Deaf Row Fest 2017 - Jena
19.10.2017 | 10:1323.09.2017, Kassablanca
Stilübergreifender Abend im Namen des guten Geschmacks.
Es ist immer sehr hart und irgendwie auch lebensfies, wenn aus einem bereits feststehenden Aufgebot eine Band kurzfristig absagt. Vor allem, wenn sie eines der Zugpferde des gesamten Festivals ist. In diesem Falle traf es das Deaf Row Fest im Kassablanca in Jena, wo die exzentrisch-melancholischen Wundermusikerkinder DEAD FOREST INDEX eine Ausftrittsabsage aus "unvorhersehbaren Gründen" eine Woche vorher erteilten. Nichtdestotrotz hat das umtriebige und sehr bemühte Organisationsteam rückblickend eines der interessantesten Bühnenmischungen dieser Tage hinbekommen.
Der Bogen spannt sich vom niederländischen Filigran-Darkrock über nebulösen polnischen Postrockfragmentismus über Tieftondoom der Sorte Schleppschleife bis zum nihilistischen Noiserock und hexenhafter Melancholie. Also Abwechslung garantiert.
Der Ort des Ganzen ist sehr schön stimmig und bewusst ausgewählt. In unmittelbarer umgrünter Nähe von Redionalbahnschienen und wochenendunbesetzten Forschungsinstituten machen sich alle lächerlich, die als Anwohner Lautstärke beklagen würden. Leider sind solche bereits oft das Schicksal anerkannter Kulturlokalitäten gewesen. Das Kassablanca jedoch kann es sich leisten, kleine feine Indoorfestivals anzubieten, ohne das jemand dazwischengrätscht. Die Preise moderat und an der Lebenswirklichkeit des szenischen Publikms orientiert, eine gute Klanganlage aufgebaut und gewartet, genügend Platz für Rückzüge, Verschnaufungen und die Zigaretten danach. Insgesamt fühlen wir uns alle hier sehr schnell sehr wohl.
PIJN. Das bedeutet Postnoiserock mit sehr spartanischem Gesang, einer Cellistin, vielen Rückkopplungen und eine unterhaltsame erste halbe Stunde. Dem armen Bassisten reißt nach drei Anschlägen leider eine entscheidende Saite, die er aber ganz professionell innerhalb der nächsten sechs Minuten neu zu vertauen versteht. Gewusst wie. Der Stimmung in der Band verpasst das keinen Dämpfer, schön das es bald weitergeht. Die fünf Stücke der Band lassen aufhorchen, sind kurzweilig und spannend entworfen.
Nach der Pause, die von fachkundigen Djs mit Ambientklängen überbrückt und damit verkürzt wird, betritt das Quartett CRANIAL das Geschehen. Diese Band besteht zur Hälfte aus Mitgliedern der leider aufgelösten OMEGA MASSIF, die sich mit ihrer monströsen Aufschichtung von Riffs eine große Freundegemeinde erspielt hatte. Neben CRANIAL sind auch die Sludger BLACKSMOKER und die Black Metaller PHANTOM WINTER mit Musikern aus OMEGA MASSIF bestückt worden. Hier bei CRANIAL wird geklotzt. Schnell wird die Marschroute klar: derbe Mitteltempogitarrendröhnung mit Tiefgesang und nicht viel Optimismus verbreitend. Das alles in entsprechender Lautstärke, es klingeln bald die Ohren. Wer hier auf ein Lächeln vom Bühnenrand hofft, der wird – natürlich- enttäuscht. Aber insgesamt ein schickes Brett mit Mitwippgarantie.
Wieder entspannen wir draußen. Veganburger und Craftgetränk, ich muss ja noch fahren. Drinnen baut sich SPOIWO auf. Polnisches Postrockkollektiv mit vielen Vorherlorbeeren, wegen des letzten Albums. Die schrauben und probieren lange, bevor sie wirklich zufrieden sind mit ihrem Sound. Das schraubt die Erwartungen natürlich noch höher. Mir persönlich erscheint die Band sehr ambintioniert, fast verbissen. Meine natürliche Abneigung vor hyperaktiven Gitarristen wird auch hier wieder wach gerufen, das hat der Herr gar nicht nötig. Die Stücke sind schön angeschrägt, aber strikt entworfen, an den Rändern passabel ausgefranst, manchmal zu pianolastig klimpernd, aber stark verdichtet und damit nie langweilig. Guter Auftritt, wobei ich etwas noch Intensiveres erwartet hatte.
GOLD tritt an. Holländische Inszenierung, wie man das erwarten kann. Fast choreografisch abgestimmt erscheinen vier Gitarrenträger, die ihre Häupter fast durchgängig im Gleichtakt rüttelschütteln. Mit einer tollen Stimme ausgerüstet wird die allpräsente Sängerin begleitet, in der Gesamtheit eine Nummer, die kaum Platz zum Warten, Nachdenken oder Interpretieren läßt. Ein Auftritt, der sehr gut durchläuft, aber bei mir nicht unbeding nachhaltig hängenbleibt. Ein Aufreger ist in meinen Augen die mehrmaligen Missachtung der Wünsche der Sängerin: ein älterer Herr mit Bandanatuch – im übrigen damit der einzige im Saal – fotografiert sie während des Auftritts in der zweiten Reihe stehend. Mehrmals gibt sie das unmissverständliche Zeichen, dass sie das nicht möchte, sich nicht ungefragt für sein Archiv hergeben will. Trotz dieser Eindeutigkeiten steigt der Apparat des Egoisten weiterhin über die Köpfe und knipst die langsam Verzweifelte mehrmals ab. Es scheint auch keinen der umstehenden Nachbarn des Herren weiter zustören. Daraufhin beginnt in mir eine Diskussion zu toben, die schnell von der Überzeugung abgelöst wird, dass hier einfach Persönlichkeitsrechte missachtet werden. Die Gestik der Künstlerin war ganz eindeutig und daher regt mich das noch heute auf: "Öffentliche Person" hin oder her!
Ok. Es gibt noch eines zu tun: ESBEN AND THE WITCH gut finden heute. Und das ist bei dieser Art von tränenreichster Musik gar nicht so einfach, denkt der geneigte Hörer. Aber doch: es geht, und das dunkle Trio ist wirklich richtig gut an diesem Abend. Entschleunigt, melancholisch wie eine nasse Kälte, aber sehr präsent, sehr nah am Publikum und vor allem bereit und fähig, ihre starken Stücke, irgendwo zwischen Trauer und Wahnsinn, Streicheln und Schlagen, auch in die Gedankenwelt der Hörer zu transportieren. Wir haben uns dafür auf dem oberen Rang des Kassablanca einen Platz gesichert und werden überhaupt nicht enttäuscht, ganz genau im Gegenteil: Mich fesselt der Auftritt von ESBEN AND THE WITCH von Sekunde Eins bis zum letzten Ton. Das ist für mich der Abschluss, den ich mir hier in Jena in dieser sehr schicken Atmosphäre erhofft hatte. AHAB muss ich mir schenken, da ich in fünf Stunden als Wahlhelfer eingesetzt werde. Die ersten Dröhntöne des Doomvierers gestatten mir auch, mich zu entfernen und mit heruntergedimter Akkustikmusik im dunklen Gefährt mit den schläfrigen Gefährten durch das nächtliche Thüringen zurückzuschweben. Die DEAF ROW-Reihe sei hiermit wärmstens empfohlen!
- Redakteur:
- Mathias Freiesleben