WACKEN 2023 - Wacken

22.08.2023 | 16:16

31.07.2023,

...oder Grenzerfahrungen für alle Beteiligten.

Heute erwache ich rundum trocken. Auch außerhalb des Zeltes erwartet mich der übliche mordoreske, schwer zu deutende Himmel über Wacken, ohne mich sofort gleich einer altersschwachen Dusche mit feinem Nieselregen einzudecken. Und so mundet mein Frühstück in Form der liebgewonnenen Müsliriegel, runtergespült mit einem leckeren Energydrink, geradezu verwegen erfrischend. Nach Besuch der ca. zehnköpfigen Oldenburger Gruppe, telefoniere ich nochmal mit meiner Frau und danach folgt das nächste neu entstehende Ritual: Der Blick in ein geliehenes Handy zum ungefähren Auswendiglernen der Spielzeiten. An dieser Stelle muss ich Folgendes ganz dringend loswerden: Überhaupt nix Gedrucktes als Spielplan haben zu können, ist einfach Sch***e, wenn man kein Handy mehr hat! Ein einfacher, schmuckloser Faltflyer würde da ja reichen. In Kombination mit den Info-Screens und Handys wäre das dann grundsätzlich perfekt.

Gleich mittags um 12:00 steht TERROR auf meiner Agenda. Und so erscheine ich pünktlich, mit einer halben Dose kalt gelöffeltem Erbseneitopf im Magen (ein lukullischer Geheimtipp, glaubt mir!) vor der Louder-Stage. Die Hardcore-Strategen aus Los Angeles waren mir schon vor Jahren auf einer Persistence-Tour im Vorprogramm der SUICIDAL TENDENCIES durch ihr mitreißendes Bühnenwesen aufgefallen. Von Beginn des Gigs an hüpft, rennt und tobt der fit und gesund wie ein Personal Trainer aus der Wäsche guckende Frontmann Scott Vogel, einer Mischung aus Leichtathlet und Boxer ähnlich, über die Bühne. Mit Bier prostet er uns zwar zu, sein Body-Mass-Index ist jedoch mit dem der meisten vor der Bühne befindlichen alkohol-affinen Musikfans wohl eher nicht direkt zu vergleichen, um es mal vorsichtig auszudrücken. Und TERROR drückt mit bestem, metallischem Core-Sound, rifft das Publikum in Begeisterung! Scott Vogel rast wie eine leichtfüßigere Verson von Mike Muir umher, strahlt und lacht in alle Richtungen, während er wie ein Berserker in sein Mikro shoutet. Trotz krachigem Hardcore verbreitet er mit TERROR gute Laune, das ist echter "Strahlemann-Core" für mich. Die Band knattert präzise und gnadenlos Bretter wie 'Overcome' und 'Spit My Rage' in den Matsch vor der Bühne, der gleich trockener zu werden scheint. Genug Leute, die mit ihren Circle-Pits rennend zur Trocknung beitragen, sind ja gekommen. Während die anderen Musiker konzentriert ihre Musik spielen, interagiert Scott Vogel sehr sympathisch mit dem Publikum. Unter anderem fordert er statt des nicht möglichen Stage-Divens so viele Crowd-Surfer wie möglich, um die Security-Jungs mal ordentlich arbeiten zu lassen. Ein wunderbarer Gig für den Start in den Festivaltag, der immens Bock auf mehr gemacht hat.

Nach diversen "Erledigungen" wie Merch in Augenschein nehmen und meinen geliebten, bisher nicht gefundenen Backfisch-Stand (noch) erfolglos zu suchen, tappe ich zu SKYLINE wieder im Infield umher. Die Coverband des ehemaligen Bassisten und jetzigen Festival-Mitchefs Thomas Jensen bringt mit allerlei allseits bekannten Songs wie 'Panama', 'It's A Long Way To The Top' oder 'Love Gun' von der Harder-Stage gute Laune ins Infield. Musikalisch gewiss nicht spektakulär, aber qualitativ in Ordnung und angemessen partytauglich.

[Timo Reiser]

Wir haben es also bis zur Louder Stage geschafft, auf der um 15.30 Uhr die Schweden von DARK TRANQUILLITY aufspielen. Wir bahnen uns einen Weg durch den Schlamm und kommen rechts der Bühne in beträchtlicher Entfernung vom Geschehen zu stehen. Entsprechend verwaschen kommt der Sound bei uns an. Das freundliche Gesicht von Mikael Stanne sehe ich nur über die Leinwand, er selbst ist ein kleiner Punkt auf der Bühne. Weil ich auch klein bin, sehe ich kaum etwas, aber ich höre ein paar meiner Lieblingsstücke. 'Terminus' vom "Fictions"-Album wird ebenso zu Gehör gebracht wie 'Monochromatic Stains', 'Nothing To No One' und zum Schluss natürlich 'Misery's Crown'. Über die Leinwand sehe ich, wie glücklich der Sänger sich beim Publikum bedankt, wie immer, als könne er es kaum fassen, bis hierher gekommen zu sein. Die mich sonst so bewegende Mischung aus Growls und keyboardgeschwängerten Melodien DARK TRANQUILLITYs erreicht mich heute nicht so richtig. Die Entfernung von der Bühne und der Trubel im Publikum um mich herum lassen bei mir so recht keine Stimmung aufkommen. Aber der Band kann das wohl kaum zum Vorwurf gemacht werden. Herr K. aus M. ist ein bisschen glücklicher als ich. Offenbar ist er mehr in Schwingung geraten. Er ist ja auch größer als ich...

[Erika Becker]

Um 16:30 Uhr spielt dann die "Füchsin" aus den USA exlusiv in Europa und in Wacken, die ausschließlich mit Frauen besetzte Hair-Rock-Band der zweiten Hälfte der 80er und frühen 90er Jahre. Bei der bereits im Jahr 1980 gegründeten Band VIXEN handelt es sich aus meiner Sicht um einen der großen "Leckerbissen" im diesjährigen Wacken-Line-up. Um die im deutschen Sprachraum leider sehr naheliegende Tätigkeitsassoziation auszuschließen, wird das V im Bandlogo inzwischen von einem Fuchsköpfchen verziert. Freilich ist kein Gründungsmitglied in der vom Business, musikalischen Strömungen und nicht zuletzt dem Schicksal im Laufe der Jahrzehnte hin-und hergebeutelten Band, vorhanden. Dennoch stehen da vier Vollblutmusikerinnen auf der Bühne, die das aus großartigen Songs bestehende Erbe VIXENs hervorragend und wohlklingend umsetzen. Den durchaus vorhandenen optischen Schauwert, wenn auch teils durch Unmengen von Make-up und überaus offenherzige Dekolletés unterstützt, will ich hier zwar auch anerkennen, jedoch keinesfalls in den Vordergrund rücken, wie es in der Vergangenheit bei VIXEN zu Unrecht oft getan wurde. Bei strahlendem Sonnenschein rockt die Band ein Best-Of-Set von der Faster-Stage, das als musikalische Wohltat mit vielen mehrstimmigen Harmoniegesängen meine Seele geradezu wärmt und streichelt. So ergeht es anscheinend ganz vielen Festivalbesuchern, denn VIXEN hat die Aufmerksamkeit der Fans aller Altersstufen vor der Faster-Stage, die in großer Zahl ordentlich mitgehen. Rocci Petrucci (seit 1986 an den Drums), Britt Lightning (seit 2017 Gitarre), Lorraine Lewis (seit 2019 Gesang, Ex-FEMME FATALE) und Julia Lage (aus Brasilien, seit 2022 Gitarre, Ex-Gitarristin von BARRA DA SAIA) machen die 2013 an Krebs verstorbene und sicherlich über den Wolken mitgroovende Bandgründerin Jan Kuehnemund stolz: Vom Opener 'Rev It Up', über das FEMME FATALE-Cover 'Waiting For The Big One', 'How Much Love' und 'Cruisin' bis hin zum Abschluss-Riesenhit 'Edge Of A Broken Heart' lassen die vier Damen das Infield bei herrlichsten Sound- und Wetterbedingungen eine Stunde lang in ihrem hochmelodischen, "wie Butter runtergehenden" AOR und Hair Metal schwelgen. Und weil es gar so gut ist, gibt es hier die Setlist.

Setlist VIXEN: Rev It Up; Waiting For The Big One; How Much Love; Cruisin'; Cryin'; Hell Raisers; Runnin' With The Devil/I Want You To Rock Me/What You'Re Doing/War Pigs/Still Of The Night; Streets In Paradise; You Oughta Know By Now; Love Made Me; Edge Of A Broken Heart

[Timo Reiser]

Nach dem etwas verunglückten DARK TRANQUILLITY-Auftritt haben Herr K. aus M. und ich uns inzwischen auf dem Festivalgelände akklimatisiert. Wir stellen fest, dass es in der Schlammwüste sogar einige Inseln der relativ trockenen Glückseligkeit gibt, auf denen man seinen Hintern platzieren kann, um geeignete Bands kräftesparend im Sitzen zu genießen. Eine davon ist URIAH HEEP. Deren Song 'Lady In Black' ist mir vor allem aus meinen Lektionen mit Peter Burschs autodidaktischer Anleitung "Gitarre lernen ohne Noten" erinnerlich. Fundierteres zum Gig weiß Herr K. aus M. zu berichten.

[Erika Becker]

URIAH HEEP ist für mich der klassische Fall von "Ei, wenn die schon auf dem Festival spielen, dann guck ich mir die auch mal an!", zumal mich die Veteranen bei ihrem letzten Wacken-Auftritt durchaus überzeugt haben. Und na klar, ich gebe es ja zu: natürlich will ich die Evergreens 'Rainbow Demon', 'Gypsy', 'Easy Livin' und das unvermeidliche 'Lady In Black' hören. Mit den übrigen Songs, die natürlich zu Beginn gespielt werden, bin ich überhaupt nicht vertraut, so dass ich es bei der oberflächlichen Bemerkung belasse, dass es ganz gefällig rockt und mich im trockenen Rindenmulch prächtig entspannen lässt. Aber schließlich ist es irgendwann soweit! Von der Bühne ertönt die Aufforderung, beim nächsten Song doch bitte kräftig mitzusingen. Und dann kommt es auch schon: das allseits bekannte Eingangsriff von 'Lady In Black' und der irgendwann einsetzende Chorus, den nun jeder Rockmusikfan irgendwo auf seiner Festplatte abrufbar hat. Es ist von daher ein großartiger Moment, als gefühlt alle im Infield versammelten Metalheads voller Inbrunst mitsingen und mit den Armen im Takt von rechts nach links wedeln und auch nach Beendigung des Stücks gar nicht mehr aufhören wollen. URIAH HEEP ist von dieser Publikumsreaktion deutlich gerührt und bedankt sich überschwänglich für den Support. 'Gypsy' und 'Easy Livin' werden dann quasi als Zugabenblock obendrauf gesetzt und sind für mich ein schöner Einstieg für den kommenden Dreierpack am Wacken-Donnerstag.

Was ein Hammer-Programm auf den Hauptbühnen am Donnerstag! HAMMERFALL, KREATOR und HELLOWEEN hintereinander weg bei einer Nettospielzeit von fast fünf Stunden! So kann man mal ein Heavy-Metal-Rundum-Sorglos-Paket schnüren. Also rein ins Vergnügen und gleich kräftig zu HAMMERFALL die Fäuste im Takt in den Himmel gereckt. Es ist halt so schön eingängig, dass man gar nicht darum herum kommt. Der Einfachheit halber spielen die Schweden das gleiche Set, das sie schon bei der Tour mit HELLOWEEN im Gepäck hatten. Ist auch ganz prima, denn eine gute Songauswahl hört man gerne ein zweites Mal. 'Renagade', 'Hammer Of Dawn', 'Any Means Necessary' und das 'Riders Of The Storm'-Medley kommen bestens an. Und um weiterhin herrlich berechenbar zu bleiben, fragt Joacim Cans selbstredend erneut im Publikum nach erstmaligen HAMMERFALL-Show-Besuchern. Tatsächlich outet sich wieder eine stattliche Anzahl. Als langjähriger Beobachter der HAMMERFALL-Szenerie frage ich mich immer wieder, wie es zu diesem Umstand kommt, zumal HAMMERFALL-Auftritte in unseren Breitengraden in den vergangenen 25 Jahren wahrlich kein knappes Gut waren. Aber sei es drum. Natürlich sind alle neuen HAMMERFALL-Besucher schnell mit der Materie vertraut und wissen, dass nach "Let The Hammer" ein knackiges "Fall" zu folgen hat. Also wäre auch diese Aufgabe mit Bravour gemeistert. Während Oscar Dronjak abwechselnd mit der V-Gitarre und einer hammerartigen Klampfe post was das Zeug hält, biegt die Truppe auch schon auf die Zielgerade ein. Mit dem obligatorischen Rausschmeißer 'Hearts On Fire' wird ein fetter Auftritt beendet und für die KREATOR-Fortsetzung braucht man nur den Kopf nach rechts zu drehen. Sehr praktisch!

Nun ja, so ganz richtig ist es nicht, mit nur einer Kopfbewegung in den KREATOR-Kosmos einzutauchen. Ein bisschen Wattwanderung ist ebenfalls nötig, um sich optimal zwischen den beiden Hauptbühnen zu positionieren, um wahlweise Bühnenschräggucker oder Leinwandgenießer sein zu können. In jedem Fall bekommt  man bühnenmittig das KREATOR-Soundgewitter aus endlos vielen Boxen mit voller Breitseite um die Ohren gehauen. Mich wundert, dass seit einiger Zeit ziemlich konsequent jeder KREATOR-Auftritt mit dem Abspielen von 'Run To The Hills' eingeleitet wird. Diesen Hit kann zwar jeder Metaller dieser Welt im Schlaf mitsingen (Wacken bildet da selbstverständlich keine Ausnahme), gleichwohl ist dieser Appetithappen wohl eher als Irreführung hinsichtlich der nun folgenden musikalischen Darbietung zu bezeichnen. Denn kaum haben Mille und seine Mannen die Bühne geentert, bläst auch schon 'Hate Über Alles' aus den Boxen. Ich schaue sogleich auf die Leinwand, um zu überprüfen, ob Mille auch ein wirkliches Hate-Gesicht aufgesetzt hat. Ja, hat er! Um es vorwegzunehmen: Mille und KREATOR liefern ab und haben meiner Ansicht nach in Sachen Wucht und Attitüde aufgrund des Wacken-Settings und den sofort einsetzenden "Kreator, Kreator"-Schlachtrufen eine noch stärkere Präsenz als bei ihren per se starken Live-Auftritten. Mille gibt ganz bescheiden zu verstehen, dass er zwar solche Publikumsreaktionen erwartet habe, es aber nun auch tatsächlich sehr genieße. Apropos Leinwand: Es tritt die ungeschminkte Wahrheit zu Tage. Ich habe Sami eigentlich die immerwährende finnische Jugendlichkeit zugeschrieben. Nun muss ich bei genauerem Hinsehen feststellen, dass auch an ihm der Zahn der Zeit genagt hat. [Wie tröstlich, dass auch unsere Helden älter werden und nicht nur wir. - Anm. E. Becker] KREATOR arbeitet sich ziemlich eins zu eins durch die schon im Winter auf der Hallentournee dargebotene Setlist. Das heißt, nicht ganz: Irgendwann fragt Mille nach den Fans, die nach dem Jahr 1989 geboren sind, um dann unvermittelt das von mir so geliebte 'Extreme Aggression' von der Leine zu lassen. Manchmal werden heimlich geäußerte Songwünsche doch erhört. Kurz und knackig wird schließlich wie üblich die Zeit zum Hissen einer bestimmten Flagge ausgerufen, um sich anschließend noch vergnüglich umzubringen. Wir stehen aber alle noch auf dem Platz und feiern KREATOR für einen amtlich fetten WOA-Auftritt. [Von mir stellt ihr euch bitte einen amtlichen Remouladen-Rülpser zum Auftritt von Mille und seiner Mannschaft vor; der war super und ich habe währenddessen endlich den Backfisch-Stand gefunden! Der war neben der Harder-Stage versteckt... - Anm. T. Reiser]

[Stefan Karst]

Nach Genuss des herrlichen URIAH HEEP-Sets renne (in Zeitlupe vielleicht...) ich so schnell es geht bis zur Wasteland-Stage, um noch die letzten drei oder vier Lieder der hochenergetischen Youngster von RIOT CITY meinen Nacken massieren zu lassen. Da ich die Band eine Woche vorher in der Göppinger Zille gesehen hatte, weiß ich zumindest auf alle Fälle, dass das letzte Lied nicht das 'See You In Hell'-Cover war, wie in Göppingen, und 'In The Dark' in Wacken auf alle Fälle dabei war. Jedenfalls spielen die Burschen von RIOT CITY wie von der Tarantel gestochen, teils markerschütternd und nicht nur mit-, sondern auch abreißend harten und rasant schnellen Heavy Metal der allerfeinst-priesterlichen Machart. Jordan Jacobs hat auf alle Fälle eine der eindrucksvollsten und heftigsten Stimmen in diesem Genre, mit Sicherheit derzeit weltweit. Mit dem Organ ist es bis zu Kabinettstückchen wie zersplitternden Bierkrügen nicht mehr weit! RIOT CITY rult jedenfalls truemetallisch und bringt die Publikumsschar vor der Wasteland-Bühne, die auch in der letzten Viertelstunde noch minütlich rege anwächst, gehörig in Wallung und Bewegung. Zu Recht wird die Band danach frenetisch abgefeiert, darf jedoch aus den üblichen Zeitgründen leider keine Zugabe mehr geben.

PENNYWISE gehört zu den namhaften Punkbands, die mir bislang nie untergekommen sind. Zugegebenermaßen bin ich in Sachen US-Punkrock eher der BAD RELIGION, THE OFFSPRING und GREEN DAY-Typ. Aber wenn ich schon einmal die Gelegenheit habe, dann sind heute endlich die Mannen um Jim Lindberg dran. Die Band legt äußerst schnell und ruppig los. Auffällig sind die schwarz gehaltenen Bühnenklamotten und die Sonnenbrille bei Jim, die jetzt eigentlich nicht mehr notwendig wäre. Eher punkrock-untypische Outfits, die Mucke fetzt aber jenseitsmäßig, das ist festzuhalten. Leider verliert sich PENNYWISE im Laufe des Gigs immer mehr in von viel Gerede begleiteten Coverversionen von zum Beispiel AC/DC und vielfach sogar nur kurz angespielten Snippets von Coverversionen. Während ich an einem Gitter angelehnt meine geschundenen Knochen und Füße mittlerweile etwas entlaste, muss ich leider zu Protokoll geben, dass ich nach etwa 20 Minuten als Nicht-Stammhörer zunehmend die Lust verliere, meine Aufmerksamkeit einer Band zu schenken, die zwar ne Menge Spaß hat und macht, aber irgendwie eher wenig eigenes Material zum Besten gibt. Dennoch gehen die Leute vor der Bühne ab wie die berühmte Katze der Schmitts. PENNYWISE hat mit 75 Minuten eine für das "Programm" unglaublich lange Spielzeit zugeteilt bekommen. Nach deren 50 Minuten beschließe ich dann, dass ich Mille & Co. doch vorziehe, obwohl ich diese erst im Februar goutieren durfte.

[Timo Reiser]

Die Veröffentlichung der Running Order erforderte von mir am Donnerstag eine schwerwiegende Entscheidung: AMORPHIS oder HELLOWEEN. Bei den Entscheidungsparametern von wahrscheinlicher Setlist, Bühnenörtlichkeiten und ausgewiesener Spielzeit war dann eine knallharte Auslese zu treffen. Da sich im unmittelbaren zeitlichen Vorfeld schon KREATOR auf einer der Hauptbühnen durch das Programm prügeln würde, hatte HELLOWEEN schon einmal die beste Ausgangsposition. Und wenn dann in einem zweistündigen Programm auch höchstwahrscheinlich noch der schon bei der zurückliegenden Hallentournee obligatorische "Walls Of Jericho"-Retro-Auftritt von Kai Hansen fällig wird, zieht es den Altmetaller dann doch wie von einem Magnet gezogen zum Auftritt der Kürbisköpfe. Und tatsächlich: Nach einer guten Dreiviertelstunde kündigt Andi Deris den Godfather of HELLOWEEN und sein 80er Jahre Klassik-Set an. Kai fragt auch gleich brav bei der Meute nach, ob jetzt ein bisschen good old German Powermetal ganz recht wäre. Na klar, mehr als ganz recht! In dem Medley aus 'Metal Invaders', 'Victim Of Fate' und 'Gorgar' wird dann auch der Überhit 'Ride The Sky' angespielt. Beim Refrain "Ride the sky, give me wings to fly" gehen synchron die Fäuste nach oben und ein wohliges Glücksgefühl macht sich breit. 'Heavy Metal Is The Law' - nicht minder kultig – schließt letztlich diesen Part standesgemäß ab. Ansonsten kann ich in Wacken zuvor Versäumtes nachholen. Bei der zurückliegenden Hallentournee erwischte ich eines der Konzerte ohne den gesundheitlich unpässlichen Michael Kiske. Also komme auch ich noch in den Genuss des schier nie enden wollenden Songs 'Keeper Of The Seven Keys Part II'. Ansonsten ist es die gewohnt musikalisch fette Breitwand mit drei Gitarren und einem abwechselnden Kiske-Topgesang und einer  -  nun ja - bemühten Deris-Stimme. Auf den Leinwänden wird eine unterhaltsame, animierte Kürbis-Show geboten, die zum Ende mit einem von Drohnen am Himmel nachgebildeten HELLOWEEN-Schriftzug seinen Aha- und Oho-Effekt findet. Ja, HELLOWEEN hat genau das abgeliefert, was ich im Vorfeld gehofft und erwartet habe.

[Stefan Karst]

Während auf der Hauptbühne HELLOWEEN in Superbesetzung mit Kiske, Deris und Hansen performt, wende ich mich wie zu Beginn des Tages der Louder Stage zu. Sie ist in tiefes blau-lilafarbenes Licht getaucht. Die finnische Metal-Formation AMORPHIS wird erwartet. Diesmal platziere ich mich etwas links der Mitte vor der Bühne und habe einen zwar wiederum weit entfernten Platz erwischt, von dem aus ich aber nunmehr gut sehen kann, was dort vorne geschieht. Die Atmosphäre ist ganz anders als am Nachmittag bei DARK TRANQUILLITY. Ein kühler Nachtwind umstreicht mein Gesicht, ich fröstle etwas und bin erfüllt von Spannung und Vorfreude. Dann beginnen die flirrenden Keyboard-Klänge von AMORPHIS durch die Lüfte zu schweben. Sänger Tomi Joutsen bewegt sich wie immer lässig über die Bühne. Seine Ansagen sind kurz und prägnant. Das Lichtspiel der Bühnenbeleuchtung vermischt sich stimmungsvoll mit dem schwebenden Keyboard-Sound und den betörenden Gitarren. Gleich zu Beginn der Show wird 'Northwards' vom aktuellen Album "Halo" präsentiert. Im weiteren Verlauf kommen auch ältere Stücke zum Zuge. So hören wir hintereinander 'Into Hiding' und 'Black Winter Day' vom "Tales From The Thousand Lakes"-Album. Aber auch Stücke vom "Skyforger"-Album sowie vom 2018er-Werk "Queen Of Time" werden zu Gehör gebracht. Wie schwarze Schatten wirken die Musiker im Licht der Bühne. Nur der Sänger tritt hervor, der dem Publikum über die Leinwände sehr nahe kommt. 90 Minuten lang entführt das Sextett die Fans in seine Klangwelten der Mondnacht von Wacken. Diese Musik berührt mich sehr. Die sphärischen Melodien von AMORPHIS in der Atmosphäre dieser Nacht sind für mich ein perfektes Konzerterlebnis.

[Erika Becker]

Liebe Erika, mit deinem Bericht triffst du genau den Ton, den auch ich bei einem Text über diesen phänomenalen Gig gesucht hätte. "Berührend", "betörend" und "perfekt" sind unbedingt Adjektive, die einem im Zusammenhang mit diesem geheimen Headliner-Auftritt von AMORPHIS fast automatisch einfallen. Die geniale, völlig vereinnahmende, durch die großartigen Sound- und Rifflandschaften, sowie die atemberaubende Lightshow geschaffene Atmosphäre hat das Publikum vor der Louder-Stage für 90 Minuten in die ganz eigene, großartige musikalische Parallelwelt entführt, in der sich AMORPHIS inzwischen bewegt.

[Timo Reiser]

 

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Redakteur:
Timo Reiser

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