WITHERFALL und MYSTERY BLUE - Bochum

19.11.2024 | 09:34

08.11.2024, Die Trompete

Die derzeit beste Band zwischen Power und Prog erobert deutschen Boden.

Bochum Freitagabend. Das Bermudadreieck füllt sich, die halbe Stadt ist unterwegs. In einer gerechten Welt wären die alle auf dem Weg zur Trompete, wo heute die amerikanischen Prog-Power-Helden WITHERFALL aufspielen. Doch die Welt ist nicht gerecht, so dass sich bei Beginn der Vorband gefühlt weniger als 50 Nasen in Thekennähe tummeln.

Direkt vor der Bühne bleibt es luftig, als die Franzosen von MYSTERY BLUE die Bühne entern. Doch eine Sache ist gleich von Beginn an klar: Die Truppe um Sängerin Nathalie Geyer interagiert mit dem Publikum, als wären hier 500 Leute. Dem traditionellen Stahl hilft das enorm, denn rein musikalisch lädt der grundsolide Sound zum Wohlfühl-Kopfnicken, nicht aber zum Eskalieren ein.

'Shades Of Death' vom 2006er Output "Claws Of Steel" ist ein beispielhafter Opener, der viele Trademarks der Franzosen präsentiert. Irgendwo zwischen PRIEST, CHASTAIN und griffigem Heavy Metal aus unterschiedlichen Phasen der deutschen Galionsfiguren reihen sich auch die kommenden Nummern meist passend ein. Vor allem Gitarrist und Gründungsmitglied Francis Philippon legt all seine Leidenschaft in den Gig: Vor einigen Wochen hatte er eine OP zu überstehen, und wer vor der Show dachte, der humpelnde Alt-Rocker wäre nur zur Zierde hier, der hat sich mächtig getäuscht. Auch ihm scheinen die schnellen Passagen am meisten Spaß zu machen, wie mein Highlight des Auftritts und die letzte Nummer, 'Slave To Blood' zeigt. Ganz viel Respekt dafür, nach beinahe einem halben Jahrhundert in der Szene den wohlverdienten Urlaub mit Clubshows in dieser Dimension zu verbringen.

Setliste MYSTERY BLUE: Shades Of Death; Evil Spell; Killing Innocence; Claws Of Steel; Metal Attack; Towers Of Hell; Skulls From Hell; Slave To Blood

Bei aller Sympathie für die alten Recken aus Frankreich, man merkt in der kurzen Umbaupause sehr schnell, wofür das Publikum heute angereist ist. Obwohl dieses Jahr bereits das vierte WITHERFALL-Album für grinsende Gesichter unter den geschmackssicheren Metallern gesorgt hat, waren Live-Aktivitäten in Europa unter anderem aufgrund der Pandemie bisher eher Einzelfälle. Sei es drum, nach wenigen Handgriffen ist WITHERFALL bereit und schon vor dem ersten Ton ist es eine freudige Überraschung, dass sich die Band um Gitarrist Jake Dreyer und Sänger Joseph Michael live mit Gerry Hirshfeld verstärkt hat, um die teils vertrackten Arrangements auch möglichst vollständig darbieten zu können. Der Gute spielt entweder Gitarre, Keyboard oder singt in den zweistimmigen Passagen. Mit 'Tempest' wählt die Band einen durchaus anspruchsvollen Opener, der aber auch zeigt, wie professionell, mitreißend und nahezu perfekt die Männer hier live agieren. Wie schnell kann man Herzen erobern? Heute Abend kann ich guten Gewissens sagen: In ungefähr achteinhalb Minuten. Auch 'Moment Of Silence' und 'Ode To Despair' vom 2018er-Werk "A Prelude To Sorrow" werden in makelloser Schönheit präsentiert, ehe uns mit 'Insidious' endlich der erste Song des aktuellen Albums "Sounds Of The Forgotten" erreicht. Hier merkt man der Band an, dass sie sich kompositorisch immer weiter entwickelt, die eigenen Nuancen klarer herausarbeitet und mutiger klingt. Apropos mutig, erinnert ihr euch an den eröffnenden Schrei des neuen Albums? Ja, Joseph Michael bringt das live bei 'They Will Let You Down' einfach mal genau so wie aus der Konserve. Was hat der bitte für eine Stimme? Bei dieser Nummer ist das Publikum auch auf Betriebstemperatur und zu gereckten Fäusten, geschüttelten Mähnen und Luftgitarre spielenden Händen kommt jetzt auch endlich lautstarker Gesang im Refrain dieses Übersongs dazu. Gänsehaut? Auf jeden Fall.

Zeit, das zu verarbeiten, gibt es aber erst einmal keine. Der Opener des Debüts, 'Portrait' fordert die Nackenmuskeln in krummen Takten und mir gelingt es allmählich, auch Bassist Anthony Crawford mehr auf die Finger zu schauen. Auch wenn ich bei Bands wie WITHERFALL unmöglich einen einzelnen Musiker hervorheben kann, als Bassist geht mir aber so sehr das Herz auf, wenn ich sehe, mit welchem Gefühl, technischer Finesse und Songdienlichkeit ein Bass im Metal gespielt werden kann. Fingerstyle, Slappen, Tappen, das technische Repertoire bereichert jeden WITHERFALL-Song, mal prominent am Bühnenrand und immer souverän als kreativ-stabiles Fundament. In der ersten Reihe des Publikums weiß ich gar nicht, auf wen ich mich mehr konzentrieren soll. 'Where Do I Begin?' erleichtert mir die Entscheidung, denn hier ist mitsingen, fühlen, genießen angesagt. Ein epischer Song, auf den die ultraschnelle Abrissbirne 'Shadows' folgt. Mag hier jemand frühe ICED EARTH? Ich schreie auch laut "ja" und beobachte Jake beim wieselflinken Riffen. Hier wird so schnell niemand wegpennen, dachten sich die Jungs und zocken noch eine Nummer vom Debüt "Nocturnes And Requiems" ('Nobody Sleeps Here'), ehe die Mammut-Nummer 'Vintage' das eigentliche Ende des Abends einleitet. Als die letzten Takte verklingen, ist uns natürlich noch nicht nach dem Ende zumute. Netterweise wird auch die Club-Musik nach kurzem Handzeichen der Band gleich wieder abgestellt und wir bekommen 'Cere Of Fire' auf die Ohren, einen fantastischen Track, der das Spiel zwischen Epik und Eleganz makellos beherrscht.

Das ist des dann aber nun wirklich und ich bin froh, dass mir Joseph noch die Setliste durchgibt, denn obwohl ich jeden Song kenne, war der Rausch der Gefühle heute Abend einfach zu viel für ständiges Mitschreiben und Kopfarbeit. Ich bleibe dabei: Diese Band gehört auf viel, viel, viel größere Bühnen! Ins Vorprogramm von DREAM THEATER oder SYMPHONY X! Nichts gegen den wirklich charmanten kleinen Club hier in Bochum, aber es geht einfach nicht mit rechten Dingen zu, wenn Musik wie die von WITHERFALL nur 50 zahlende Nasen anzieht und an so manchem Wochenende zehntausend Pommesgabel-Paare die Rudolf-Weber-Arena für Kommerz-Mucke mit E-Gitarre besuchen.

Setliste WITHERFALL: Tempest; Moment Of Silence; Ode To Despair; Insidious; They Will Let You Down; Portrait; Where Do I Begin?; Shadows; Nobody Sleeps Here; Vintage; Ceremony Of Fire

 

Text & Fotos: Nils Macher (POWERMETAL.de)

Redakteur:
Nils Macher

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