AUGUST BURNS RED - Found In Far Away Places
Mehr über August Burns Red
- Genre:
- Metalcore
- ∅-Note:
- 9.50
- Label:
- Fearless Records
- Release:
- 26.06.2015
- The Wake
- Martyr
- Identity
- Separating The Seas
- Ghosts
- Majoring In The Minors
- Everlasting Ending
- Broken Promises
- Blackwood
- Twenty-One Grams
- Vanguard
Himmelfahrt - oder: Das Ende der Fahnenstange
Die Flut an ewiggleichen Veröffentlichungen mit den immerfort wiederholten, vorhersehbaren Wechseln aus Schrei- und Klargesang, immer noch tieferen Riffs und noch fetteren Downbeats, hat dem Metalcore in kreativer Hinsicht mittlerweile den Garaus gemacht. Während sich Myriaden von Bands gegenseitig im unfreiwilligen Abgesang auf ihr Genre zu Tode immitieren, sticht eine immer noch jugendlich wirkende, mit über zehn Jahren aber schon reichlich erfahrene Truppe aus Lancaster, Pennsylvania, wie ein Leuchtturm aus der grauen Ödnis heraus: Die Rede ist selbstverständlich von AUGUST BURNS RED. Mag auch die Qualität der Veröffentlichungen aus dem Hause ABR hier und da Schwankungen unterliegen, hängen die fünf Jungspunde die Konkurrenz in Sachen Kreativität und Unkonventionalität doch jedesmal meileinweit ab. Und auch auf dem 2015er Output "Found In Far Away Places" wird alles, was die Mannen um Flitzefinger JB Brubaker aus den klassischen Metalcore-Trademarks herausholen bzw. davon übrig lassen, auf unbeschreiblich fantasievolle Weise mit ungewöhnlichen Stilmitteln ergänzt und die Band dadurch abermals in eine ganz eigene Liga der modernen Rockmusik katapultiert. Nur zwei Schwachpunkte verhindern letzten Endes, dass "Found In Far Away Places" vollständig mit dem 2009er Überalbum "Constellations" gleichzieht.
Bisher hatte jedes AUGUST BURNS RED-Album eine eigene, charakteristische Ausrichtung, da stellt auch "Found In Far Away Places" keine Ausnahme dar. Schon nach dem allerersten Hördurchgang war klar, dass diesmal das Stichwort "Atmosphäre" im Vordergrund stehen sollte. Die elf Kompositionen transportieren bei aller Aggressivität und Verspieltheit vor allem eine schwer in Worte zu fassende, entrückte, zugleich enorm lebensfrohe Stimmung. Nein, die Musik ist nicht abgehoben oder säuselig-verträumt, aber würde sich irgendwer zum Auftrag machen, die Himmelfahrt mit einem schwermetallischen Soundtrack zu hinterlegen, müsste er eindeutig zu "Found In Far Away Places" greifen. Und das, obwohl 'The Wake', der Auftakt des sechsten ABR-Langspielers, so heavy ausfällt wie bislang nur die ungestümen "Thrill Seeker"-Verrücktheiten aus den Anfangszeiten der Band. Überhaupt ist bereits 'The Wake' ein Geniestreich sondergleichen: Eine bitterböse Abrechnung mit der verantwortungslosen Menschheit, mit einer faszinierenden, weil gänzlich eigenwilligen Harmonik und den mächtigsten Breakdowns seit langem – Breakdowns, die von AUGUST BURNS RED wie gewohnt gänzlich songdienlich verwendet (ja, das geht tatsächlich!) und nie zwecks Effekthascherei eingesetzt werden.
Bereits an zweiter Stelle folgt mit 'Martyr' dann eines von zahlreichen, fantastisch atmosphärischen Leuchtfeuern: Wie gehabt gilt es erst einmal einzutauchen in die unkonventionellen Songstrukturen der Amis – als Hilfsmittel gibt es auch bei diesem zunächst in schwerem, stampfendem Tempo beginnenden, alsbald in vertrackte Raserei ausartenden Knaller einen ruhigen Zwischenpart zum Luftholen, ehe im Schlussteil die für AUGUST BURNS RED typische, überirdische Melodieführung dem Hörer eine Gänsehaut verpasst, die sich gewaschen hat. Es gilt, einmal mehr den Hut zu ziehen vor JB Brubaker, Leadgitarrist und Songschreiber der Band. Noch auf fast jedem Album seiner Kombo hat der hochbegabte Schlaks Melodien hervorgezaubert, die klingen als fiele ein akustischer Abglanz des Himmels auf unsere leidgeplagte Erde! Auf "Found In Far Away Places" hat JB zudem seine Freude am Solieren entdeckt – das heißt, für alle Traditionalisten, die über ihren Schatten springen und einem absoluten Kreativposten der modernen Musikgeschichte endlich eine Chance geben, dass es auf dieser wunderbaren Scheibe tatsächlich mehr "Metal" zu hören gibt als zuvor.
AUGUST BURNS RED gelingt auf "Found In Far Away" der ultimative Beweis, dass Härte und bezaubernde Melodik, Aggressivität und Einfühlsamkeit in keinster Weise in Widerspruch zueinander stehen müssen, vielmehr eine geradezu natürliche Symbiose eingehen können. Nehmt die Single 'Identity': Allein das eingängige Riffing, gepaart mit wunderbaren Klangfolgen und dem unnachahmlichem Drumming von Matt Greiner, ergibt einen kraftstrotzenden Mutmach-Song par excellence – dem setzt der wieder uneingeschränkt souverän schreiende Jake Luhrs letztlich nur noch die Krone auf. Faszinierend und ein echter Fortschritt ist auch die stark verbesserte Synchronisierung der geschrienen Vocals mit der Rhythmik der Band: Ein oft geäußerter Kritikpunkt an Metalcore ist die scheinbar willkürliche Platzierung vieler Texte über einem in sich geschlossenen Instrumental-Korsett. Auf dem aktuellen Album der Platzhirsche aus Pennylvania besteht eine harmonische, deutlich rundere Verbindung aus Rhythmusabteilung und Gesang – 1A-Beispiele hierfür das bereits erwähnte 'Martyr', das phänomenale Riffgewitter 'Blackwood' oder das hochgradig nachdenkliche 'Twenty-One Grams'. Die exotischen Elemente, sei es nun die Klezmer-Einlage in 'Separating The Seas' oder das Western-Interlude in 'Majoring The Minors', überraschen hingegen nicht mehr. So geschmeidig sich diese stilfremden Elemente auch in den AUGUST BURNS RED-Sound einfügen, stellen sie letztlich weniger einen Mehrwert als schlicht fröhliche Spielereien der fünf Musiker dar. Dagegen ist 'Ghosts' mit dem Gastbeitrag von Jeremy McKinnon (A DAY TO REMEMBER – der erste Gastmusiker seit Tommy Rogers von BETWEEN THE BURIED AND ME bei 'Indonesia') eine erfrischende Abwechslung. AUGUST BURNS RED kommt glücklicherweise immer noch ohne ausufernde Klargesangseinlagen aus, doch als Kontrapunkt funktioniert die Kooperation der befreundeten Musiker bei dieser tief berührenden Nummer hervorragend.
Und so haut einen "Found In Far Away Places" fast durchgängig aus den Latschen. Ich habe nach wahrscheinlich mehr als zwei Dutzend Durchläufen mit 'Broken Promises' nur einen schwächeren Song ausgemacht – trotz eines messerscharfen, beinahe power-metallischen Riffs reißt die Nummer einfach nicht so recht mit, auch der entwaffnend ehrliche Text über schmerzhafte familiäre Enttäuschungen passt nicht zu den später arglos solierenden Gitarren, und zu lang ist das Lied letztlich auch noch geraten. Geschenkt - der Rest ist eine melodisch-metallische Offenbarung, ebenso verklärt wie lebensbejahend, der ich im Moment auch eine effektivere Langzeitwirkung zuspreche als dem musikalisch ebenfalls einwandfreien Vorgänger "Rescue & Restore".
Doch ein wenig Schatten fällt auch in das gleißende Licht der neuen alten Genrereferenz. Auf der einen Seite hat JB Brubaker seine Truppe trotz des gleichbleibend progressiven Ansatzes mit dem wiederkehrenden Einbau von ruhigen Interludes in die Mitte seiner Lieder allmählich in eine Sackgasse manövriert. Mittlerweile wird fast jeder ABR-Song von einem zurückgenommenen Zwischenspiel unterbrochen, und in all dem abgedrehten Geriffe und Gebolze fallen genau diese Interludes mittlerweile unangenehm berechenbar aus. Natürlich ist der Band zuzutrauen, dieser Falle in Zukunft wieder zu entgehen, aber die Notwendigkeit, aus dieser starren Ausrichtung auszubrechen wird für das nächste Album numehr unumgänglich sein. Zweitens fallen – und das ist nun eine echte Überraschung – gerade die Texte auf "Found In Far Away Places" deutlich schwächer aus als von dem Quintett bisher gewohnt. Abgesehen von den aus der Sicht eines Obdachlosen geschriebenen Lyrics von 'Ghosts' und dem grandios bösartigen 'The Wake' fehlt diesem Album die Bissigkeit der Texte von 'Treatment', 'Truth Of A Liar' oder 'White Washed', wo Heuchlern, Egoisten und Ignoranten aufs Schärfste die Leviten gelesen wurden, oder die ebenso schöne wie zuweilen harsche allegorische Sprache von 'Existence', 'Paradox' oder 'Provision'. Klar, viele werden die Texte nicht interessieren – wer jedoch vollständig in ein Kunstwerk eintauchen will, wie es ein AUGUST BURNS RED-Album nun einmal darstellt, wird sich an diesem Detail womöglich ebenso stören wie der Verfasser dieser Zeilen.
Dennoch: "Found In Far Away Places" ist auf Minimalabstand an den seit Jahren ungeschlagenen Genrespitzenreiter "Constellations" herangerückt und stellt für 2015 mit Sicherheit das Maß aller Dinge im Metalcore, vielleicht sogar im Bereich des modernen Metals allgemein dar. Pflichtkauf - für jedermann und -frau!
Anspieltipps: The Wake, Martyr, Blackwood
- Note:
- 9.50
- Redakteur:
- Timon Krause