EVERGREY, KLOGR, VIRTUAL SYMMETRY - Bochum

11.11.2024 | 19:42

05.11.2024, Zeche

Erhabene Gänsehautmomente nebst ein bisschen Wehmut

Kann man ein grandioses Konzertereignis zerreden? Ist es tatsächlich möglich, einen der vielleicht besten Gigs im Kalenderjahr 2024 in den Schatten vorangegangener Ereignisse zu stellen, und dabei den Genuss in den Hintergrund rücken zu lassen? Diese Frage hat mich auch einige Tage nach dem Prog-Metal-Event in der Bochumer Zeche nachhaltig beschäftigt, da der Headliner seit Jahrzehnten zu meinen Top-5-Acts gehört und die Maßstäbe daher noch einmal anders sortiert werden müssen, als es allgemeinhin üblich ist. Aber lassen wir den Dingen erst einmal freien Lauf...

An einem leicht verregneten Herbstabend ist nämlich zunächst alles anders, als eigentlich geplant. Die dienstlichen Verpflichtungen ziehen sich ewig hin, so dass tatsächlich Gefahr droht, das schmucke Dreierpack, das sich heute in das Herz des Ruhrgebiets verirrt hat, in Teilen zu verpassen. Und so geschieht es leider auch, dass nur noch die letzten beiden Songs von VIRTUAL SYMMETRY mitgenommen werden können, als ich endlich das Innere der Zeche betrete. Doch immerhin: Was die Melo-Progger aus dem Süden Europas hier anstellen, macht absolut Laune, zumal die Band für einen Support-Act auch schon mit einem richtig starken Sound gesegnet ist und sich in Sachen Stageacting und Songauswahl längst in die vorderen Regionen des europäischen Progressive Metals hochgearbeitet hat. Das an diesem Abend sehr euphorische Publikum schenkt daher auch ein bisschen mehr als den üblichen Höflichkeitsapplaus und sendet die klare Botschaft, dass die schweizerisch-italienische Truppe gerne wiederkommen darf.

Nach einer relativ kurzen Umbaupause dürfen dann die Landsmänner von KLOGR die Bühne entern und sich gerne auch ins Fäustchen lachen, dass ihre schwedischen Kollegen ihnen bei der Nutzung der Projektionsflächen freie Hand lassen. Der Löwenanteil des Gigs besteht erwartungsgemäß aus Songs des letzten Studioalbums "Fractured Realities", welches live deutlich weniger sperrig klingt als auf Konserve. Die Italiener können daher auch relativ schnell die ersten Fäuste gewinnen, verdienen sich zunehmend lauteren Applaus und bringen mit einige packenden Stakkatos auch die ersten Nackenmuskeln in die Aufwärmphase. Dass die Truppe bis dato noch nicht richtig in die Gänge gekommen ist, mag den nicht immer überzeugenden Releases geschuldet sein; auf der Bühne ist KLOGR aber durchaus sehens- und hörenswert. Daran ändert auch der bisweilen gewöhnungsbedürftige, kratzige Gesang wenig.

Flugs geht es dann auch schon weiter im Programm, sehr zur Verwunderung der rauchenden Fraktion, die teilweise ein wenig verspätet in den Konzertraum gestürmt kommt, aber noch mitbekommt, wie ein verlängertes Intro den Countdown zum Showbeginn der skandinavischen Heroen einläutet. Die gesamte Show steht ganz im Zeichen des aktuellen Runddrehers "Theories Of Emptiness", was sich auch in den vielen Videoschnipseln und Projektionen widerspiegelt, die auch schon vor dem offiziellen Start die Runde machen. Sichtlich entspannt traben Tom Englund und seine Mannen schließlich auf die Bretter, schicken einen kurzen Gruß heraus und legen erwartungsgemäß mit dem Album-Opener 'Falling From The Sun' los, der erstaunlich textsicher von nahezu allen Kehlen begleitet wird. Da darf man dann auch mal erstaunt sein, da man solche Erlebnisse bis dato wohl eher mit den Gigs in den Niederlanden in Verbindung bringt, wo EVERGREY seit Jahr und Tag einen ganz besonderen Stellenwert genießt.

Mit lautstarker Begleitung und einigen weiteren neuen Songs geht es schließlich weiter, wobei auffällig ist, wie die einst immer sehr ernst wirkenden Musiker die Interaktion mit dem Publikum genießen, sich zwischen den Songs auch mal etwas lauter feiern lassen und sich nicht mehr so strikt an die konzeptionellen Gegebenheiten ihrer zusammenhängenden Kompositionen halten. Dass Englund beispielsweise ein wenig spöttisch seine heutige Sockenwahl kommentiert, zeigt ein völlig neues Gesicht dieser fantastischen Truppe, die heute noch einmal deutlich Sympathiewerte gewinnen kann. Das recht gemischte Publikum, zu dem sich auch einige ältere Semester gesellt haben, genießt die Show jedenfalls zusehends mehr und nimmt der Band auch nicht übel, dass die Meilensteine der etwas ferneren Vergangenheit komplett ausgelassen werden und der Fokus nahezu ausschließlich auf den Alben der letzten Dekade liegt. Lediglich im Zugabenteil gibt es mit 'A Touch Of Blessing' einen vermeintlichen Oldie, ansonsten sind es heuer Nummern wie 'Where August Mourns' und das beeindruckende 'Misfortune' mit seinem epischen Mitsingpart, die das Rennen machen müssen - und es letztlich auch tun.

In besagtem Zugabenblock fährt die Band schließlich auch einen ziemlich langen Clip auf, in dem Bilder und Aufnahmen der gesamten Bandgeschichte gezeigt werden, angefangen mit den Jungspunden, die seinerzeit mit "The Dark Discovery" ihr Abenteuer starteten bis hin zur heutigen Truppe, in der lediglich der Frontmann als Gründungsmitglied noch aktiv ist. Viele nostalgische Erinnerungen gehen hier durch meinen Kopf, habe ich die Band doch gerade um die Jahrtausendwende häufig live erleben dürfen, aber genau hier setzt auch ein bisschen Wehmut ein, da diese Phase aktuell nicht mehr von Bedeutung scheint - zumindest bei der Bestückung des Live-Sets.

Exakt hier sind wir dann auch bei der eingangs erwähnten Fragestellung zum tatsächlichen Genuss des heutigen Gigs: EVERGREY liefert und liefert, spielt eine tolle Show, hat die Fans komplett überzeugt und auch zufrieden entlassen. Und dennoch vermisst man so viele tolle Nummern, seien es nun die zahlreichen Highlights des bandeigenen Meisterwerks "In Search Of Truth", die einprägsamen Hochkaräter von "Recreation Day" und natürlich auch so manches Epos von "The Inner Circle". Gerade diese drei Alben bedeuten mir nach wie vor sehr, sehr viel, und auch wenn mir beim vorherigen Blick ins Netz bewusst wurde, dass die Setlist hier eine Menge ausspart, kann ich eine gewisse Enttäuschung darüber nicht verhehlen, dass die Konsequenz des jüngsten Erfolges eben auch darin besteht, dass viele Klassiker momentan nicht mehr stattfinden. Die Hoffnung besteht natürlich, dass es sich hier nur um eine Momentaufnahme handelt und man vielleicht zu den einzelnen Jubiläen dieser Werke noch einmal den Blick in den Rückspiegel wagt, aber ein leichter bitterer Beigeschmack bleibt trotz der Euphorie über diese wirklich fantastische Live-Show dennoch.

Wer also noch die Chance hat, EVERGREY bei einem der ausstehenden Gigs zu besuchen, sollte sich dieses Event nicht entgehen lassen. Denn auch wenn Wehmut bleibt, haben alle neuen Songs genügend Qualität (und vielleicht noch ein bisschen mehr), um eine abendfüllende Highlight-Show zu einem unvergesslichen Erlebnis zu machen!

 

Die Fotos wurden von Jule Dahs geschossen und stammen vom Konzert in Siegburg.

Redakteur:
Björn Backes

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