GRIND - Grace And Misery
Mehr über Grind
- Genre:
- Death Metal / Grindcore / Postrock
- ∅-Note:
- 9.00
- Label:
- 7 Degrees Records / Hecatombe Records
- Release:
- 12.04.2024
- Funktion und Begriff
- Gaia
- Leviathan
- My Eyes Closed
- Drown
- Manifold
- Hysteria
- Freedom Of People
- I Am Demon
- New Approach
- Infinite Nothing
- Sinn und Bedeutung
- Bones Of Utopia
Schon jetzt eines der Jahreshighlights in den Bereichen, wo Härte auf Seele und Atmosphäre trifft.
Knapp fünf Jahre nach dem Debütalbum "Songs Of Blood And Liberation" geht das Schaffen der Flensburger Truppe in die zweite Langrillenrunde, und auch dieses Mal klingt der Titel gleichermaßen poetisch wie philosophisch und in sich antagonistisch: "Grace And Misery" - und genau das finden wir auch auf dem Album. Befand sich das Debütalbum noch sauber im Zentrum eines Dreiecks zwischen den Eckpunkten Death Metal, Thrash Metal und Grindcore, so finden sich diese Grundbestandteile zwar auch im Sound des neuen Albums wieder, doch ist das Quintett ganz offensichtlich darauf aus, die althergebrachten Krusten der betreffenden Genres aufzubrechen. So verschwimmen nicht nur die Grenzen zwischen diesen Spielarten, sondern es schleichen sich auch hin und wieder scheinbar stilfremde Elemente in den Bandsound ein. Doch gerade diese Elemente sorgen dafür, dass das Ergebnis eben nicht konturlos oder beliebig wird, sondern eine ganz eigene Charakteristik verliehen bekommt, die das Profil der Band ungemein schärft, denn niemand klingt wie GRIND. Jedenfalls niemand, den ich gehört hätte.
So fällt als erstes der wirklich mächtige Sound auf: atmosphärisch, dicht, voluminös, wenn es die Stimmung erfordert, aber trotzdem transparent, flächig und dynamisch. So wirken die wuchtigen Momente umso wuchtiger, die fragilen, atmsophärischen Momente umso fragiler. Warum tun das nicht mehr Bands? Hier wurde der Zweck der Laut-Leise-Dynamik nicht nur verstanden, sondern voll verinnerlicht. Vielleicht ahnt ihr es schon anhand der Beschreibung: Eine gewisse Beeinflussung durch Post-Rock-Klangästhetik kann "Grace And Misery" keineswegs verhehlen, und das ist auch nicht die Absicht der Band. Sie bekennt sich ganz offen dazu, sich auf dem Zweitwerk mehr denn je eben dem Post Rock, aber auch dem Black Metal ('Manifold') und dem Noise ('Freedom Of People') geöffnet zu haben. So fühlen wir uns in walzenden, getragenen Passagen mit finsteren, aber sauber artikulierten Growls ('Leviathan') durchaus mal dezent an UNLEASHED erinnert, was dann aber im nächsten Moment hysterisches Kreischen und wilde Blastorgien wieder konterkarieren können, die auch bei HEAVEN SHALL BURN oder CARCASS gut aufgehoben wären. So etwa am Anfang zu 'Drown', das sich jedoch später deutlich rockiger entwickelt. An anderer Stelle wird der Sounddruck des Schlagzeugs ganz weit reduziert und die Band lässt großflächige, breitwandige Gitarrenakkorde klingen, und erzeugt auf diese Weise - gerade bei den beiden Instrumentalen mit den deutschen Titeln - wunderbar postrockige Klanglandschaften, wie wir sie etwa von späteren SÓLSTAFIR-Werken kennen.
Dass mich dazwischen aber doch immer wieder die klassisch-metallische Leadgitarre im besten Sunlight-Style-Tuning an DISMEMBER oder GRAVE ('My Eyes Closed'), oder auch ein fettes, fetziges Death'n'Roll-Riff und das dazu passende Shouting an ENTOMBED und den leider viel zu früh verstorbenen L-G Petrov erinnern, wertet das Ganze nochmals auf. Nicht nur, weil ich mein bekanntes Schweden-Ostküste-Faible nicht unter Kontrolle bekomme, sondern weil der Stilmix und das Gesamtarrangement auf dem Album absolut stimmig sind. Mag euch die Beschreibung anhand der vielen genannten Referenzen vielleicht ein wenig wild erscheinen, so seid versichert, dass sich die Jungs eben nicht verzetteln, nicht zwischen die Stühle setzen und auch nicht den Faden verlieren. Die Breaks sitzen an den richtigen Stellen, die Übergänge der Stimmungen fließen völlig natürlich aus den Boxen, auch wenn in den verhältnismäßig kurzen Stücken jeweils sehr viel passiert. Der ausgewogene Sound hält das alles wunderbar zusammen, und das mag einen kaum Wunder nehmen, denn Yannic Zwinscher hat die Produktion zu verantworten, während die Band für das Mastering keinen Geringeren als Patrick W. Engel gewinnen konnte, der inzwischen weit über die Genregrenzen hinweg einen ausgezeichneten Ruf genießt.
Entgegen meiner Gewohnheiten, mache ich mit euch an dieser Stelle keinen ausführlichen Track-By-Track-Exkurs, und das nicht aus Faulheit, sondern weil "Grace And Misery" für mich eher ein Werk ist, das auf Albumdistanz seine volle Wirkung als klangliche und atmosphärische Einheit entfalten kann. Doch wenn wir uns, weil es sich einfach anbietet, einfach mal den abschließenden Achtminüter 'Bones Of Utopia' vornehmen, dann beginnt dieser mit einem schleppenden, walzenden Riff, bevor uns wilde Perkussionselemente ein Stück weit aus dem Panzerkettengroove herausreißen, der jedoch mit Einsetzen des Gesangs in bester BOLT THROWER-Manier wieder zurückkehrt, nur um im Mittelpart den Raum einer schwebenden Post-Rock-Atmosphäre à la AGALLOCH zu überlassen. Diese besteht aus erst schweren, doomigen Riffs, später abgelöst von sehnsuchtsvollen, melancholischen Zupfmustern auf der cleanen E-Gitarre, die mich wiederum stark an die "Wildhoney"-Phase von TIAMAT und phasenweise gar ein bisschen an TOOL gemahnen. Zum letzten Drittel hin gibt es dazu auch noch eine kurze Spoken-Word-Passage und dann einen flirrenden Solo-Overkill vom Feinsten.
Ihr seht, es passiert unheimlich viel in den Kompositionen auf diesem Album, weshalb man GRIND und "Grace And Misery" mit schöden Genrebegriffen einfach nicht so recht gerecht werden kann. Weder der Gesang, noch die instrumentalen Arrangements oder die Stimmung der Songs lassen sich in Schubladen packen, und doch hat das Album einen wunderbaren Puls, eine tief emotionale Geschmeidigkeit, und - so paradox es klingen mag, eine flüssige Homogenität in all seiner Vielseitigkeit, dass man hiervor ganz tief den Hut ziehen darf. Schon jetzt eines der Jahreshighlights in den Bereichen, wo Härte auf Seele und Atmosphäre trifft.
- Note:
- 9.00
- Redakteur:
- Rüdiger Stehle