf seiner Tour.
Powermetal.de: Steven, du bist seit einigen Wochen mit einer großen Produktion auf Tour. Stress oder Vergnügen?
Steven: Ganz klar Vergnügen! Ich liebe es, auf Tour zu sein und mit einer so großartigen Band auftreten zu können. Mit Stress hat das nichts zu tun.
Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit deiner Band? Du hast mit ihnen ja auch das Album aufgenommen.
Einige der Jungs kenne ich schon sehr lange. So zum Beispiel Theo (fl., sax. - NM), wir wurden beide in den 90ern für ein Projekt gebucht und arbeiten seither zusammen. Nick, den Bassisten, kenne ich, seit er mit Steve Hacketts Band gespielt hat. Die Anderen wurden mir empfohlen als ich dabei war, die Band zusammenzustellen. Nach einigen Shows der letzten Tour war mir klar, dass die Chemie in der Band wahnsinnig gut ist und dass ich einfach ein Album für genau diese Band schreiben muss. Das brachte auch einige Änderungen hinsichtlich der Herangehensweise an das Album mit sich, denn es ist definitiv etwas anderes, wenn man die Musiker persönlich kennt.
Du scheinst für jedes verwendete Instrument die Bestbesetzung gefunden zu haben. Wirst du das Instrumentarium in der Zukunft noch weiter ausdehnen?
Ich mag es gerne, mit verschiedenen Sounds und Texturen zu experimentieren. Deswegen würde ich nichts von vornherein ausschließen. Wenn man aber an das Touren denkt, muss man viele Faktoren berücksichtigen. Die Produktion muss handhabbar und vor allem irgendwie bezahlbar sein. Ich habe jetzt schon fünf außergewöhnliche Musiker auf dem Lohnzettel. Klar, ich würde gerne einmal mit einem Orchester auf Tour gehen, aber das lässt sich zurzeit nicht realisieren. Grundsätzlich zeigt mein bisheriger Werdegang aber, dass ich schon immer auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen für mich war und mich nie damit zufrieden gegeben habe, ein und dasselbe Album immer wieder aufzunehmen. Es gilt, den Horizont stetig zu erweitern.
Wenn es darum geht, die Grenzen deiner Musik stärker auszuweiten, was können wir dann zum Beispiel von PORCUPINE TREE in der Zukunft erwarten? Eine ganz neue Richtung, ein Zurückbesinnen auf die Wurzeln?
Falls es nochmal ein neues PORCUPINE TREE-Album geben sollte, müsste es ein Novum darstellen. Ich habe kein Interesse daran, die Musik der letzten Studioalben zu reproduzieren. Darin sehe ich keinen Sinn. Zugegeben, die Frage ist nicht ganz einfach für mich. Denn ich kann die Musik noch nicht in meinem Kopf hören, habe keine Inspiration dafür, was aus PORCUPINE TREE werden müsste, damit wir ein weiteres Album aufnehmen. Die Leute fragen mich immer: "Was würdest du tun?" Und ich antworte: "Ich habe keine Ahnung". Hätte ich die, würde ich es einfach tun. Als wir 2010 mit dem Albumzyklus und der Tour fertig waren, hatte ich keine Ahnung wie es mit der Band weitergehen könnte. Also beschloss ich, dass die Zeit für etwas ganz Anderes gekommen ist. Diese Situation hat sich bis heute nicht geklärt, deswegen kann ich dir auf diese Frage keine vernünftige Antwort geben.
Wobei damit doch einiges gesagt wäre …
Ich möchte noch hinzufügen, dass die Band sich keineswegs aufgelöst hat! Wenn die Zeit da ist und es Musik für uns zu spielen gibt, werden wir uns zusammensetzen.
Reden wir weiter über deine Aktivitäten in letzter Zeit. Du hast mit JETHRO TULL und KING CRIMSON die Kataloge einiger Prog-Ikonen überarbeitet und remixt bzw. remastert. Machst du damit weiter?
Ja, ich werde diese Arbeit fortsetzen. Der KING CRIMSON-Katalog ist beinahe fertig, wir haben uns um alle Studioalben bis Mitte der 80er gekümmert. Mit Ian Anderson habe ich an zwei weiteren JETHRO TULL-Alben gearbeitet, die hoffentlich noch dieses Jahr auf den Markt kommen. Und es gibt noch zwei, drei weitere Bands, mit denen ich Ähnliches vorhabe, aber darüber kann ich jetzt noch nicht sprechen. Nicht unbedingt Progressive Rock, aber es ist Musik, die ich liebe. Ohne diese besondere Hingabe zu einem Werk würde ich es nämlich nicht tun, mich nicht qualifiziert sehen. Von daher gibt es noch sehr sehr viel Musik, die es nicht mit Surround-Sound gibt. Vermutlich könnte ich das als Fulltime-Job machen.
Ich hab gehört, dass diese Arbeit inzwischen so viel Zeit beansprucht, dass du nicht mehr als Produzent arbeiten wirst. Das nächste OPETH-Album wird also jemand anders produzieren?
Nun, als Produzent geht man eine sehr große Verpflichtung ein. Wenn ich ein Album remixe, bin ich vielleicht sieben bis zehn Tage damit beschäftigt. Die harte Arbeit ist da ja schon getan, also Musik zu schreiben und aufzunehmen. Die Produktion eines neuen Albums hingegen braucht deutlich mehr Zuwendung, einige Produzenten arbeiten fast ein Jahr mit einer Band an ihrer neuen Platte. Dazu fehlt mir die Zeit, weil ich sonst meine Musikerkarriere aufgeben müsste. Vor ungefähr zehn Jahren wäre das durchaus möglich gewesen, aber ich habe mich dagegen entschieden. Das war nicht das, was ich für den Rest meines Lebens machen wollte.
Gibt es an deinem musikalischen Horizont schon neue Projekt, die in der Zukunft anstehen? Immerhin ist die Bandbreite sehr groß, von BASS COMMUNION über NO-MAN bis zu den Sachen unter deinem eigenen Namen. Oder vielleicht etwas, was du gerne machen würdest, derzeit aber nicht kannst?
Was ich nicht umsetzen könnte? Naja, das Jahr hat nie genug Tage für mich. Es gibt sehr viele Dinge, die ich gerne tun würde. Ich würde liebend gerne einen Film-Soundtrack machen. Das wäre mein größter Wunsch, aber es ist nicht leicht, in diese Industrie hinein zu kommen. Realistisch gesehen werde ich mich weiter mit dem Remix alter Klassiker beschäftigen und wir werden bis zum Endes des Jahres mit "The Raven That Refused To Sing" auf Tour sein. Luft für ein anderes Projekt wird dieses Jahr also nicht mehr sein, zumal die letzten 24 Monate überaus produktiv waren. Zwei Studioalben unter meinem Namen und die STORM CORROSION-Geschichte, bis zum nächsten Album wird es etwas länger dauern fürchte ich.
Fühlst du dich in der zugeschriebenen Rolle des "Neuerfinders" des Prog wohl oder setzt dich das unter Druck?
Ehrlich gesagt bin ich nicht so ein großer Freund des Wortes "Prog" wie einige Leute es gerne sehen würden. Derzeit ist meine Verbindung zu diesem Genre ziemlich groß, weil ich so viel mit den Klassikern zu tun hatte. Ich könnte aber ebenso ein Industrial- oder Electronic-Album aufnehmen und all diejenigen vor den Kopf stoßen, die mir diese Rolle zuschreiben. Meine musikalischen Einflüsse sind weitaus breiter gefächert als "nur Prog", dieser ist vermutlich am leichtesten auszumachen. Und ich benutze den Terminus auch sehr selten, denn keine dieser großen Bands nannte sich damals "Prog". Das wurde lediglich einer Szene retrospektiv zugeschrieben. Steve Hackett sagt mir mal, dass als es damals mit GENESIS losging, sie nur unter "Underground Rock" liefen. Bis zu den 80ern kannte der die Begrifflichkeit gar nicht. Ich erwähne es deshalb, weil solche Konzepte und Schubladen zu Gefängnissen werden können. Ab einem gewissen Punkt ist auch Progressive Rock nur noch generische Musik, und damit kann ich nichts anfangen. Ich sehe auch nicht, inwieweit ich tatsächlich Teil dieser Szene bin. Denn es gibt nicht wirklich viele Leute, die den Brückenschlag zwischen den Generationen versuchen. Es gibt neue Bands, und es gibt die alten Bands. Ich sehe mich eher zwischen diesen Polen, vermutlich weil ich eben mit den Klassikern so viel zu tun hatte. Das schlägt sich selbstredend in meiner Musik nieder, die von diesen alten Platten beeinflusst ist. Ich fühle mich der Fackelträger, der der olympische Fackel des Prog zur nächsten Generation trägt. Wobei ich das nie beabsichtigt habe, es hat sich einfach so ergeben. Selbst das Wort "Prog" kann ich nicht wirklich leiden, das klingt wie der Name eines Haustiers: "komm her Prog, es gibt Futter" (gestikuliert als würde er einen Hund füttern). Progressive ist aber in Ordnung.
Du hast gerade die Kulturindustrie beim Film angesprochen. Wie sieht es bei der Musik aus? Erleichtert dir das Internet das Leben als Künstler oder erschwert es dir, deinen Lebensunterhalt zu bestreiten?
Ich denke es ist das gleiche wie mit jeder neuen Technologie. Zwei Schritte vorwärts, zwei zurück. Das Internet hat tolle Seiten. Du hast Recht wenn du sagst, dass es für Non-Mainstream-Musik einfacher geworden ist, bekannt zu werden. Meine Musik wird schon alleine aufgrund der Songlängen nie im Radio gespielt oder auf MTV gezeigt werden. Also nicht, dass auf diesen Kanälen überhaupt noch Musik laufen würde, aber du weißt schon, was ich meine. Aus dieser Perspektive ist das Internet natürlich ein Segen. Es bricht die starren Strukturen der Medien auf und macht alles durchlässiger. Auf der anderen Seite kaufen die Leute immer weniger richtige Produkte, sie sind mit MP3s zufrieden und verspüren gar nicht mehr das Bedürfnis, für Kunst zu bezahlen. Also ja: es ist schwieriger geworden, von Plattenverkäufen zu leben und Konzerte werden wichtiger. Wobei ich selbst mit dem Touren kein Geld verdiene. Die Produktion mit dieser außergewöhnlichen Band, Quadrophonie-Sound, Filminstallationen und die fantastische Crew, die das jeden Abend ermöglicht, kosten ein kleines Vermögen. Aber darum geht es mir auch nicht. Ich bin in der glücklichen Lage, mit der Remix-Arbeit und dem PORCUPINE TREE-Katalog genug Geld zu verdienen, um es in Dinge zu investieren, die ich so liebe wie die Konzerte. Wenn ich am Ende des Jahres nicht allzu viel Geld dabei verloren habe, lief es großartig.
Deine letzten beiden Solostudioplatten konnte man für jeweils 10€ direkt auf deiner Website bestellen. Eigentlich kosten neue CDs hier 16-20€. Deswegen habe ich zum Beispiel "Grace For Drowning" direkt vorbestellt. Ist das ein Versuch, die CD am Leben zu erhalten?
Ich wusste davon eigentlich gar nichts. Das sind alles Entscheidungen der Plattenfirma, die sich natürlich über Wasser halten will. Und damit hast du die Frage schon selbst beantwortet, wenn das der Kaufanreiz war. Die Plattenfirmen wissen um die Tatsache, dass eine CD nicht mehr den Stellenwert innehat, den sie früher hatte. Es ist doch verrückt, dass man bei Amazon den gesamten Katalog LED ZEPPELINs für 20€ bekommen kann, oder nicht? Ich finde das verrückt. Wann bitte wurde diese Musik so wenig wert? Ich finde das einfach nur falsch. Niemand sollte sich komisch dabei fühlen, 20€ für ein LED ZEPPELIN-Album ausgeben, denn das ist es wert. Wohingegen ich keine 10 Cent für ein Album der RED HOT CHILI PEPPERS ausgeben würde, aber das ist wohl ein anderes Thema. Um wieder auf den Kern der Frage zurückzukommen: ich denke, dass man dem Verhalten der Hörer entgegenkommen muss und das resultiert dann halt in niedrigeren Preisen für physikalische Produkte. Ich mag diese Entwicklung nicht, aber so ist die Welt nun einmal.
Hast du Sorgen, dass du irgendwann vielleicht kein Label mehr findest um deine Musik zu veröffentlichen und es beispielsweise über Crowd-Funding finanzieren müsstest?
Ich denke das würde nur passieren, wenn sämtliche Labels auf einmal verschwinden würden. Denn die Labels reißen sich um Künstler mit einer großen Fanbase. Ich erzähl dir mal eine Geschichte. Als ich damals anfing, ins Musikbusiness einzusteigen während der frühen 90er, wollte ich immer zu den Majors. Sony, BMG, EMI und wie sie alle heißen. Damals habe ich nicht einmal jemanden ans Telefon bekommen. Jetzt kommen sie zu mir und ich erteile ihnen eine Absage. Die haben mir nichts anzubieten. Es ist schon beachtlich, wie sich diese Dinge verändert haben. Jetzt bin ich in der Position, mir das Label auszusuchen, das mir sympathisch ist und mich in dem unterstützt, was ich tue.
Das ist aber doch auch eine privilegierte Situation, wie sie nicht viele Künstler haben.
Jeder Künstler mit einer Fanbase ist von Interesse für die Labels. Denn neue Bands haben es immer schwerer. Es gibt einfach zu viel Musik, darin besteht kein Zweifel. Zu viele Bands … man muss nur einmal im Internet surfen und schauen, wie viele Bands um die Aufmerksamkeit buhlen. Es ist verrückt! Gefühlte fünf Millionen Bands bei Myspace. Da sind wir wieder bei Fluch und Segen von Technologie. Es war noch nie so einfach, mit relativ wenig Mitteln ein Album aufzunehmen. Also hören letztendlich immer weniger Leute die neue Musik, weil sie überwältigt sind von der Quantität. Folglich bleiben wir bei dem Zeug, das wir schon kennen. Bei den LED ZEPPELINs, FLOYDs, METALLICAs. Deswegen suchen die Plattenfirmen nach etablierten Bands, von denen es wirklich viele gibt.
Mich hat es zum Beispiel überrascht, dass man bei SPOCK'S BEARD so verfahren ist und vor dem eigentlichen Plattendeal die Aufnahmen über Crowd-Funding finanziert hat.
Ich kann das verstehen, aber ehrlich gesagt ist es mir lieber, ein Stück weit unabhängig von der Erwartungshaltung der Fans zu sein, so nach dem Motto: "wir haben deine neue Platte bezahlt, und wir mögen es nicht". Von daher möchte ich ungerne in der Situation sein, den Leuten etwas zu liefern, für das sie bereits bezahlt haben. Auch wenn das egoistisch klingt.
Du bist aber ziemlich erfolgreich auf diesem Weg …
(Lacht) Und ich habe keine Ahnung, wie.
Also wenn ich mir anschaue, wie die Berichterstattung der Medien bei deinem ersten Soloalbum war und wie sie jetzt ist, das ist ein riesiger Unterschied. Jetzt ist Steven Wilson zumindest in Deutschland auch in der Mainstream-Presse angekommen.
Ich erzähle mal etwas Lustiges. Manchmal bekomme ich Fragen wie "Wieso hast du dieses Mal so ein gutes Album aufgenommen?" Ich versuche jedes Mal, das beste Album aufzunehmen. Das galt auch für "Insurgentes" oder "Grace For Drowning". Aus unerfindlichen Gründen macht es halt bei einigen Platten sofort "Klick" und bei anderen nicht. Und das scheint beim neuen Album einfach so zu sein, ich habe mir vorher nicht weniger Mühe gegeben. Es ist an den Fans zu entscheiden, wie erfolgreich ein Album letztendlich wird.
Bleiben wir doch beim neuen Album, es hat so eine spezielle Atmosphäre. Ich habe mich gefragt, ob du beim Schreiben der Songs die Perspektive eines Außenstehenden einnimmst oder dich selbst in dem siehst, über das du schreibst.
Eine interessante Frage, bei der ich "sowohl als auch" sagen muss. Die Sache ist: ich halte es für unmöglich, einen Song zu schreiben, den mir die Leute abnehmen, der aber keine Verbindung zu meiner Persönlichkeit hat. Gleichzeitig kann man aber auch über etwas schreiben, mit dem man nichts zu hat. Also Soldat in einem Krieg zu sein, oder Astronaut, was auch immer. Dabei werden aber immer dieselben Grundfragen des Menschseins berührt. Verlust, Angst, Reue, Sterblichkeit. Solche Aspekte spielen immer eine Rolle und sind universell. Und die kann man mit fiktiven Geschichten verbinden, so dass eine gewisse Anschlussfähigkeit hergestellt wird. Meine Songs sind Fiktion, letzten Endes aber geht es dabei immer um mich.
Vermutlich kaufen deswegen viele Fans deine CDs und gehen zu den Shows, sitzen zu Hause mit dem Booklet vor der Anlage und wollen wissen, worum es bei der Musik geht. Sie wollen nicht nur berieselt werden und sich Fahrstuhlmusik anhören.
Das ist der Kern der Sache. Brauchen wir noch mehr generische Musik? Nein! Braucht die Welt noch eine weitere Death-Metal-Band? Absolut nicht! Oder eine neue Gangster-Hip-Hop-Band? Nein! Und trotzdem kommen sie zu Hunderten an die Oberfläche, jede Woche. Und gerade weil das Grundrauschen so stark geworden ist und man überall mit Geräuschen belästige wird, suchen die Leute nach Inhalt und Substanz. Das spielt mir in die Karten, denn meine Musik klingt nur nach mir. Die Fans, die es hören, müssen es sich erschließen. Spannende Musik muss solche sein, die es nicht überall gibt. Ich finde aber immer weniger von dieser Musik, dabei bin ich immer auf der Suche nach neuer Musik. 99,9% davon ist einfach nur generisch und einfallslos.
Das Interview führten [Oliver Paßgang] und [Nils Macher].
Promotion-Fotos: Diana Nitschke, Lasse Hoile, Naki Kouyioumtzis
- Redakteur:
- Nils Macher