FISH - Hamburg
16.10.2024 | 21:0710.10.2024, Große Freiheit 36
Souveräne Abschiedsvorstellung eines großen Künstlers
Die globale Seuche mit dem großen C am Anfang hat bekanntlich so einigen geplanten Tourneen einen gewaltigen Strich durch die Rechnung gemacht und dabei weder große etablierte Künstler noch im Underground verwurzelte Bands verschont. Auch der ehemalige MARILLION-Frontmann Derek William Dick, besser bekannt unter seinem Künstlernamen FISH, hatte seinerzeit entsprechende Tourpläne. 2020 veröffentlichte er mit "Weltschmerz" sein vermutlich finales Album. Doch die nachfolgende Farewell-Tour fiel der Corona-Pandemie zum Opfer und wird nun endlich nachgeholt. Nach dieser Tour soll dann aber wirklich endgültig Schluss sein. Aber der gute FISH wäre natürlich nicht der erste (und vermutlich auch nicht der letzte Künstler), der irgendwann seinen Rücktritt vom Rücktritt verkünden würde. Prominente Beispiele gibt es hier bekanntlich zuhauf. Aber lassen wir die Spekulationen einfach Spekulationen sein und konzentrieren uns auf den heutigen Abend im Hier und Jetzt.
Die kleine Recherche im Vorfeld hat ergeben: Ganze vierunddreißig Songs hat der Prog Rock-Barde mit seiner Begleitband für diese Tour geprobt. Das ist wahrlich viel Holz. Aber damit nicht genug. Er variiert die Anordnung dieser Stücke auch von Abend zu Abend, so dass keine Setlist der anderen gleicht, und ich mich frage: Warum nehmen sich an dieser löblichen Vorgehensweise eigentlich nicht viel mehr Künstler und Bands ein Beispiel, gibt man dadurch doch nicht nur den Fans einen reellen Mehrwert, sondern bleibt auch als Künstler auf diese Weise selbst frisch und umgeht so die unweigerlich entstehende Öde und Monotonie einer über kurz oder lang eintretenden Routine.
Heute hat es den Altmeister also nach Hamburg in die sagenumwobene "Große Freiheit 36" verschlagen. Nach einer knapp zweistündigen stressbehafteten Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln direkt von meinem Arbeitsplatz (ebenfalls in Hamburg), unzähligen Staus und gefühlt hunderten Baustellen in der Stadt geschuldet, erreiche ich dennoch gerade noch pünktlich zum Anpfiff den altehrwürdigen Club, einen Steinwurf von der sündigen Reeperbahn-Meile entfernt. Um den ganzen Tagesstress abzuschütteln, begeben meine Begleitung und ich uns also erstmal brav in die wie immer viel zu lange Tresenschlange, um dann mit einem guten Schluck Bier erst einmal zur Ruhe zu kommen. Om, Namasté, Prost und ab dafür. Da der Barbereich im hinteren Teil der Venue liegt und durch einen kleinen Treppenabsatz ein wenig höher gelegen ist, nehmen wir erst jetzt wahr, dass der Laden proppepickepackenvoll ist und wir für ein langsames Vorschleichen und dezentes Durchdrängeln in den vorderen Teil viel zu antriebslos sind. Wir bleiben kurzerhand einfach dort in unmittelbarer Nähe zum Zapfhahn stehen. Durch die bis zum Ende des Konzerts offenstehende Haupttür zieht es dort zwar wie Hechtsuppe, dafür haben wir aber freien Blick über die Köpfe hinweg Richtung Bühne. Da hier, was nicht besonders überraschend ist, überwiegend ältere und livemusikbewusste Semester vor Ort sind, bleiben wir erfreulicherweise auch von den Standarmeen von filmenden Lufthandys verschont. Praktisch mit dem ersten Anstoßen erscheint auch FISH mit seinen Gefolgsleuten, als da wären: Gitarrist, Bassist, Schlagzeuger, Keyboarder und Backgroundsängerin. Der Meister selbst erscheint bekleidet mit leger umschlungenem grünem Künstlerschal und ebenfalls grüngemusterter Schottenhose im sympathischen Schlabberlookstyle.
Aber selbst, wenn man dem Geschehen mit geschlossenen Augen folgen würde, spätestens beim wunderbar traditionellen Part des Eröffnungssongs 'Vigil' gäbe es keine Zweifel: Hier steht ein waschechter Schotte auf der Bühne. Perfekter, geradezu schon dreidimensionaler Sound erreicht uns in den hinteren Reihen; diesbezüglich gibt es hier mal rein gar nichts zu meckern. Lediglich Backgroundsängerin Liz Troy wird anfänglich ein wenig zu leise abgemischt. Ein Umstand, der sich im Laufe des Auftritts glücklicherweise aber merklich und stetig verbessert. Im folgenden 'Credo' werden bereits zu früher Stunde die gesanglichen Qualitäten des Publikums einem kurzen Refrain-Test unterzogen. Im anschließenden leicht, aber angenehm kommerziell angehauchten 'Big Wedge' wird es wohltuend fluffig-rockig. Wer heute im Übrigen in dem Glauben anwesend ist, Mr. Dick würde hier auf Nummer sicher gehen und das Hauptaugenmerk bei der vermeintlichen Abschiedstour auf bewährte Nummern aus dem MARILLION-Katalog richten, irrt. Der charmante Schotte ist als Nonkonformist hinlänglich bekannt, hat schon immer ohne Rücksicht auf Verluste sein ganz eigenes Ding durchgezogen und vertraut auch hier lieber selbstbewusst auf sein mittlerweile umfangreiches und überwiegend ausgezeichnetes Solo-Œuvre, welches nun ja auch schon stattliche elf Studioalben umfasst.
Dass FISH auch körperlich noch lange nicht zum alten Eisen gehört, beweist er schattenboxend und sich gut auspowernd bei 'Pipeline'. Bevor dann mit 'Waverly Steps (End Of The Line)' auch das letzte, allerdings in meinen Ohren eher blassere Werk "Weltschmerz" mit einem Song bedacht wird, stellt er seine sehr beachtlichen Deutschkenntnisse unter Beweis (sowohl seine jetzige als auch eine verflossene Partnerin sind deutscher Herkunft) und fragt ins umliegende Rund, was schlimmer gewesen sei: Covid oder der Brexit. Gute Frage, die ich aber jedoch leider auch nicht beantworten kann. Es gibt aber nun auch wirklich Wichtigeres im Leben. Dieses Konzert hier zum Beispiel, wo Liz Troy hier nun ihre außergewöhnlichen gesanglichen Fähigkeiten in 'Shadowplay' in ein Duett mit dem Meister persönlich legt. Ganz wunderbar! Es folgen mit 'Dark Star' und 'Just Good Friends' zwei weitere Stücke aus dem Solo-Katalog, bevor mit 'Slàinte Mhat' von FISHs letztem Album bei seiner ehemaligen Band ein erster MARILLION-Song zum Besten gegeben wird, natürlich auch hier wieder mit lautstarker Unterstützung durch das textsichere Publikum. Vielen gilt das 1999 erschienene Album "Raingods With Zippos" als sein bestes, und so ist es kein Wunder, dass der prächtig aufgelegte Schotte hier das sehr ausladende und in sechs Teile gesplittete 'Plague Of Ghosts' vorstellt. Hier können die anwesenden Musiker nun auch eindrücklich demonstrieren, dass sie keine bloßen Begleitmusiker sind, sondern auch überdurchschnittlich hohe Qualitäten an ihren Instrumenten mitbringen.
Das reguläre Set ist nun Geschichte, und nach nur wenigen Augenblicken erscheint die Band erneut mit dem ruhigen, träumerischen und fantastischen 'A Gentleman’s Excuse' vom Debütalbum "Vigil In A Wilderness Of Mirrors", bevor mit 'Kayleigh', 'Lavender' und 'Heart Of Lothian' gleich ein satter Dreierpack von MARILLIONS kommerziell erfolgreichstem Album "Misplaced Childhood" aus dem Hut gezaubert wird. Zu den Songs muss man, glaube ich, nicht mehr allzu viele Worte verlieren, denke ich. Mir persönlich gefällt die dunklere und irgendwie düstere Note, die sich in den Interpretationen der Stücke verbirgt, außerordentlich gut. Möglicherweise liegt das aber schlicht und ergreifend auch an der Tatsache, dass FISH nicht nur 'Kayleigh' ein paar gute Ganztöne tiefer singt. Klar, der Mann wird eben auch nicht jünger. Davon abgesehen muss man aber ganz klar sagen: Er ist nach wie vor einfach noch gut bei Stimme. Der Kreis beginnt sich nun langsam zu schließen, und schottisch-folkloristisch wird es dann auch bei der zweiten Zugabe 'Internal Exile' noch einmal, bevor Mr. Dick und seine musikalischen Mitstreiter uns mit der dritten und finalen Zugabe 'The Company' in die kühle Herbstnacht entlassen.
Nachdem ich MARILLION nun bereits das eine oder andere Mal livehaftig bestaunen durfte, bin ich mehr als erleichtert und glücklich, auch den alten Schotten nun, quasi kurz vor der Musikerrente, ebenfalls noch einmal erlebt haben zu dürfen. Wer bei den restlichen verbleibenden Deutschland-Dates noch unschlüssig sein sollte: hingehen! Unbedingt! Großes Bereuen andererseits sehr wahrscheinlich.
Allerherzlichster Dank gebührt Sascha Beckmann für die Bereitstellung der fantastischen Konzertfotos. Hier könnt ihr euch noch weitere Fotoarbeiten von ihm anschauen: Beckmann Konzertfotografie.
Photo Credit: Sascha Beckmann
Setliste: The Thieving Magpie/Intro (La Gazza Ladra) (Gioachino Rossini Song); Credo; Big Wedge; Pipeline; Waverly Steps (End Of The Line); Shadowplay; Dark Star; Just Good Friends; Slàinte Mhat; Plague Of Ghosts, Parts 1 – 6; Zugaben 1: A Gentleman’s Excuse; Kayleigh; Lavender; Heart Of Lothian; Zugabe 2: Internal Exile; Zugabe 3: The Company
- Redakteur:
- Stephan Lenze