SAGA und MARILLION - Stuttgart
27.12.2011 | 10:1018.11.2011, Liederhalle
Eine absolut phantastische Zusammenstellung für Liebhaber melodischer Rockmusik ist die Kombination aus den Kanadiern SAGA und den Briten MARILLION. Während des ausgedehnten Deutschlandteils der Tour wechseln sich die beiden Bands übrigens als Headliner ab, spielen aber jeweils 90 Minuten, so dass Fans beider gleichermaßen zufrieden sein dürften.
In Stuttgart eröffneten SAGA den Abend. Ich treffe leider ein wenig zu spät ein, da ich zwar früh genug losgefahren bin für meine normalerweise einstündige Anreise, aber in der Großbaustelle Stuttgart dann vom Ortsrand bis zur Liederhalle noch einmal die gleiche Zeit brauche wie für die vorherigen 120 Kilometer. Und natürlich beginnt das Konzert pünktlich. Ist man zur rechten Zeit da, kann man sicher sein, dass es später beginnt, aber heute erklingt der erste Ton um 19.30 Uhr. Nerv.
Nach der kurzen Episode ohne den angestammten Sänger Michael Sadler hatten die Nordamerikaner einen Klassiker-Set versprochen, was auch der Wahrheit entspricht. Unzählige Gassenhauer gerade der Frühphase werden geschickt kombiniert, und der Saal klatscht und schunkelt begeistert mit. Schunkelt? Ja, genau. Denn der Altersschnitt dürfte locker mit einer "4" beginnen, wenn ich mich mal so umschaue. Das Publikum ist der Band also treu geblieben, oder wenn man es weniger nett ausdrücken möchte, es ist mit den Musikern gealtert. Aber Songs wie 'Careful Where You Step' oder 'On The Loose' anfangs noch gemischt mit ein paar neueren Kompositionen sorgen schon für frischen Schwung in steifen Hüften.
Wenn man wie SAGA auf einen Fundus von nicht weniger als neunzehn Studioalben zurückblicken kann, muß man als Band Kompromisse machen. Es ist einfach unmöglich, alle Alben zu berücksichtigen. Wie immer in einem solchen Fall werden eben die Klassiker bedient, ein, zwei neuere Songs gespielt und die mittlere Phase komplett ignoriert. In diesem Fall bedeutet dass, dass von dem 1987 erschienenen Album "Wildest Dreams" bis hin zu "Full Circle" aus dem Jahr 1999 kein Song die Aufnahme in die Setlist gefunden hat. Schade, aber auch keine Katastrophe, denn SAGA suchen sich heute Abend einige Stück aus der Frühphase heraus, die nicht so häufig gespielt werden. Dabei liegt ein ganz besonderes Augenmerk auf dem Anfang der Achziger erschienenen "Worlds Apart". Eine Zeit, an die sich die Fans sicher alle noch gut erinnern können.
Die Band selbst wirkt routiniert und eingespielt. Irgendwie hat Michael Sadler mit seiner prägnanten Stimme gefehlt. Vielleicht hat er einfach einmal eine Auszeit gebraucht, konnte damit sein Soloalbum einspielen und ist jetzt eben wieder heimgekehrt in den Schoß der Familie. Auch Gitarrist Ian Crichton, der auf der letzten SAGA-Tour eine eher schwierige Phase durchlebt haben soll und mehr oder weniger durchscheinende Probleme gehabt haben soll, wirkt fit und froh und rockt mit Spielfreude auf seiner Bühnenseite. Selbige allerdings gehört hauptsächlich dem Sänger Sadler, der von Anfang an alle Anwesenden in seinen Bann zieht und seine Mitstreiter oft zu Statisten degradiert. Mit der Erfahrung der vielen SAGA-Jahre scheint das aber den beiden Jims (Crichton und Gilmour) wenig auszumachen, denn trotz ihres unspektakulären Postens meistens hinter einem Keyboard zu stehen, steht auch ihnen der Spaß ins Gesicht geschrieben.
Gegen Ende des Sets erhöhen SAGA noch einmal die Temperatur im Saal mit 'Humble Stance' und 'Don't Be Late', bevor sie die Bühne verlassen. Natürlich kehren sie noch einmal zurück und spielen neben dem von mir erwarteten 'Wind Him Up' auch 'Conversations' vom "Worlds Apart"-Album, ein Stück das ich soweit ich mich erinnere noch nicht live gehört und gesehen hatte. Auch so kann man seinen Set zu etwas Besonderem machen, denn auch 'Pitchman' oder 'Out Of The Shadows' sind eher selten in der Setlist zu finden und werden mit Begeisterung aufgenommen. So hinterlassen SAGA einen rundum zufriedenen Saal, in dem noch minutenlang Keyboardmelodien vor sich hingesummt werden.
Die zweite Band des Abends ist MARILLION. Zur Geschichte muß sicher nicht viel gesagt werden, außer dass man sich langsam einmal davon lösen muß, Sänger Steve Hogarth immer den "neuen Sänger" zu nennen. Mit Fish wurden in den Achziger Jahren vier Alben aufgenommen. Mit "H" seit 1989 aber sogar schon elf Stück, zwei davon sogar als Doppelalben! Ein anständiger Output, der noch beeindruckender ist, wenn man bedenkt, dass die Band schon seit Jahren ohne Plattenvertrag ist und ihre Alben selbsz produziert. Erst danach werden die Scheiben an ein Label lizensiert. Die vielen Fans der Band kaufen aber meist schon vorher bei MARILLION direkt und bekommen dafür oft Sammlereditionen und diverse Zugaben. Das nennt man dan wohl treue Fans.
Im Gegensatz zu SAGA weiß man bei MARILLION eigentlich nie, was einen erwartet. Auf jeder Tour wird ein neuer Fundus an Stücken ausgepackt, und jedes Jahr kommen unerwartete Lieder zum Vortrag, so dass es sich immer wieder lohnt, die Touren zu besuchen. Selbst von Auftritt zu Auftritt unterscheiden sich die Setlists, oft auch erheblich. Nur einen Klassiker-Set im Sinne dessen, was SAGA gespielt haben, darf man aufgrund des Sängerwechsels nicht erwarten. Statt dessen sind ja auch Songs von "Season's End" oder „Holidays In Eden" gewissermaßen Klassiker. Zudem hat MARILLION noch eine weitere Hürde zu nehmen beim Zusammenstellen einer Setlist. Ihre Songs sind im Durchschnitt ausgesprochen lang. Wo die Kanadier noch siebzehn Lieder unterbrachten, bringen es die Briten heute nur auf zwölf Songs bei gleicher Gesamtspielzeit. Aber darüber beschwert sich sicher keiner ihrer Fans, denn die langen, epischen und emotionalen Kompositionen sind eine der größten Stärken der Fünf.
Steve Hogarth eröffnet den Reigen in dunklem Jacket und intoniert 'Splintering Heart'. Eine schöne Wahl, und nach obiger Definition ein "Klassiker" wie auch das folgende "Cover My Eyes". Die Atmosphäre ist natürlich viel ruhiger und relaxter, sowohl vor als auch auf der Bühne. Wo SAGA Opulenz ins Feld führten, dominiert nun eine Reduziertheit, eine subtile Phrasierung und gekonnt gesetzte Akzente, was spätestens in 'King' seine Wirkung entfaltet. Dies ist beileibe keine Musik zum Tanzen oder ausflippen. Dies sind Lieder zum Genießen.
Am Rande des Geschehens steht Steve Rothery, seines Zeichens Gitarrist der Band, und überläßt trotz seines exzellenten Rufes seinem Kollegen am Mikrophon die zentrale Rolle auf der Bühne. Einzige Auffälligkeit ist, dass es scheint, als hätte der gute Steve noch ein paar Pfund auf die Rippen zugelegt. Wer kocht den da so gut? Zum Thema Rothery übrigens ein kurzer Exkurs: Das T-Shirt des Tages sehe ich in der Pause zwischen den Bands draußen am Merchandise-Stand, wo es, und ich prangere das an, keine T-Shirts in Kindergröße 110 gibt. Statt dessen steht dort ein Fan, dessen T-Shirt behauptet: "Even Richard Dawkins says that Steve Rothery is God!" Ja, dem habe ich eigentlich nichts hinzuzufügen. Außer dass ich das Shirt auch gerne gekauft hätte. Gab es aber nicht.
Auch die übrigen Ur-Mitglieder, MARILLION haben in den letzten 30 Jahren tatsächlich mit Ausnahme des Wechsels ihres Frontmannes keine Änderungen im Line-Up erleiden müssen, halten sich zurück und überlassen Steve Hogarth komplett die Bühne. Das ist dann wohl der Untertitel des Auftritts: Der extrovertierte Sänger und die schüchterne Band. Aber Hogarth ist auch Showmann genug für alle. Mit wechselnden Accessoires ändert sich seine Performance von Lied zu Lied, er ist das mitreißende Element auf der Bühne. An seinem Mikroständer hängen zahlreiche Dinge, deren Zweck nicht immer auf den ersten Blick erkenntlich ist. Aber irgendwas hat er dauern in der Hand, ohne dabei den Kontakt zum Publikum abreißen zu lassen. Ja, der Mann ist ein Rockerboy.
Bei dem Song 'Sugar Mice' aus der Fish-Ära erkennt man dann, dass auch für die Engländer einige Altfans angereist sind. Aber für sie ist dies der einzige Ausflug in die ganz frühe Phase, selbst den großen Hit 'Kayleigh' läßt die Band heute weg. Statt dessen kommen ein paar Songs zum Zuge, die nicht unbedingt zu erwarten gewesen waren: Auf 'Hooks In You' hätte ich verzichten können, aber der zusätzliche Drive tut dem Gig gut, und 'You're Gone' vom großartigen "Marbles"-Album gehört auch nicht zu meinen Bandfavoriten. Doch im zweiten Teil des Gigs dominieren dann einige phantastische Longtracks, die den Auftritt zu einem vollen Erfolg werden lassen. 'Man Of A Thousand Faces' vom "This Strange Engine"-Album ist eine unerwartete Freude. Mit großer Hingabe und Emotionsingt Hogarth und lässt einen großen Song noch größer erscheinen.
Weiter geht es mit 'Neverland' und als Zugabe kommt dann noch 'The Invisible Man' – ja, das geht kaum besser. Nur 'Ocean Cloud' hätte mir nocht etwas mehr Freude bereiten können. Und auch das nur ein klein wenig. Die Band scheint auch zu wissen, dass sie mit "Marbles" ein absolutes Highlight ihres musikalischen Schaffens veröffentlicht haben, so dass sich in den letzten Jahren häufig Lieder der Doppel-CD im Set wiederfinden.
MARILLION machen auf dieser Tour wieder alles richtig. Eine Songauswahl, wie es sie wohl so noch nicht gegeben hatte, eine absolut überzeugende Performance, auch wenn man feststellt, wie die Musiker die eine oder andere Falte mehr bekommen haben, und als einziges Manko dasselbe wie immer: es ist zu kurz. Auf der Tour wurden auch 'The Release' und 'Fantastic Place' gespielt, und kürzlich auch 'Cannibal Surf Babe' und 'Afraid Of Sunlight'. Schade, dass für diese tollen Songs nicht auch noch Zeit war. Da muß man wohl noch einen Gig der Tour besuchen. Wo machen die Bands denn noch so Halt, ich könnte glatt noch mal...
- Redakteur:
- Frank Jaeger