South Of Mainstream 2008 - Cammer

17.10.2008 | 14:08

29.08.2008, Festivalgelände

Aufwachen. Kopfschmerz. Pelzzunge. Keine Hand, die wohlriechenden Kaffee darreicht. Blähende Zeltnachbarn. Durchzecher, in gebückter Haltung zwischen den Planen taumelnd. Warum tut man sich dett überhaupt an? Rauskriechen. Umsehen. Pinkeln. Sonneblinzeln. Schöner Tag wird das. Schön warm. Da sitzen ein paar Geltungsbedürftige auf einem abgestellten Agraranhänger. Wenn ich das recht so besehe, ist damit nicht nur Stroh gefahren worden. Aber das sage ich denen nicht! Vor dem Mistwaggon post eine lokale Musikgröße aus Sachsen-Anhalt, die ich später musikalisch noch überprüfen werde und mental durchwinken werde. Aber posen können die! Lieber Frühstück! Das Schwesterlein ist die nächste, die es unterm Zeltdach nicht mehr aushält. So watscheln wir los, fest im Glauben, einen Dorfbäcker zu finden. Besser noch, es ist ein bestens ausgestatteter Gesamtkonsum, der bald über einen sehr guten Umsatztag fabulieren wird. Erst mal alle, alle Brötchen wegkaufen. Gestern hatte jeder von uns vier unheimliche Fressattacken. Und das neben dem Nahrungsangebot auf dem Gelände, dem wir ebenfalls verfallen sind. Alt und schwammig sind wir geworden. [Aber hallo?! Nicht gleich von dir auf andere schließen - SV] Aber wir finden umsehend Beruhigung. Fast alle hier haben mit einem Katerkopp zu kämpfen. So nimmt es auch nicht wunder, dass wir auch nach der Rückkehr mit prall gefülltem Brottütchen keinerlei Reaktion in der Zeltburg auffinden. Kaffee türkisch, ein blauer Himmel aus dem Kinderbuch, langsam kehrt so etwas wie Entspannung ein bei uns. Ausgiebig werden grill- und grillenumflirrt Themen der Alltage durchgehechelt, langsam wird innerlich ein ausführlicherer Toilettengang vorbereitet. Man sieht dies allen an. Das geht aber in Ordnung, da die Kotzellen [ah, Kot-zellen sind hier gemeint - SV] [Ist nicht die erste Wortbestie, die man dreimal angucken muss ... - OS] wahrlich gepflegt aussehen. Später, auf einem laaangen Spaziergang durch die nahen Kiefernwälder, könnte sich neurotisch umblickend ebenfalls erleichtert werden. Aber die Zivilisation verbietet dies eigentlich. Wir wollen heute Selbstversorger sein, schultern einen Stoffbeutel, grüne Pilsflaschen hämmern gegeneinander, und durchstreifen die Schonungen nach Pilzen. Es ist sehr erhebend, dieses Schlendern über Sandböden und Erikastauden, umgestürzte Rehfutterkrippen und vorbei an sonnenbebrillten, desorientierten hauptstädtischen Festivalbesuchern. Eine lilafarbene Tüte auf einer Anhöhe zeigt den Standort von drei wunderbaren Steinpilzlein an, diese werden später auf schwarzem Brot geschlungen werden. Das war's aber auch schon. Zufrieden sind wir und haben auch den alten Park des Geländes inspiziert. Dabei treffen wir auf M. aus Potsdam, eine ständig entrückt vor sich hin lächelnde Sympathielocke, mit der wir auf einem Baumstamm ein klassisches Kleinthemagespräch führen. So ein Vormittag brandenburgisch, der hat schon was.
[Mathias Harz]

Wer in Dorfnähe bleibt, kann an diesem schön wärmenden spätsommerlichen Vormittag z. B. die Bockwindmühle in Augenschein nehmen, die am Rande der Ortschaft als größte Sehenswürdigkeit von Cammer harrt. Dreihundert Jahre hat sie nun schon auf dem Buckel und wurde vor gut zehn Jahren komplett restauriert. Dadurch erfüllt sie nicht nur Denkmalfunktion, sondern ist auch wieder betriebsfähig und produziert mit Wind- oder Elektroenergie.
Betriebsfähig sind auch wir inzwischen wieder und mittlerweile sind die Pilzsammler von ihrem Rundgang durch das umliegende Waldgebiet zurück und präsentieren stolz ihre Funde. Man könnte fast vergessen, dass man ja wegen einem Festival hier ist und sich ja hauptsächlich lautmalerische Mucke in die Ohren blasen lassen möchte. Aber nur fast.
[Stephan Voigtländer]

SCHNAAK eröffnen heute. Eine Salve geballten Radaus lässt das Duo auf die erfrischte Schar herab. Neben einer etwas zu langen Klopfeimerperformance reibt sich hier alles die Hände, denn der Einsteiger wird vom nächsten Geheimtipp beerbt: OMEGA MASSIF, ein Instrumentalkommando erster Güte. Die Burschen sehen insgesamt gar nicht so wild aus, eher wie angehende Baustoffprüfer aus Tübingen oder Agenturpraktikanten, aber nicht so finster wie diese tonale Düsternis, die sich dort auftut.
[Mathias Harz]

Whooaayeah! OMEGA MASSIF - was für eine Wand. Es kracht, scheppert und dröhnt um 15 Uhr durch das beschauliche Gelände in Cammer, dass es eine wahre Pracht ist. Die wuchtige Breitseite föhnt das Haupthaar ordentlich nach hinten. Dabei kommen die Würzburger komplett ohne Gesang aus. Der ist auch gar nicht nötig, die Saitenfraktion entfacht genug Druck und nagelt ein brachiales Brett ans Gebälk. Der Schlagzeuger im stylischen Uralt-SABBATH-Leibchen untermalt das ganze Gedröhn, indem er mit vollem Körpereinsatz sein Drumkit nach allen Regeln der Kunst vermöbelt. Sehr wuchtig, sehr energetisch, sehr geil. Und durch den fehlenden Gesang ausschließlich auf das Wesentliche beschränkt. Oder mit einem Wort: hervorragend!
[Stephan Voigtländer]

Großartig! Prüft die Videos auf YouTube. Und am besten leibhaftig. Die Euphorie hat sich - was noch viel besser ist - auf die umstehenden Zuhörenden übertragen. Auf jeden Fall eine Bande aus Würzburg, die man sich merken muss. Fünfzig Prozent von SCHNAAK klampfen außerdem bei THE SEASON STANDARD. Das Ganze ist recht kakophonisch angelehnt, auf Konserve in Ordnung, leibhaftig eher anstrengend. Dasselbe innerlich persönliche Urteil, weil eher "spoken words"-basiert, wird hier über ENABLERS verhängt. Trotzdem anhören, feine Musike. Nach dem, sagen wir mal, konservativeren TEPHRA-Gig aufgrund viel Geschreis und handwerklich metallener Schau nehmen wir draußen zwischen all den Herumhockern die Mitglieder der Abendbands wahr, JUD und ULME schleichen bereits herum. Juchhe! BEEHOOVER haben mal wieder das gesamte Publikum im Griff, und es wird ihnen familiär gedankt. Niedlich, die beiden!
[Mathias Harz]

Jau, die Zwei-Mann-Band aus Süddeutschland gehört zu denen, die bereits durch ihr sympathisches Auftreten das rockende Herz erfreuen und auch musikalisch sind sie über jeden Zweifel erhaben. Einmal Bass, einmal Drums, dazu Gesang der beiden Barden und jede Menge Spielfreude - fertig ist ein rockmetallischer Cocktail mit viel Drive, der sehr ansteckend wirkt. Bei BEHOOVER muss auch nicht rüde rumgegrunzt oder geschrien werden, die Clean-Vocals passen perfekt zum dynamisch-knalligen Geschredder.

Im Vergleich mit den feinen BEEHOOVER musste man bei den Darbietungen zuvor zumindest leichte Abstriche machen. Auch bei TEPHRA gibt's voll auf die Zwölf, allerdings ist das Ganze etwas zu gleichförmig strukturiert. Wenn die Dampframme ausgepackt wird, ist die Musike ein bisschen mit DISBELIEF vergleichbar. Die ruhigen, fast in Post-Rock-Gefilden wildernden Passagen setzen zwar einen Kontrapunkt zu dem brachialen Geknüppel, werden aber sehr vorhersehbar eingestreut. Summa summarum treten aber dennoch einige gute Ideen zu Tage, und der Vortrag offenbart auch einiges an Wucht, was TEPHRA auf jeden Fall sehenswert macht.

TODD sind dann etwas zu angestrengt, und das entrückte Gekreisch des Fronters sicherlich nicht jedermanns Geschmack. Zumindest den meinigen trifft es nicht, mir ist das Ganze einfach zu hektisch, so dass eine kurze Auszeit anvisiert und in die Tat umgesetzt wird.
[Stephan Voigtländer]

ULME! Dieses Phänomen endlich wieder mal da. Die haben Bock, wir auch, hinter mir kriegen sich zwei Hamburger gar nicht mehr ein. Euphorieschübe, kann das aber verstehen. Leider haut's gleich zu Beginn den Druck aus der Gitarrentechnik, so dass dem Trio leider etwas der Tonhoden kneift. Aber trotzdem: Buaaah! Endlich ist auch der besoffene Aufpasser-Ronny irgendwo in der Heide eingeschlafen oder eingesperrt worden, nun kann auch mein großer Begleiter sich endlich entspannen. Er macht den Frust darob mit Schnapskonsum tot. JUD sind definitiv auch wieder Bundesliga, was das - ach was! - Trio mit einem dicken und erregten Gig unterstreicht. Wieder: hiermit Hingehbefehl!
[Mathias Harz]

Na ja, um ehrlich zu sein, der aus den technischen Problemen resultierende Druckabfall bei ULME schlägt schon nicht unerheblich zu Buche. South Of Mainstream 2008 gehört sicherlich nicht zu den denkwürdigsten Gigs in der ULME-Historie. Und da auch die Songauswahl nicht uneingeschränkte Zustimmung bei zumindest einigen Beteiligten findet, reicht es hier nicht ganz zur Bestnote, wenngleich ULME natürlich immer eine Reise wert sind, vor allem wenn sich die Band nach längerer Abstinenz mal wieder zusammenrauft.

JUD regeln dann richtig. Die Berliner haben eine sehr ausgewogene Mischung aus verträumt-atmosphärischen Passagen und groovigem Rock parat. Das tönt sehr ansprechend, ohne dabei so richtig lautmalerisch zu sein. Wobei es allein schon das Herkommen wert ist, die Gesichtszüge des Drummers zu beobachten - was hat der Kerl für einen Spaß beim Schwingen seiner Stöcke. Und das steckt an, die Mucke steigt zu Kopf und geht gleichzeitig in die Beine. Die griffigen Songs setzen sich sofort im Schädel fest und verfolgen einen noch weit über das Konzert hinaus. Das fetzt. Es ist zwar nicht das härteste Geboller am heutigen Tag, aber in punkto Ohrwurmeligkeit und Eingängigkeit liegen JUD ganz weit vorne. Somit kann ich bei meinen persönlichen Highlights des South Of Mainstream 2008 neben OMEGA MASSIF bedenkenlos eben jene Jungs von JUD aufführen.

DÄLEK passt dann einfach nicht zum übrigen Programm, denn dieser ist ein wohl recht angesagter Hip-Hopper/Rapper, der extra aus New Orleans über den großen Teich geschippert kam. Da das aber einfach nicht die Art von Mucke ist, wegen der wir dieses Festival besuchen, erübrigt sich fairerweise jeder weitere Kommentar.
[Stephan Voigtländer]

Die Begeisterung für DÄLEK kann ich nicht teilen. Hip-Hop verbreitet Langeweile, seit ich hören kann, so dass wir uns vor den Festivalmachern ehrfürchtig verneigen, in das stimmungsvolle Dunkelblau des Zeltes grüßen und in einen wild-feucht duftenden Sonntagmorgen wandeln, um uns in trauter Eintracht zusammenzuhocken. Der eine oder andere Vorfall mit Übertrunkenen belustigt uns, bis es uns wehtut, wohl wissend, wie ein solcher Zustand am nächsten Morgen in den Nebenhöhlen hämmert. Frisch gepellt, da mir ein Firmentermin in Halle blüht (Es ist Sonntag! Hier gibt es keine Gewerkschaften!), streben wir aus dem Brandenburgischen und wünschen uns, dass auch 2009 ...
[Mathias Harz]

Ach, darf ich die abschließende Floskel übernehmen?! Nun denn, so wünschen wir uns für 2009 in allerbester Floskelmanier, dass wieder so feine Bands zusammengekarrt werden können und die Sonne erneut ihr Antlitz über Cammer enthüllt. Und vor allem sei gehofft, dass DÄLEK, offenbar ein größeres Licht der internationalen Hip-Hop-Szene, keinen zu großen Batzen Kohle gekostet hat, so dass einer Fortsetzung im Süden von Mainstream nichts im Wege steht.
[Stephan Voigtländer]

Redakteur:
Stephan Voigtländer

Login

Neu registrieren